vonHelmut Höge 26.01.2010

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1. Das Netzwerk „Lokomotive Karlshof“

von Gabriele Goettle

„Warum Rosen besingen, Aristokrat! Besing die demokratische Kartoffel, die das Volk nährt!“ (Heinrich Heine)

Peter Just, landwirtschaftlich engagierter Bibliothekswissenschaftler, wurde 1975 in einem Dorf bei Göttingen als Lehrerssohn geboren. Nach dem Abitur studierte er am Osteuropa-Institut der FU Berlin Politikwissenschaften, nach vier Semestern Wechsel zu den Bibliothekswissenschaften an die Humboldt-Universität (Schwerpunkt Elektronische Medien). Nach dem Magister Arbeit in einem Kreuzberger Verlag. 2006 Einstieg ins NKL-Projekt „Lokomotive Karlshof“ (NKL steht für „nichtkommerzielle Landwirtschaft“). Zeitgleich Gründung des Internetbuchladens reiseliteratur-online.de (Belletristik und Sachbuch zum jeweiligen Reiseland) und des neuen Ablegers links-lesen.de (dessen Erträge dann wiederum in die NKL fließen, in ein linkes Hausprojekt in Potsdam und einen antisexistischen Frauen-Info-Laden in Neuköln).

Ein beliebter Che-Guevara-Spruch in der linken Szene war: Seid realistisch, fordert das Unmögliche!“ Auf dem Karlshof wird das Unmögliche nicht nur gefordert, es wird von den Utopisten einer „nichtkommerziellen Landwirtschaft“ (NKL), in die Praxis umgesetzt. Sie bauen Kartoffeln an und verschenken sie. Sie lehnen jede Bezahlung ab, ebenso Gutschriften und sogar den Tausch. Sie haben kein karitatives Motiv. Sie wollen mehr! Sie möchten durch den Aufbau einer kleinen, nichtkapitalistischen Nahrungsversorgung eine soziale Kettenreaktion auslösen, Leute anstiften, an einem nichtkommerziellen Netzwerk auf Gegenseitigkeit teilzunehmen. Die Mitglieder des Karlshofs sind keine Eigentümer. Er wurde ihnen zur Verfügung gestellt, von der Projektwerkstatt auf Gegenseitigkeit (PAG), einem Netzwerk von Gemeinschaftsprojekten und einzelnen Leuten in Berlin und Brandenburg, das, in Kooperation und mithilfe einer Stiftung, Liegenschaften kauft und leihweise an geeignete Projekte vergibt. Der Karlshof ist eines dieser Projekte.

Den Sinn dieser außergewöhnlichen Versuchsanordnung hat ein Mitglied der Gruppe „Lokomotive Karlshof“ treffend so formuliert: „Die Perspektive kann nicht sein, individuell die Schafe ins Trockene zu bringen, sondern auf kollektive Autonomie ausgerichtete Strukturen zu entwerfen, um sich gegenseitig zu unterstützen.“ In Zeiten sich verschärfender gesellschaftlicher Verhältnisse erregt das Experiment die Fantasie.

Der Karlshof liegt 90 Kilometer nördlich von Berlin, dreieinhalb Kilometer von der Stadt Templin entfernt. Es gibt eine einsame Bushaltestelle an der ehemaligen LPG. Weite Ebenen, abgeerntete steinige Felder, an den Rändern in der Ferne Wald und Buschwerk. Es sieht sehr nach Tristesse aus. Ein langer Sandweg, gesäumt von Peitschenlampen, führt an desolaten, grauen Stallungen und Wirtschaftsgebäuden vorbei zum Hof. Vor einem schmucklosen zweistöckigen Wohngebäude mit Satteldach, das unverkennbar aus LPG-Zeiten stammt, endet der Weg in einer ausgefahrenen Schleife.

Peter Just, einer der Aktivisten, erwartet Elisabeth und mich bereits und lädt zu einem Rundgang ein. Der 50-ha-Hof umfasst Äcker, Weideland, etwas Wald, Obst- und Gemüsegärten sowie die Wohn- und Wirtschaftsgebäude. Auf den weiträumigen Feldern werden Kartoffeln und diverse Getreidesorten biologisch angebaut. Wir besichtigen ein abgeerntetes Feld, auf dem noch einige kleine Kartoffeln liegen, und ein benachbartes, schütteres Sonnenblumenfeld, das demnächst abgeerntet werden soll zur Ölgewinnung.

Der Karlshof bekam eine Ölmühle vom Biohof Ulenkrug zur Verwertung der Sonnenblumen. Peter erklärt: „Man muss sie nach dem ersten Frost ernten. Gefroren hat es aber erst am 10. Oktober, dann war Regen. Jetzt sind sie zu feucht zum Ernten, dann war was mit der Hydraulik …Also an mir lag es nicht, dass sie immer noch … so! Deswegen hat es mich auch geärgert, dass ich hier ein bisschen ausgelacht wurde … Irgendwann mal haben wir Öl!“

Elisabeth fragt: „Warum eigentlich ,Lokomotive Karlshof‘, hieß die LPG mal so?“ Peter verneint: “ ,Lokomotive‘, da gibt’s einfach viele Assoziationen, zum Beispiel zur Arbeitersportbewegung, was in Verbindung mit der Landwirtschaft ja eine ironische Brechung ergibt, oder zu einer Politband aus dem Kreuzberg der 70er-Jahre und eben zur dynamischen Maschine, von der wir fasziniert sind, die ein Sinnbild für Produktivität war, für Güterverteilung und Kraft.“

Während wir, begleitet von zwei sehr jungen und zutraulichen getigerten Kätzchen, über schweren, feuchten Ackerboden stapfen, erzählt Peter, dass sich momentan zwölf Erwachsene unterschiedlichen Alters – teils aus den neuen, teils aus den alten Bundesländern stammend – mit fünf Kindern auf dem Hof befinden. Zwei sind studierte Agrarwissenschaftler, die anderen kommen aus verschiedensten Richtungen, bis hin zur Ethnologie, für die meisten waren die Arbeiten gewöhnungsbedürftig. „Gut“, sagt Peter, „wir können uns natürlich nicht komplett selber versorgen hier, es gibt finanzielle Nebenabhängigkeiten, logischerweise, und das macht manchmal Stress.“ Aber man hat den Versuch gewagt. Die Beteiligten üben das Kunststück, mit einem Bein im Geldkreislauf festgebunden zu sein und mit dem anderen im Freien Fuß zu fassen.

Nicht alle leben hier ständig, nicht alle sind Mitglieder des Netzwerks. Aber alle kommen aus linken Zusammenhängen und beteiligen sich auf unterschiedliche Art und Weise. Männer und Frauen teilen sich die Hausarbeiten. Jeder muss im Turnus putzen, kochen, Wäsche waschen. Die Reparaturen, Garten- und Feldarbeiten werden je nach Schweregrad, Neigung oder Sachkenntnis übernommen. Mit dem Nachbarbauern hat man ein sehr gutes Verhältnis, man hilft sich gegenseitig, er leiht fehlende Gerätschaften aus. Eine Schar von Leuten leistet ab und an solidarische Hilfe bei diversen Arbeiten. Besonders zur Kartoffelernte im Herbst kommen für 14 Tage zahlreiche Netzwerkhelfer und Freunde angereist. Sogar die Kinder des benachbarten Waldkindergartens helfen, und auch Kinder aus der Freien Schule Templin, die auch Kartoffeln erhält. Man ist mit verschiedenen landwirtschaftlichen Kooperativen in gegenseitiger Hilfe und, wie es Peter formuliert, „bedürfnisorientiertem Austausch“ verbunden. „Einsam und verlassen sind wir hier nicht“, sagt Peter und lacht.

Die Gebäude der ursprünglichen bäuerlichen Hofstelle bilden ein Ensemble, sind aus rotem Backstein und stehen ein wenig abseits vom Wohnhaus. Im lang gestreckten ehemaligen Stall mit durchgehendem Dachboden sind unten verschiedene Werkstätten eingerichtet. Oben unter dem alten Gebälk wurden zahlreiche Möglichkeiten zur Unterbringung der Helfer und Gäste geschaffen, zum Schlafen, Feiern und Spielen. „Im Sommer und Herbst waren eine Menge Leute da“, erklärt Peter, „die müssen natürlich ordentlich versorgt werden.“ Er zeigt uns die Sommerküche mit Terrasse nebst Backofen. Auch ein ästhetisch sehr gelungenes solarbetriebenes Badehaus aus Ziegeln und Holz sowie zwei Komposttoiletten mit Rädern stehen zur Verfügung.

Das ehemalige Bauernhaus – in seinen Kellerräumen lagern die Kartoffelvorräte des Karlshofs bei idealen acht Grad und guter Lüftung – wird seit Längerem saniert. Es soll als Gemeinschafts-und Seminarhaus dienen. Momentan wird eine Heizung eingebaut. Zwei sichtbar gut gelaunte Leute, ein Schlosser und eine Schlosserin – beide haben Umwelttechnik studiert -, schneiden vor dem Haus die Rohre und Gewinde zurecht. Sie sind zur solidarischen Hilfe auf den Hof gekommen und stellen dem Netzwerk ihre handwerkliche Leistung gratis zur Verfügung. Wie auch die anderen reisenden Handwerkerinnen und Handwerker, die hier im Sommer umfangreiche Steinmetz-, Maurer- und Zimmermannsarbeiten gemacht haben, das originelle Badehaus errichteten und einen künstlerisch gestalteten steinernen Brunnen. Eine Schmiedin war da und hat Maueranker geschmiedet und eingezogen. Der Karlshof muss für all das nur die verbauten Materialien bezahlen.

Auch die Tiere scheinen sich wohlzufühlen. Es gibt ein paar Schafe, eine Schar Gänse, die aufrecht und aufgeregt dahinstrebt, und bedachtsam scharrende und pickende Hühner in Braun und Weiß, nebst Hahn. Zwei schmale Schweine mit dunklen Tupfen, Charles und Camilla, durchfurchen ihr Gehege und heben freundlich die Köpfe, als wir näher treten. „Sie bekommen gedämpfte Kartoffeln mit Gerste und Erbsen. Der Dämpfer war ein Geschenk aus dem Netzwerk“, erklärt Peter.

Im großen Garten werden Salat und Gemüse gehegt und geerntet, es wächst reichlich für alle Bewohner und auch für die Gäste. Und für den Winter werden Marmeladen, Sirupe, Gelees, Chutneys hergestellt und natürlich Sauerkraut. Unter dem übervollen Birnbaum liegen verschwenderisch hingebreitet große, gelbe Birnen im Gras. Es wirkt wie Hohn und Spott. Ohne diese Eigenschaft und Gunst der Natur, die ja erst die Möglichkeit des Mehrwerts bietet, wären nie die weltbeherrschenden Systeme entstanden.

Die beiden kleinen Katzen begleiten uns immer noch unverdrossen durch ihr zukünftiges Jagdrevier. Peter zeigt uns einen alten Belarus-Traktor aus Minsk und einen DDR-Traktor namens „Fortschritt“. Er erzählt: „Wie ich den angemeldet habe, meinte die Frau, die da im Kostüm hinter dem Tresen saß: ,Ach, der alte ,Fortschritt‘, den durfte ich früher nie fahren. Das war der Männertraktor, und der ,Belarus‘ war der Frauentraktor.‘ “ Er lacht, zeigt auf Egge und Kultivator und führt uns dann in die teils desolaten LPG-Gebäude. Zeigt einbrechendes Dachgebälk und große Hallen, die als Remise dienen und als Lagerhalle für das Saatgut, für Getreide, Hülsenfrüchte und die Sonnenblumenkerne.

Es gibt teils museale Sortiermaschinen für Hülsenfrüchte und Getreide und den DDR- Mähdrescher namens „Hamster“. Sogar eine rustikale Holztheke mit Barhockern ist da, für die großen Sommerfeste. In hängenden weißen Gewebesilos lagert hier nun mäusesicher die Ernte. Ein defekter Traktor steht in der picobello geordneten Werkstatt. „Es gibt einen Maschinenbauer, der kommt regelmäßig vorbei, zum Glück“, sagt Peter.

Die Wahnwitzigkeit des Unternehmens wird angesichts der alten und reparaturbedürftigen Gebäude und Arbeitsgeräte, des Dieselpreises und der Materialkosten besonders deutlich. Spenden könnten hier gute Dienste leisten. Also für Anleger mit Prinzipien das ideale Objekt. Garantiert boni- und renditefrei!

Bei einem wohlgeratenen Spaghettiessen nebst hofeigenem Salat mit kandierten Walnüssen und kühlem, naturtrübem Apfelsaft lernen wir auch einige andere Hofbewohner flüchtig kennen. Sie sind wortkarg, scheinen aber freundlich. Danach bereitet unser Gastgeber Kaffee zu und bittet uns ins ruhige Wohn- und Spielzimmer. Es bietet Ausblick auf ein weites Feld und hat – wie alle Räume dieses Hauses – einen soliden Berliner Kachelofen.

„Ihr könnt gern auch noch Apfelsaft haben“, sagt Peter , „der ist übrigens ein Beispiel für das, was ich bedürfnisorientierten Austausch nenne: Von einer Kooperative bekommen wir Apfelsaft, wenn wir welchen brauchen, und die wiederum kommen, wenn sie Kartoffeln brauchen. Es wird unabhängig voneinander produziert, aber nichts gegengerechnet. Ein sehr angenehmes Verhältnis. Und jetzt erzähle ich einfach mal: Ich bin damals 2006 dazugestoßen über Freunde. Ich dachte, es ist Zeit, was anderes zu machen, es ist Zeit, mit den Gewohnheiten zu brechen, auf diesen Geldfluss da und auf den Äquivalententausch zu verzichten und nach Alternativen zu suchen. Zu schauen, wie wir anderweitig unsere Bedürfnisse befriedigen können, wie wir zu einer bedürfnisorientierten kollektiven Organisierung kommen, zu einer sozialen Vernetzung gegenseitiger Unterstützung … zu praktizierter Solidarität. Wir hatten uns alle kritisch mit der kapitalistischen Warenproduktion und dem Verwertungszusammenhang im Allgemeinen auseinandergesetzt, insbesondere mit den Bedingungen und Absurditäten der Nahrungsmittelproduktion im globalisierten Kapitalismus.“

Peter redet ernst, manchmal stockend, wenn er ein Wort auslässt, sagt er manchmal einfach nur „so“, oder er lächelt. „Und dann haben wir einfach angefangen und haben uns in die Praxis gestürzt. Es ist zwar oft hart, aber das Schöne für mich hier besteht darin, es ist einfach was Handfestes, was Praktisches, bei dem was Sinnvolles rauskommt. Kartoffeln sind toll! Wir erzeugen ein Grundnahrungsmittel, wir erzeugen es ökologisch. Ich kann es zusammen tun mit Menschen, die ich mag. Und man hat hier genug Zeit, Erfahrungen zu machen. Zu lernen, wie mache ich was, wann und warum. Also man setzt sich einfach Ziele und guckt, wie sie erreichbar sind. Wir machen jetzt das vierte Jahr Kartoffeln. Und wir wurden jedes Jahr besser.

2006 ist die NKL ja in Gang gekommen, als Versuch, eine alternative Wirtschaftsform zu praktizieren, jenseits vom Markt, mit dem Ziel, sich so weit wie möglich vom Geld zu lösen. Sich anders zu vergesellschaften, denn darum geht es. Es gab von Anfang an relativ viel Feedback von Berlin, auch einen größeren Interessentenkreis. Wir machten damals für diese Idee Propaganda. Im Rahmen der Veranstaltungsreihe ,Die globalisierte Kartoffel‘, im Café Morgenrot in Berlin, wurde das Konzept vorgestellt. Auch im Café der Agrarwissenschaftler in der Humboldt-Uni und später bei der Vorbereitung des G-8-Gipfels. Im Frühjahr 2006 jedenfalls schickten wir unseren ,Aufruf zur Selbstorganisierung‘ an Hausprojekte, Landprojekte, WGs und politische Gruppen. An 150 bis 200 Menschen erst mal. Wir kamen auf einen Bedarf von etwa 4,15 Tonnen Kartoffeln, die wir auf 0,7 ha produzieren wollten. Bald schon gab es ein gemeinsames Kartoffelkäferablesen. Und dann, im September 2006, der große Augenblick, die Ernte! Es kamen überraschend viele Helfer. 4,5 Tonnen wurden geerntet.

2007 vergrößerten wir die Anbaufläche. 8,5 Tonnen war die Ernte. 2008 waren es schon 15 Tonnen auf 1,5 ha. Und zum ersten Mal hatten wir auch alle Saatkartoffeln aus eigener Produktion, die mussten wir ja anfangs kaufen. Also wir haben zwei Tonnen Saatkartoffeln rein getan und 15 Tonnen geerntet. Und 2009 haben wir auf 2 ha 18 Tonnen geerntet. Das ist doch eine recht gutes Ergebnis, dafür, dass wir keinen Dünger in den Boden geben?!

Aber es ist natürlich nicht das Ziel, immer mehr zu ernten. Wir erheben den Bedarf, und danach produzieren wir. Wir fragen im Netzwerk herum: Wer braucht wie viele und welche Kartoffeln? Der Bedarf pro Nase im Jahr liegt ja so bei 50 bis 55 kg.“ [Um 1900 war es fünfmal so viel; Anm. G.G.] „Wir haben inzwischen verschiedene Kartoffelsorten, festkochende, mittelfeste und mehlige. Sogar rote. Und die werden dann mit dem Hänger nach Eberswalde, Potsdam und Berlin gebracht und eingelagert in Kartoffelkellern; das sind Orte, wo du hingehen und deine Kartoffeln abholen kannst. In Berlin ist es jetzt nicht mehr im Bethanien. Wir machen neuerdings das Kartoffelcafé in Kreuzberg, in der Admiralstraße 17, im Laden der KPD/RZ“. [Hierbei handelt es sich um die Spaßpartei „Kreuzberger patriotische Demokraten/realistisches Zentrum“; Anm. G.G.)

„Es gibt jetzt neben Kartoffeln auch noch Weizen, Buchweizen, Dinkel und Erbsen vom Karlshof. Und neuerdings sogar Brot. Das Café ist jeden zweiten Sonntag für NKL-Mitglieder geöffnet. Interessierte Menschen sind natürlich herzlich eingeladen und können sich ganz unverbindlich alles erst mal aus der Nähe angucken.“

Wir möchten wissen, was denn eigentlich genau von den Nutznießern der Kartoffeln erwartet wird. „Also der Beitrag, den wir erwarten, der wird nicht definiert, wir hoffen auf gute Einfälle. Das kann zum Beispiel Mithilfe sein im Kartoffelcafé. Es gibt eine Menge Möglichkeiten der Mitarbeit und Hilfe. Je nach Zeit und Fähigkeit kann die sporadisch sein oder auch regelmäßiger. Es gibt Leute, die sagen, okay, wir sind Mitglied im Netzwerk. Und es gibt Leute, die machen halt einfach nur so mit. Wir informieren im Internet über den Verteiler, was wir konkret brauchen. Also das kann praktische Hilfe sein, Marmelade kochen, was mauern, oder wenn’s ein Ingenieur ist zum Beispiel, der kann mit statischem Wissen helfen, mit einer einfachen Konstruktionsskizze für den Bau von einem Silo.

Wir brauchen vielfältige Sachen, auch gute Tipps oder Beratung von einem Netztechniker. Aber natürlich kann sich auch jemand an den Kosten beteiligen, wir brauchen ja Sprit für den Traktor, Material und Ersatzteile, müssten einige arbeitserleichternde Geräte anschaffen, das wird manchmal recht stressig. Vor anderthalb Jahren haben wir eine Spendenkampagne gemacht und Geld gesammelt für den Traktor. Davon haben wir den „Fortschritt“ gekauft, den ihr vorhin gesehen habt. Aber wir möchten da eigentlich gar keinen Druck ausüben.

Und die Kartoffeln, die wir verschenken, sollen auch keine Verpflichtung sein, keine Vergütung für vergangene oder künftige Dienstleistungen. Wir wollen eben keinerlei Äquivalententausch, wir wollen nicht den Wert von Kartoffeln oder Leistungen taxieren und verrechnen müssen. Wozu? So müssen wir auch nicht immerzu gucken: Ist das jetzt gerecht oder ungerecht? Wurden wir übervorteilt? Das ist wahnsinnig erleichternd, wenn man das alles mal hinter sich hat!

Es gibt auch Leute, die sich Kartoffeln abholen, ohne direkt etwas für uns oder das Netzwerk zu tun. Es ist einfach so, es gehört mit zum Prinzip der Selbstorganisation, dass man umdenkt und sich überlegt: Was kann ich tun? Das und das wird vielleicht gebraucht, das und das wäre jetzt wichtig, die und die Bedürfnisse hat der andere. Anfangs hatten die Kartoffeln ja so eine Agitpropfunktion, inzwischen sind sie auch Symbol und Beweis dafür, dass es geht, und eine Aufforderung dazu, dass sich andere Produktionsbereiche gründen und selbstständig im Netzwerk engagieren. Das passiert auch. Jetzt hat sich gerade eine nichtkommerzielle Brotbackgruppe gegründet, die aus unserem Getreide Sauerteigbrote gebacken hat, sodass zum ersten Mal auch Brot verteilt werden konnte im Kartoffelcafé.“

Auf die Frage, ob er uns den theoretischen Ansatz noch mal genauer erläutern kann, sagt er abwehrend und entschieden: „Also ich bin jetzt keiner, der so beschlagen ist in Theorie, der diese Mehrwertsache vorträgt, da bin ich der Falsche. Aber eins weiß ich genau, ich halte eine Produktion um der Produktion willen, die nur produziert, um Geld zu machen, für unsinnig. Und ich halte das derzeitige Wirtschaftssystem für falsch, für ökologisch und sozial schädlich. Punkt! Das treibt mich schon um, dass jeder sechste Mensch hungert und jede Minute so und so viele Kinder sterben an Hunger. Es muss doch jedem klar sein, dass diese Art des Wirtschaftens mörderisch ist. Und da finde ich, dass unser wertkritischer Ansatz gut ist, dass wir in kleinem Maßstab aktiv werden, um einfach was zu versuchen, um die Dinge zu ändern.

Ich persönlich jedenfalls bin mit der Theorie nicht weitergekommen. Ich löse das für mich lieber praktisch, auf so einer solidarisch-menschlichen Ebene, und ich finde diese Versuche – auch von euch jetzt -, dem eine theoretische Grundlage abzuverlangen, echt nicht gut! Wir haben es ja immerhin innerhalb von vier Jahren geschafft, ein ziemlich autarkes kleines Wirtschaftssystem mit einem sich entwickelnden Netzwerk kollektiver Subsistenz aufzubauen. Und das ist nicht mehr theoretisch abgehoben, sondern eine ganz handfeste Geschichte.

Wir kommen zurecht. Sicher, wir haben auch die klassischen kollektiven Organisations- und Kommunikationsprobleme, wie andere auch. Wir haben einmal in der Woche eine Art Plenum, wo alles Wichtige besprochen wird. Es gibt natürlich auch Themen, wo keiner so richtig … unbeliebte Themen zum Beispiel Verantwortung für die Gebäude. Entweder wir übernehmen die … oder wir müssen eben sagen, gut, lasst diese Halle einstürzen. Bums! Aus! Dann haben wir es eben gemeinsam nicht geschafft. Und es gibt manchmal so Sachen, da fragst du dich: Warum mache ich mich hier zum Hampel? Aber wir kriegen es immer irgendwie halbwegs hin, würde ich mal sagen. Und ich will ja auch was anderes als nur Harmonie. Ich will auch was umsetzen.

Gut, während ich hier auf dem Acker herumfahre, haben andere an der Uni promoviert. Es ist schon ein sozialer Abstieg, wenig Geld, wenig Sicherheit, kein sozialer Status. Das ist vielleicht der Preis, den man in dem Sinne bezahlen muss. Aber das ist eine Sache der Perspektive. Denn wenn ich mir anschaue, wie es mir geht, dann würde ich sagen, ich fühle mich wesentlich besser hier. Es gefällt mir, draußen zu arbeiten, es gefällt mir, wofür ich arbeite. Und diese Freiheit, einfach etwas machen zu können, die habe ich in diesem Kontext mehr als anderswo. Zum ersten Mal bin ich nicht mehr so frustriert, nicht mehr so machtlos.“

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2. Der zweideutige Aufstieg Chinas

von Andreas Exner

„The Rise of China and the Demise of the Capitalist World-Economy“, so lautet der Titel von Minqi Li’s Erstlingswerk, das im November 2008 bei Pluto Press erschienen ist, übersetzt „Der Aufstieg Chinas und der Niedergang der kapitalistischen Welt-Ökonomie“. Li vereint darin zwei Qualitäten, die einzeln häufig, in Kombination jedoch selten sind: einen marxistischen Zugriff auf Gesellschaft und einen breiten ökologischen Horizont. Derart ausgestattet wagt er, was bis dato selten jemand tut: das Ende des Kapitalismus zu denken. Das Buch untersucht die Dynamik des kapitalistischen Welt-Systems und analysiert, welche Rolle der Aufstieg Chinas in diesem Kontext spielt. Minqi Li befasst sich mit dieser Frage schon geraume Zeit und resümiert seine Ergebnisse gleich zu Beginn: „Ich argumentierte, dass der ökonomische Aufstieg Chinas das kapitalistische Welt-System in der Tat auf verschiedene Weise stark destabilisieren und damit zu seinem endgültigen Niedergang beitragen würde.“ Dies ist auch die Kernthese von „The Rise of China“.

Systemische Akkumulationszyklen

In den ersten beiden Kapiteln rollt Li im Schnellschritt die chinesische Geschichte auf, um Chinas industrielle Expansion in die Hegemonie- und Akkumulationszyklen einordnen zu können, die das Welt-System seit seinem Beginn vor rund 500 Jahren bestimmen. Die Theorie der systemischen Akkumulationszyklen wurde von der Weltsystemschule entwickelt; vor allem in den 1990er Jahren. Ihre Grundidee findet sich bei Karl Marx, der im ersten Band des „Kapital“ schreibt: „Mit den Staatsschulden entstand ein internationales Kreditsystem, das häufig eine der Quellen der ursprünglichen Akkumulation bei diesem oder jenem Volk versteckt. So bilden die Gemeinheiten des venetianischen Raubsystems eine solche verborgne Grundlage des Kapitalreichtums von Holland, dem das verfallende Venedig große Geldsummen lieh. Ebenso verhält es sich zwischen Holland und England. Schon im Anfang des 18. Jahrhunderts sind die Manufakturen Hollands weit überflügelt und hat es aufgehört, herrschende Handels- und Industrienation zu sein. Eins seiner Hauptgeschäfte von 1701-1776 wird daher das Ausleihen ungeheurer Kapitalien, speziell an seinen mächtigen Konkurrenten England. Ähnliches gilt heute zwischen England und den Vereinigten Staaten.“

Fernand Braudel hatte in den 1980ern mit Blick auf den Kulminationspunkt einer spezifischen kapitalistischen Epoche die allgemeine These präzisiert, dass „jede kapitalistische Entwicklung dieser Größenordnung, wenn sie die Phase der finanziellen Expansion erreicht, ihre eigene Reife angekündigt hat: es ist dies ein Zeichen des Herbstes“. Giovanni Arrighi schließlich ordnete die Ausdehnung der Finanzmärkte, die sich seit den 1980er Jahren entwickelte, in dieses langfristige Muster ein und analysierte sie als jüngste Phase „finanzieller Expansion“ des kapitalistischen Welt-Systems. Arrighi zufolge verläuft die Akkumulation nicht nur auf der Ebene des Einzelkapitals, sondern auch im Weltmaßstab als ein Zyklus G-W-G‘, also von Geld-Ware-Mehrgeld. Den ersten Teil des Zyklus, die materielle Expansion G-W, zeichne aus, dass Profite vorrangig in der Warenproduktion generiert werden. Die materielle Expansion führt zu Überakkumulation, verschärfter Konkurrenz und zunehmender politischer Instabilität. Sie geht daher über in eine finanzielle Expansion W-G‘, in der die Kapitalisten Profite vor allem durch finanzielle Anlagen und Finanzspekulation lukrieren; in der Form G-G‘. Die finanzielle Expansion ergibt sich zum einen aus bestimmten „Angebotsbedingungen“ – die etablierten Handels- und Produktionskanäle können die Profite nicht mehr in vollem Umfang aufnehmen; zum anderen aus der zunehmenden Geldnachfrage und Konkurrenz um Geldkapital seitens der Staaten, die damit auf Finanzierungsschwierigkeiten aufgrund der nachlassenden Realakkumulation reagieren.

Die finanzielle Expansion ist in allen Akkumulationszyklen bisher Begleiterscheinung einer sich erschöpfenden hegemonialen Macht. Der absteigende Hegemon kann seine Vorrangstellung auf diesem Weg ein letztes Mal über die Runden retten, indem er seine finanzielle Macht ausbaut und sich damit noch eine Zeit lang trotz abnehmenden technologischen und produktiven Vorsprungs gegenüber der Konkurrenz behauptet. Die Phase der finanziellen Expansion bricht zusammen, sobald die Möglichkeiten der Realwirtschaft offenkundig überdehnt sind und der Abstieg des Hegemons aufgrund seiner nachlassenden Fähigkeit, das Welt-System zu seinen Gunsten zu regulieren, unabwendbar ist. Es folgt eine Phase, die Arrighi „systemisches Chaos“ nennt, in deren gewalttätigem Verlauf der Aufstieg eines neuen, mächtigeren Hegemons ansetzt. Marx gegenüber betont Arrighi, dass die Reihe der Hegemonialmächte nicht eine schlichte Abfolge führender Staaten, also keine „Wiederkehr des Immergleichen“ darstellt, sondern durch immer größere Ausdehnung, Ressourcenausstattung und Weltmacht des jeweiligen Hegemons charakterisiert ist.

China im Zyklus

Vor Beginn des kapitalistischen Welt-Systems war China die größte ökonomische Macht. Seit 1500 begann China im Bruttoinlandsprodukt pro Kopf gemessen hinter Westeuropa zurückzufallen; wie Li zeigt, stellte es allerdings noch bis zu Anfang des 19. Jahrhunderts „die weltweit größte territoriale Ökonomie unter einer einzigen politischen Jurisdiktion, die für ein ganzes Drittel des globalen Bruttoprodukts aufkam“, dar. Im Verlauf desselben Jahrhunderts sank China aber in die Semiperipherie des kapitalistischen Welt-Systems ab. Die sozialistische Revolution in China kehrte diesen Abstieg um. Und die Akkumulation der 1950er, 1960er und 1970er Jahre machte schließlich das „Wachstumswunder“ Chinas seit den 1980er Jahren möglich. Li betont die Erfolge der maoistischen Ära beim Kapitalaufbau und in der Entwicklung technischer Kompetenz. Die zusehends eigenzentrierte Entwicklung äußerte sich schon früh in sinkenden Importquoten maschineller Ausrüstungsgüter, aber auch in einem hohen Grad von wirtschaftlicher Diversifikation. Noch beachtlicher waren die Erfolge in den Bereichen Gesundheit und Bildung.

In den 1980er Jahren wurde China ein Stützpfeiler des Neoliberalismus. Seine riesige industrielle Reservearmee erlaubte es, Löhne durch Produktionsverlagerung zu senken und noch mehr wurde diese als eine Drohung gegen die ArbeiterInnen der Zentren eingesetzt. Chinas Niedriglohnsektoren versorgten das Zentrum mit billigen Industriegütern, was positiv auf die Profitraten der dort engagierten Kapitalien wirkte. Li begründet dies mit dem Theorem des „ungleichen Tauschs“: Durch diesen Mechanismus hätten sich die Zentren einen Teil des Mehrwerts, den die lebendige Arbeit in China produzierte, angeeignet. Der vierte für den Neoliberalismus positive Beitrag Chinas war sein rasches BIP-Wachstum, wodurch sich das globale Wirtschaftswachstum deutlich beschleunigte. Schließlich wäre ohne China auch das Zahlungsbilanzdefizit der USA nicht denkbar; und ohne dieses Defizit nicht die neoliberale globale Ökonomie.

Den Neoliberalismus bestimmten ein hohes Zinsniveau, finanzielle Krisen und eine teilweise Absenkung der Reallöhne. Dazu kam, dass viele Staaten ihre Ausgaben reduzierten, um für Geldkapital attraktiv zu bleiben. Damit wurden alle drei Komponenten der effektiven Nachfrage angegriffen: öffentliche Ausgaben, produktive Investitionen und der Massenkonsum. Die finanzielle Instabilität führte viele Staaten dazu, mittels Handelsbilanzüberschüssen ausländische Währungsreserven aufzubauen. Diese Strategie erforderte ebenso wie das Wachstum der Weltwirtschaft bei gleichzeitiger Stagnation der Nachfrage einen „Schuldner und Konsumenten letzter Ordnung“ – und das waren die USA, die 2001 bis 2005 mehr als 90 Prozent der weltweiten Ersparnisse an sich zogen. 2006 stieg China zum weltweit größten Gläubiger auf und die Welt wurde im Ganzen gesehen sogar zu einem kleinen „Schuldner“, wie Li zeigt.

Schuldenberge und Überkapazitäten

Li hält in seinem Buch, das im November 2008 erschienen ist, deutlich fest: Die Instabilität dieses schuldenbasierten Regimes muss in den Abstieg der USA einmünden: „Wenn der Konsum einbricht, ist es äußerst wahrscheinlich, dass die US-Ökonomie in eine tiefe Rezession mit einer anschließenden dauerhaften Stagnation fällt, wenn man sich das überproportionale Gewicht des Konsums in der US-Ökonomie vor Augen hält.“ Diese Prognose erhärtet sich inzwischen mit jedem Monat ein Stück mehr.

Die Möglichkeit einer neuen finanziellen Blase nach dem Muster von dot.com oder der vor 2008 expandierenden Immobilienspekulation verneint er. Dass der Dollar in Form eines Crashs abwertet, hält er für wahrscheinlich. Li ist deshalb überzeugt, dass die USA die hegemoniale Stellung verlieren werden. Die Frage freilich ist, ob China die niedergehenden USA nach dem Muster bisheriger hegemonialer Transitionen beerben können oder nicht. Li ist skeptisch. China hing nämlich bis zum Sommer 2008 vor allem vom US-Konsum ab. Dazu kam, dass sein exzessives Investitionsniveau die Rohstoff- und Energienachfrage massiv in die Höhe trieb – eine wesentliche Ursache der steigenden Rohstoff- und Energiepreise in den Jahren vor 2008. Hätte China seinen Investitionsgalopp aufrechterhalten – so muss man im Anschluss an Li, jedoch bereits im Konditional formulieren – wären massive Überkapazitäten die Folge gewesen (die jetzt aufgrund einbrechender Nachfrage wachsen). Dazu kommt, dass Chinas Pool ungenutzter Arbeitskräfte vor dem Sommer 2008 rapide abschmolz, was bereits zu rascher steigenden Löhnen geführt hatte. Festzuhalten bleibt, dass ein etwaiger Aufschwung – der unwahrscheinlich ist – diese Tendenzen erneut in Gang setzen würde.

Ein Dreischichten-Modell

Um die Frage zu klären, ob China der kommende Hegemon des kapitalistischen Welt-Systems werden könnte, orientiert sich Li an einem Dreischichten-Modell des internationalen Staatensystems: Zentrum, Peripherie und Semiperipherie: „Chinas innere soziale Transformation und sein Aufstieg im Welt-System drohen die Stabilität der Semi-Peripherie zu unterminieren und aus diesem Grund die ganze dreischichtige Struktur“, denn: das kapitalistische Welt-System kann Li folgend nur existieren, wenn eine mittlere Schicht das Zentrum von den sozialen Spannungen und Ansprüchen der Peripherie abschirmt. „Das mittlere Stratum ist zugleich Ausbeuter und ausgebeutet. Indem die herrschenden Eliten dem mittleren Stratum Zugang zu einem Teil des Surplusprodukts ermöglichen, kaufen sie sich die potenzielle politische Führung der ausgebeuteten Masse“.

Mit dem Wechsel Chinas in die Kategorie der „Wohlstands-Semiperipherie“ würden, so Li, die globalen Machtverhältnisse massiv verändert – zum Nachteil des Zentrums, das nun einen immer größeren Teil des globalen Surplus mit der drastisch gewachsenen oberen Hälfte des mittleren Stratums teilen muss; und zu Ungunsten der Stabilität des Welt-Systems, da die addierten Ansprüche von Zentrum und erweiterter Semiperipherie immer schwerer auf der Peripherie lasten.

Auch in einem „Szenario der Angleichung nach unten“, wonach Chinas industrieller Aufstieg die „Wohlstands-Semiperipherie“ unter Konkurrenzdruck und zum ökonomischen Abstieg bringt, wäre der Effekt destabilisierend, „nachdem die Staaten des Zentrums an der Spitze sich möglicherweise vereintem Widerstand und Rebellion der Peripherie und der Armuts-Semiperipherie gegenübersehen.“ Li hält im Anschluss an Wallerstein deshalb fest, dass das Welt-System durch seine inneren Tendenzen über die Grenzen seiner Selbstregulationsfähigkeit hinausgetrieben wird, mit anderen Worten, „das existierende Welt-System sich seiner Endkrise nähert.“ Das Welt-System hängt von billigen Löhnen, niedrigen Steuern und geringen Umweltkosten ab.

Alle drei Parameter zeigen jedoch eine steigende Tendenz, die sich durch den Aufstieg Chinas noch beschleunigt. Damit verringert sich der Profit, und die Akkumulation lässt nach. Bisher konnten Akkumulationskrisen durch den Übergang der Hegemonie auf eine jeweils mächtigere Herrschaftsstruktur, geeignet die wachsende Komplexität des Systems zu regulieren gelöst werden – vom genuesisch-spanischen Machtkomplex auf Holland, anschließend auf das englische Empire, und von dort auf die USA. „Allerdings hat im Verlauf des Niedergangs der US-Hegemonie keine der großen Mächte (inklusive China) eine glaubhafte Chance die USA zu ersetzen und die nächste Hegemonialmacht zu werden. In dem Ausmaß, worin das existierende Welt-System seine Fähigkeit, sich durch eine neue hegemoniale Macht zu erneuern und zu restrukturieren, erschöpft, hat es seine eigene historische Grenze erreicht“, meint Li.

Die ökologischen Grenzen der Akkumulation

Chinas hegemoniale Potenziale sieht Li in mehrfacher Hinsicht beschränkt: Erstens ist der technologische Abstand gegenüber den Zentren zu groß, zweitens verfügt China nicht über ausreichende militärische Kapazitäten, drittens weist China ein ungünstiges Verhältnis von natürlichen Ressourcen und Einwohnendenzahl auf. Sieht man sich den vor Ausbruch der Krise projektierten Energieverbrauch Chinas bis 2035 an, ist leicht zu erkennen, dass es China grundsätzlich nicht gelingen kann, mit den USA auf konsumtiver Ebene gleichzuziehen – „im Jahr 2035 wäre praktisch kaum noch Energie übrig für die Welt außerhalb von China, Indien, die USA und die Eurozone. Es ist sicherlich unmöglich, dass ein solches Szenario Wirklichkeit wird.“

Li widmet sich eingehend den verschiedenen Aspekten dieses unmöglichen Szenarios: die Verknappung fossiler Ressourcen, aber auch die begrenzten Vorräte an Uran sowie von technologisch wichtigen Metallen zeigen klar, dass die Kapitalakkumulation an innere Grenzen stößt. (Die Ökologie ist für das Kapital in seiner doppelten Eigenschaft, Stoff und Wert zu sein, keine äußere Beschränkung. Sie bildet vielmehr eine innere Grenze der Akkumulation – die Ware ist eben nicht nur Wert, sondern auch Gebrauchswert.) Windkraft und Solarenergie könnten Li zufolge physisch gesehen zwar rund 75 Prozent des weltweiten Endenergieverbrauchs des Jahres 2005 (in Form von Elektrizität) decken, doch überfordert der dafür notwendige Ausbau und der Unterhalt dieser Technologien das System finanziell; jedenfalls solange man gleiches Konsumniveau wie vor der Krise unterstellt.

Würde der gesamte Endenergieverbrauch der Welt durch Erdöl gedeckt, so kalkuliert Minqi Li, beliefen sich die Kosten auf 4 Prozent des Weltbruttoprodukts. Schon die Produktion von Elektrizität erhöht die Kosten der Energiebereitstellung jedoch deutlich. Würde der gesamte Endenergieverbrauch durch Elektrizität gedeckt, stiegen die Kosten deshalb auf 12 Prozent des Weltbruttoprodukts. Die Kosten eines Umbaus des Energiesystems bei heutigem Konsumniveau sind freilich in Beziehung zur Weltersparnis zu setzen, das heißt zu jener Summe, die für Investitionen zur Verfügung steht. Die globale Bruttoersparnis beträgt rund 20 bis 25 Prozent des Weltbruttoprodukts, netto beläuft sie sich auf 10 bis 15 Prozent. Würde nun der weltweite Endenergiebedarf mittels Windenergie gedeckt, so betragen die Ausgaben für die Energiebereitstellung 26 Prozent des Weltbruttoprodukts.

Ein Viertel der weltweiten Wertschöpfung müsste also direkt oder indirekt der Energiebereitstellung gewidmet werden. Die hohen Kosten der Elektrizitätsspeicherung und der nötigen Back-up-Kapazitäten sind in diesem Anteil noch nicht eingerechnet. Ein Kostenanteil in Höhe von einem Viertel der globalen Wertschöpfung entspräche einem Rohölpreis von 180 US-Dollar pro Fass. Die gesamte Weltnettoersparnis wäre in diesem Fall aufgebraucht. Ein solcher Ausbau ist folglich nur denkbar, wenn andere Ausgaben, vor allem jene für den Konsum, eingestellt werden. Dieselbe Kalkulation für Solarthermie schließlich ergibt Summen, die nicht mehr aufzubringen sind, von anderen Solartechnologien gar nicht zu reden; die sind laut Li kostenmäßig und auf den heutigen Energiebedarf bezogen „ganz einfach keine Option“.

Dabei betont Minqi Li, dass „zusätzlich zu diesen Problemen herauszustellen ist, dass die Produktion erneuerbarer Energien gegenwärtig auf fossile Brennstoffe angewiesen ist sowie auf nicht erneuerbare Mineralien als materielle Inputs. Das bedeutet, dass die Expansion erneuerbarer Energien durch das limitierte Angebot nicht erneuerbarer Ressourcen behindert werden könnte.“ Diesen Hinweis bekräftigt Li, indem er die Grenzen von Effizienzsteigerungen und der Biomasseproduktion analysiert.

Die Folgerung, die Li daraus zieht, ist eindeutig: „Nach 2050, während die fossilen Ressourcen weiter abnehmen, überalterte Nuklear- und Wasserkraftanlagen nicht mehr vollständig ersetzt werden können und das Potenzial der Ausweitung erneuerbarer Energien sich erschöpft hat, wird die kapitalistische Welt-Ökonomie (falls sie dann noch existiert) in einen permanenten Niedergang einmünden.“

Resümee

So zeichnet Li das Bild eines gesellschaftlichen Systems, das aufgrund begrenzter natürlicher Produktionsgrundlagen und einer Überdehnung seiner hegemonialen Struktur in die Endkrise eingetreten ist. Für Li ist das freilich weder ein Grund zur Resignation noch dafür, schlicht abzuwarten, sondern ganz im Gegenteil das Argument, den Kapitalismus mit größter Geschwindigkeit in bewusster Aktion aus der Welt zu schaffen: „Allem voran muss sich die Menschheit dafür einsetzen, das globale kapitalistische System so rasch wie möglich abzuschaffen. Um die totale Selbstzerstörung der Menschheit zu vermeiden, wäre – von diesem Standpunkt aus gesehen – sogar der Feudalismus besser als der Kapitalismus; klarerweise wäre irgendeine Art von Sozialismus zu bevorzugen.

Wenn dieser Versuch scheitert, so wird die kapitalistische Welt-Ökonomie aufgrund ihrer eigenen Bewegungsgesetze auseinander fallen, wie ich im Buch argumentiere; und zwar nicht später als in der Mitte des 21. Jahrhunderts. Allerdings wäre zu diesem Zeitpunkt schon zu viel Zeit verloren, um globale Katastrophen zu verhindern. Es wird Mitte des 21. Jahrhunderts auf der ganzen Welt wahrscheinlich sozialistische Regierungen geben. Aber die Aufgabe zukünftiger sozialistischer Regierungen bestünde nicht mehr länger darin, Katastrophen zu verhindern, sondern im Versuch, diese zu überleben, während sie stattfinden.“ Problematisch ist, dass Li ein Weiterbestehen des Staates voraussetzt. Auch bleibt sein Bild der sozialistischen Alternative vage. Ein nachgerade gefährliches Terrain ist schließlich die Bevölkerungsdebatte, auf die Li peripher Bezug nimmt.

Zwar wäre es offenkundiger Unsinn zu behaupten, die Anzahl der Erdbewohnenden spiele für die Möglichkeit ihres auskömmlichen Lebens keine Rolle, doch scheint mir die Annahme, eine drastische Reduktion der Bevölkerungszahl sei vonnöten, ebenso problematisch. Li jedenfalls stützt sich unkritisch, wie mir scheint, auf Quellen, die davon ausgehen, dass die Weltbevölkerung dramatisch sinken muss, um unter veränderten natürlichen Bedingungen einen annehmbaren Lebensstandard für alle gewährleisten zu können. Die Generallinie der Argumentation von Li beeinträchtigen diese Einwände freilich nicht. Und so ist ihm – mit Ausnahme der Hoffnung auf eine „Welt-Regierung“ – darin beizupflichten:

„Wenn die katastrophischen Folgen des Klimawandels nicht verhindert werden können, so wird die ganze Menschheit um das Überleben kämpfen müssen. Sofern der Überlebenskampf allerdings unsere besten intellektuellen und moralischen Potenziale mobilisiert, dann könnte die Menschheit unter einer sozialistischen Weltregierung die Krise in einer relativ geordneten Weise überleben, während sie die wichtigsten Errungenschaften der kapitalistischen Zivilisation, nicht zuletzt jene der modernen Wissenschaft und Technologie, bewahrt.“
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Minqi Li: Rise of China and the Demise of the Capitalist World-Economy, Pluto Press 2008, 192 Seiten, ca. 12 Euro (Taschenbuchausgabe 2009 bei Monthly Review Pr, ca. 15 Euro) http://www.bookzilla.de/shop/action/productDetails/8173503/m
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Kürzere, persönlichere Version dieser Rezension, mit Originalzitaten: http://www.social-innovation.org/?p=1030
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