vonWolfgang Koch 05.08.2009

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Lutz Musners Buch Der Geschmack von Wien ist mit Sicherheit das intelligenteste Buch, das in den letzten Jahren über Wien geschrieben worden ist. Ob diese Untersuchung auch ein kluges Werk ist, heiter-luzid oder wütig-still, oder ob diese Studie, wie viele andere, nur einem akademischem Manöver geschuldet ist, das soll im Wienblog in einer mehrteiligen Serie ergründet werden.

Im ersten Eintrag geht es darum, dem Publikum Musners nicht gerade einfaches Thema verständlich zu machen. Der Geschmack von Wien umfasst einen Text von knapp 300 hochwissenschaftlichen Seiten; auf keiner einzigen dieser Seiten geht es um die städtische Form oder die zukünftige Stadtentwicklungen. Wien wird ja bald, wie andere Städte, nicht mehr wachsen. Städte sind heute Schrumpfungsgebiete, und die an herkömmliche Investoren gerichtete Wirtschaft- und Stadtentwicklungspolitik läuft vielerorts bereits in Leere.

In Musners Habilitationsschrift geht es weder um diese entscheidende Wende in der Stadtentwicklung, noch um die dringend notwendigen Gegenstrategien dazu. Der Gegenstand seiner abstrakten Untersuchung ist vergleichsweise wolkig, er lässt sich schwer auf den Stadtgrundriss projezieren, denn was an einem Ort gedacht wird, gefühlt und empfunden, macht ja in der Addition noch kein Leben aus.

Beim Kulturwissenschafter Musner dreht sich alles und jedes um das »Stadtimaginäre«. Früher hätte man etwas bescheidener von den Mythen der Stadt gesprochen. Musner freilich, – wir befinden uns in der Geburtsstadt Sigmund Freuds – bevorzugt den stolzierenden Ausdruck: »Imago der Stadt«.

Solche Begriffe reichen keine Hände, sie müssen erst übersetzt werden. Was mit dem »Imago von Wien« gemeint ist, lässt sich zum Beispiel brandaktuell in der Sommerausgabe des Gratismagazins Wien Live nachlesen. Die hiesige Stadtverwaltung lässt sich bekanntlich nicht lumpen, was ihre bombastische Eigenpromotion betrifft. Jährlich werden in SPÖ-nahen Verlagshäusern hunderte Millionen von Euro in die Selbstbeweihräucherung der magistratischen Arbeit gepumpt.

Das Flagschiff der Wiener Rathaus-PR ist die bei Echomedia erscheinende Hochglanzpostille Wien live. Nicht alles, nicht jeder Artikel in diesem Gratismagazin ist billige Propaganda, die den Bürgermeister als Urbanisator per excellence vorführen will. So findet sich in der aktuellen Ausgabe auch ein durchaus kritisches und lesenswertes Interview zum Haydn-Jahr mit dem Radiointellektuellen Otto Brusatti.

Das meiste in diesem gedruckten Campanile aber ist höherer Wien-Firlefanz. In der Titelgeschichte der Sommerausgabe erklären 100 sogenannte Prominente, von denen keine zehn Prozent einer breiteren Öffentlichkeit bekannt sind, warum Wien für sie Nr. 1 unter den Städten der westlichen Hemisphäre ist. Sehen wir uns ihre Antworten auf die Umfrage der Redaktion näher an, sind wir gleich mittendrin in Musners wolkigem Thema.

Den Hintergrund für den Wien Live-Titel bildet die jährliche Studie des internationalen Beratungsunternehmens Mercer. Sie reiht Wien neuerdings vor 214 anderen Grossstädten an der Spitze der Besten. Untersucht wurden von Mercer zehn lebensrelevante Kategorien von politischer Lage bis Umwelt – und die von Wien Live befragten hundert prominenten WienerInnen echoten die Studienergebnisse verstärkt wieder zurück.

Was qualifiziert Wien in den Augen seiner Elite vor allen anderen Städten? An oberster Stelle, man staune, die Qualität des Trinkwassers. Erst danach ist von Kultur und Tradition die Rede – von der »Vielfalt des Kulturgewühls« gar (Volkstheater-Direktor Michel Schottenberg). Wir erfahren, dass nirgendwo sonst Künstler so viel Ansehen geniessen wie in Wien.

Da sind wir schon beim Superlativ! Nie, nirgendwo, einzigartig – die Grösste, die Schönste, die Beste. Es scheint als könnte über die Stadt Wien überhaupt nicht nüchtern gesprochen werden. Man ist besoffen von sich selbst. Man lobt die Tradition, und dass diese in einer wunderbaren Spannung zur Moderne stehe. »Nirgendwo in der Welt gibt es ein so hohes kulturelles Angebot«.

Wien wird auch als trendy, fancy und hip beschrieben. Wir hören von »gepflegter Arroganz«, von »Impulsivität« und »meisterhaft gespielter Ehrlichkeit«. Edelbert Köb, einer unserer Museumsoberen am Ring, schwärmt von der »einzigen gepflegten, funktionierenden Stadt im Herzen Europas«. Ja, man hat richtig gelesen! Wien, die einzige gepflegte, funktionierende Stadt im Herzen Europas. In Edinburgh, in St. Petersburg oder in Barcelona hätte man so einen aufgeblasenen Gecken mit nassen Fetzen aus der Stadt gejagt. Aber Wien ist eben anders: hier geht die arrogante Selbstzuschreibung als »originell« durch, die Redakteure rollen verliebt mit den Augen und setzen sich beschwingt ins Wochenende ab.

»Einen Hauch von Multikulti« meint Köb in der Wiener Luft zu verspüren – »einen Hauch«, wo doch hinter dem Gürtel ganze Wohnbezirke von Migranten in Beschlag genommen wurden und die angestammte Wiener Bevölkerung zur depressiven Minderheit herabgestiegen ist. »Eine Brise Orient!« – »Ja, und ach, diese Marmarabirlik, und die feine Nohut Haşlama-Paste«, schwärmen die Genussmenschen in den hochkulturellen Palästen. Am Ring, sag‘ ich, da faulen heute die Pastores und Vikare der Kulturkirche unter dem Glassturz des Weltkulturerbes dahin.

Für die bekannte ORF-Moderatorin Barbara Rett ist Wien die »Stadt der schönsten Gärten und Parks der Welt«. – Lächerlich, die Dame kann nicht weit herumgekommen sein! Heimatliebe ist gewiss immer eine putzige Sache, muss so sein, appellativ und stupide. Aber wie sich hier der kollektive Subjektivismus der Promis am Geist der Leserschaft austobt, das legt den österreichischen Provinzialismus schonungslos offen, macht Tabula rasa aus reinem Übermut.

Von einer »unerschöpflich zauberhaften Stadt« schwärmt eine Malerin. Besonders häufig taucht der nichtssagende Begriff der »Lebensqualität« auf – eines der putzigsten Nullwörter, das aus der Medizin in die Medienwelt abgewandert ist. Mit einem »Ausbund an Lebensqualität« ist so wenig gesagt wie mit einem »Mekka der Lebenskunst«. Das alles sind nur emotional aufgedonnerte Worthülsen, die die Mittelklasse zur Abgrenzung von der weniger kaufkräftigen Klientel gebraucht. Unter »Lebensqualität« kann man die wie Pilze aus dem Boden schiessenden Back-Stuben genauso meinen wie die systematische Vertreibungspolitik von Obdachlosen aus dem historischen Stadtkern, und die UmfrageteilnehmerInnen von Wien Live tun das sicher auch.

Und ach, die Gemütlichkeit – dass sich in Wien niemand hetzen lasse. dass man in Wien »billig und gut essen gehen« kann (eine glatte Lüge!). – Heisse Luft, wohin man blättert: »eine menschliche Dimension« (der Bankier Gerold Seidl), »das menschliche Mass« (die Chefin der Nationalbibliothek Johanna Rachinger), »gegen den sogenannten Fortschritt« (der Viennale-Direktor Hans Hurch).

Eitelkeit, Selbstlob, pfauenhafte Präsenz: auf diesem Boden gedeiht in Wien seit jeher das Beschränkte. Der Schauspieler Erich Schleyer vermag sogar von einer »Hauptstadt der Welt« zu sprechen. Fehlt nur noch, dass der Papst seine neue Residenz in Heiligenstadt nimmt.

Ehrlichkeit (also die wirkliche menschliche Dimension, das menschliche Mass) blitzt eigentlich nur im Statement des Dancing Stars Gitta Saxx auf. Sie ist einfach von den vielen Engel auf den Gebäudefassaden faszinieren. Aber auch bei Saaxx steht nur Altwien im Blickfeld der Selbstbewertung. Die weit über Gürtel und das Donauufer hinauswuchernden Agglomerationen werden überhaupt nicht als Teil des geliebten Wohnortes wahrgenommen.

In Wien, behaupten wir, ist die städtische Form weitgehend von ihrer gesellschaftlichen Grundlage isoliert. Dank dieser katastrophalen Isolation ist die Stadt als Einfallstor für Projektionen aller Art möglich.

Seit Jahrhunderten beschreibt sich das Wienerantentum am liebsten in Gegensatzpaare: in Balkan und Urösterreich, in Tradition und Moderne, Dekadenz und Sophistication, Musikverein und U4, – und die Menschen hier halten solche Ambivalenzen für einzigartig unter dem Firnament. Die Empfindsamen stumpfen bei der Leier ab – den unempfindlichen Hirnen ist es grad‘ eben ein Kitzel. »Himmelhochjauchzend – zu Tode betrübt – fast ein bissl manisch«, sagt die Sängerin Niddl Ritzl.

Vielsagend auch der Beitrag des bekannten, was heisst: des weltberühmten Pianisten Rudolf Buchbinder: »Je öfter ich in der Welt bin, desto öfter bin ich dankbar in Wien leben zu dürfen«. – In diesem schmalen Sätzlein kommt ein gewaltiger Bruch zum Ausdruck: die Welt, die ist da draussen, fremd wie das Universum, und wir sind hier herinnen, in der uteruswarmen Gemeinschaft beim massenhaften Leichenschmaus.

Geht es nach den zitierten Liebeserklärungen der 100 prominenten Wienbenutzer, tut sich ein Defizit auf zwischen Stadtrealität und Selbstmythologisierung. Die oberen Schichten gewinnen durch kulturellen Konsum einen Gutteil ihrer Alltagswürde zurück, die Jungen streichen ihre hedonstische Seite hervor, und beide Gruppen wähnen sich so in einer Abgrenzung zur restlichen Welt.

Aber ist das wirklich soviel anders als in Hamburg, Zürich oder Seoul? Schauen die Leutchen woanders wirklich nur mehr »Wer wird Millionär?« auf ihren Flachbildschirmen? Schwer zu glauben.

Lutz Musener jedenfalls beschreibt in seiner Studie die Herkunft der ungewöhnlich resistenten Selbst- und Fremdbilder Wiens, und er stellt die Frage nach der Zukunft unseres Metropolenbewusstseins. Ein beliebter Topos des Kulturpessimismus hat einen neuen Autor gefunden.

© Wolfgang Koch 2009

Lutz Musner: Der Geschmack von Wien. Kultur und Habitus einer Stadt. 295 Seiten, ISBN 978-3-593-38897-7, Frankfurt/ New York: Campus Verlag 2009, 34,90 EUR

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