vonlottmann 27.06.2009

taz Blogs


Willkommen auf der Blogplattform der taz-Community!

Mehr über diesen Blog

Nun bin ich doch noch einmal, fast am Ende der langen Ära Castorf, in die Volksbühne gegangen, dem legendären ‘letzten Sender des Ostens’. Hier wurde heute ein Stück des römischen Schriftstellers Seneca gegeben, ein wichtiger Mann zu seiner Zeit, der einflußreiche Ratgeber Kaiser Neros. In dem schönen Vierfarbfilm ‘Quo Vadis’ (1949) sieht man Seneca recht anschaulich auf den Regierungschef, gespielt von Peter Ustinov, einwirken. Diesen Film sollte man gesehen haben, bevor man sich den Schriften Senecas nähert, oder der Biographie Ustinovs (‘Lachen leicht gemacht’, Rowohlt 2006). Das Stück, das ich heute sah, heißt ‘Medea’, und Seneca hat es sich nicht ausgedacht, sondern ‘nur’ eine modernistische Fassung geschrieben, ein knappes halbes Jahrtausend nach Euripides. Vielleicht war es auch Aischilos, das kann ich nach so langer Zeit nicht mehr sagen.
Ich war jedenfalls hingerissen. Vom Stück, von Frank Castorf, der unbeirrt und mit sardonischem Lächeln seinen bekannten Stiefel runterspielt, was ich extrem ehrenwert finde. Also, daß einer sagt: so bin ich, so bleibe ich, auch wenn es noch so verbraucht ist, ich bin lieber ich selbst als etwas künstlich Bemühtes. Also, man kennt seine Art nun wirklich auswendig, Kinder spielen längst ‘Casdorf’ auf den Straßen und Hinterhöfen, und das ist gut so. Also Heidegger kam drin vor, und Nazis brachten jüdische Kinder um, und Johannes Heesters sang ein Lied, und Hitler & Heino etcetera. Aber wirklich neu und überragend war Margarita Breitkreiz, kurz MBK, die geniale junge Schauspielerin aus Omsk, eine ehemalige Rußlanddeutsche und jetzt natürlich Ganzdeutsche, die den alten Castorfansatz plötzlich und überraschenderweise beim Wort nahm, als hätte sie heute zum erstenmal davon gehört, und die gesamte Großveranstaltung (extra errichtete antike Freilichttribüne vor der Volksbühne) in Grund und Boden spielte, im Rausch, explodierend vor Spiellust, und alle mitriß. Michael Jackson, der Welt größter Performer, ist tot? Ist doch egal, wenn man Margarita Breitkreiz sieht, deren einziger Nachteil ihr Name ist (mit DEM Namen, voll ausgeschrieben, kann sie Jackson natürlich nicht nachfolgen). Man muß sich dabei vergewärtigen, daß sie nicht einmal die Medea selbst spielte, diese kräftigste aller Theaterfiguren seit 2500 Jahren, sondern nur eine ‘Nebenrolle’, nämlich Medea’s Schatten. Aber kein Zuschauer hatte noch Augen für die eigentliche Medea, der es auch nichts mehr half, daß sie andauernd und immer grausamer ihre Kinder tötete. Alle wollten nur noch MBK’s Kapriolen sehen, diesen Schlingensief’schen Überschwang, mit dem sie jede Emotion transportierte, die sie nur wollte. Manche mußten ständig lachen, einige weinen.
Michael Jackson, wie gesagt, war ein Kasperl dagegen. Womit wir beim Thema von gestern wären; alle fragen mich, warum der angekündigte Nachruf auf den King of Pop nicht erschien. Nun, Ina Gümpe, einflußreiches Mitglied des Wächterrates, hat auf Pietät bestanden und Druck gemacht. Es sei nicht möglich, warnte Gümpe hintersinnig (wahrscheinlich warnte sie DEN FREUND), den toten Sänger Teil einer Rezeption werden zu lassen, die womöglich (auch) mit satirischen Elementen in Verbindung gebracht werde und so weiter. Ich habe natürlich gesagt, daß ich ausschließlich ernsthaft über den Todesfall berichten würde, aber es half nichts. Irgendwo hat man ja auch Angst, will nicht den Helden spielen, und in Absprache mit meiner Familie habe ich dann so entschieden. Sorry!

Anzeige

Wenn dir der Artikel gefallen hat, dann teile ihn über Facebook oder Twitter. Falls du was zu sagen hast, freuen wir uns über Kommentare

https://blogs.taz.de/m/

aktuell auf taz.de

kommentare