Der Bär flattert in nordöstlicher Richtung.
Und so geht’s weiter mit dem Comic-Roman Lucy’s Lustbuch: Erst mal wieder Alfred von Meysenbug, uns allen ja schon bekannt aus den vorangegangenen Erzählungen, der Mitarbeiter und Gefolgsmann von Günter Amendt, auch Zeichner von ›Sexfront‹, damals in Frankfurt ein scharfer Tunichtgut, politisch und sexual-politisch. 1968 war von ihm im Heinrich Heine Verlag ›Super-Mädchen. Das Ende der Verkäuferin Jolly Boom‹ erschienen. Als Modell für Jolly diente ihm Carla Aulaulu, eine von Rosa von Praunheims Musen, die ganze Clique traf sich oft in der Römerstadt bei einer Künstlermutter. Alfred bot mir für März einen neuen Comic an, er wollte viel Geld damit verdienen, beschrieb das Projekt so: »Das Mädchen Lucy wird zum ›Bravo‹-Girl des Jahres gewählt, das Ganze ist eine Polemik gegen die ›Bravo‹-Generation und den Konsumismus.« Fand ich gut. ›Lucy’s Lustbuch‹ sollte der Titel heißen. Meysenbug hing bei seinen Figuren dem Prinzip der Wirklichkeitsdopplung an. Das mußte so sein, weil er nicht frei zeichnen konnte, er brauchte genaue Vorlagen. Es war deshalb entsprechend kompliziert: Zunächst fertigte er ein Storyboard jeder Szene an, also eine Skizze, dafür mußten seine Freunde und Freundinnen posieren. Die Szene wurde danach fotografiert, und er begann dann erst, das Foto zum Comic umzuzeichnen. Die Hauptdarstellerin des neuen Comics hieß Lucy, gehörte zum Kreis der Frankfurter Boheme-Mädchen, die Pornographie als Befreiung propagierten, wozu auch Diddy Wah Diddy, also Fatima Igrahim, zählte.
Meysenbug bekam seinen Vertrag, zehntausend Mark Vorauszahlung, davon dreitausend sofort, und fing an zu malen. Es zog sich. Kumetat, der das Buch herstellen sollte, fragte immer häufiger nach dem Fortschritt der Geschichte, wir hatten es zum Herbst 1971 angezeigt. Endlich rückte der Künstler mit den ersten Blättern seiner ›Bravo‹-Story heraus, ganzseitige Bilder, sehr pastellig. Er hatte lange altmeisterlich gemalt, zu lange für dieses Resultat. Die Geschichte ging ganzseitig los mit einer Lucy, die ihre Möse mit zwei Fingern spreizt. Nächste Seite — Lucy nackt —: »Eines Tages fragte Lucy ihre Mutter: ›Mutti, bin ich eigentlich hübsch?‹« Auf Seite drei siehst du die Mutter: »Nein, mein Kind. Du bist nicht hübsch, du bist sinnlich.« Darauf das große lüsterne Lucy-Gesicht. Dann sie mit ihrer Freundin Dora in einer lesbischen Szene. Dora gab es natürlich auch in der Realität. Alle diese Figuren lebten in Frankfurt. Auf den nächsten Seiten lieben sich Dora und Lucy, hinter ihnen auf dem Fernsehschirm Mick Jagger, und während Mick singt, haben die beiden Mädchen einen Orgasmus. Lucy schickt ihr Foto an die ›Bravo‹-Redaktion, und damit erst mal Schluß der Vorstellung. Etwas dünn. Nach zwei Monaten wieder ein paar Tableaus, elf an der Zahl. Nach Mick Jagger — Meysenbug brauchte nicht nur für Lucy und Dora wirkliche Personen als Modell — kam in grünem Jackett und Pop-Krawatte unverkennbar Dieter Thomas Heck über die ganze Seite: »Und nun, meine Damen und Herren, das Girl des Jahres: ›Bravo‹-Girl ’71 — Lucy!!« Sie wird zum ›Bravo‹-Girl gewählt, auf dem Flugplatz trifft Lucy ›Bravo‹-Boy Dieter. Danach turnen die beiden auf acht Seiten im Bett, vögeln auf großen, liebevoll gemalten Fick- und Schwanzbildern, nicht wirklich obszön, weil pastellig. Bei Seite sechsundzwanzig hatte Meysenbug sein Pulver verschossen. »Das soll alles sein«, fragte ich ihn, »diese sechsundzwanzig Seiten? Bei aller Liebe zur Kunst, da können wir kein Buch draus machen, das ist ja noch nicht mal ein Heft.« »Was soll ich jetzt noch erfinden? Das ist die Geschichte.« »Wir haben hundert Seiten vereinbart. Du mußt es weiterstricken, Mensch! Wir brauchen mindestens hundert Seiten! Oder meinetwegen neunzig oder achtzig, wenn man auf bretterdickem Papier druckt, wenn wir das Buch verkaufen wollen für dreißig Mark. So ist es ja nun nicht mehr, daß wir wegen eines Schwanzes und einer Möse dreißig Seiten für dreißig Mark verkaufen können. Das hauen mir die Händler um die Ohren.« »Was soll ich denn noch machen? Mehr fällt mir nicht ein.« »Dann ist der Titel gestorben.«
Meysenbug wollte sich die Sache noch mal überlegen. Das hätte er besser nicht getan, denn bald darauf überraschte er mich mit der wunderbaren Idee, daß Lucy und ihre Freundin Lili — ein anderes Frankfurter Blondie — als ›Bravo‹-Girls zum Bundespresseball eingeladen werden. Ich dachte mir nichts weiter dabei: »Meinetwegen.« Es vergingen sechs Wochen, da kommt Winfried Kumetat zu mir ins Zimmer. Er ist zwei Meter groß, mußt du wissen, sein Kinn, er hat sowieso ein Pferdegesicht, hing ihm noch fünf Zentimeter länger herunter als sonst: »Paß auf, ich zeige dir jetzt mal was. Meysenbug war eben bei mir, hat den Anschluß gebracht. Damit kriegen wir Ärger, das sage ich dir.« Hatte sich doch der Arsch Fotos vom Presseball zusammengesucht, dazu solche von Popstars. Sein erstes Tableau hieß dann auch: ›Skandal beim Presseball‹. Im Vordergrund Lucy in Strapsen, dahinter Lili nackt auf dem Sofa, neben ihr singt Roy Black, und am Buffet stehen Willy Brandt und Walter Scheel, und zwar unverkennbar. Nächstes Bild: Franz Josef Strauß mit der Sprechblase »Gibt’s hier wos z’ficken?«, hinter ihm Max Greger und Marianne Koch, neben ihm Rainer Barzel. »Ouuuuh«, stöhnte Kumetat, »das können wir nicht machen.« »Aber jetzt hat er endlich mal geliefert. Wie geht es weiter?« Zwei Bilder mit Lili, Lucy und Roy Black, eine kleine Schaunummer: Lucy und Lili nackt auf dem Buffet und wieder Franz Josef Strauß lüstern hinter dem Hintern von Lucy. Das nächste: »Geile Journalisten starren auf Lucys wippenden Busen.« Der geile Journalist ist Thilo Koch. Jetzt räkelt sich Lucy zwischen den Happen, Werner Höfer und Willy Brandt sehen ihr interessiert zu. War ja ganz intuitiv, denn immerhin zeitlich lange bevor Willy Brandts Guillaume-Weiberaffären bekannt wurden. Anschließend eine laszive Szene, in der Lucy sich auf dem Tisch räkelt und Roy Black fragt: »Gehn wir?!!« Er begleitet sie zum Hotelzimmer: »Darf ich mit hereinkommen?« »Ja! Komm rein, komm tief rein!«
Wir kratzten uns am Kopf. »Mit Roy Black, das mag ja noch hingehen«, meinte ich, Meysenbug hatte eine acht Seiten lange Vögelszene mit Lucy und ihm gemalt, »aber mit den Politikern kriegen wir bestimmt Ärger!« Kumetat, immer irgendwie praktisch und selbst ja geübter Porträtdilettant – er hatte in seiner Jugendzeit in Afrika Hunderte von Buschmännern für ein ethnologisches Museum gezeichnet –, sagte: »Ich fummele die so um, daß sie nicht mehr zu erkennen sind, dem Strauß und dem Barzel male ich einfach einen Schnurrbart.« Diese Bärte gelangen ihm nicht so recht, weil Alfred sich gegen die Entstellung seiner Modelle sträubte. Immerhin waren wir schon bei Seite dreiundvierzig. Jetzt zog Meysenbug noch Fatima Igrahim hinzu, neue Fotos wurden angefertigt von dem Trio Lucy, Lili und Diddy. Eine weitere konsumkritische Geschichte folgte: Die drei im Kaufhaus, dort stürzen sie sich auf die Verkäufer, dargestellt von Peter Alexander und Heino. Denen werden die Hosen runtergezogen, es wird gevögelt, geblasen und geleckt nach allen Regeln der Kunst. Der Künstler hatte jedes Maß verloren, denn in einer Verkäuferapotheose mußten nun auch noch Rudi Carrell, Hans-Joachim Kulenkampff, Freddy Quinn, Günter Netzer und Horst Buchholz dran glauben. Es endete auf Seite zweiundsechzig in einer Massenvögelei.
Immer noch fehlten Seiten. Als Film-Ikone kam schließlich Steve McQueen dazu, der es mit Lucy beim Rennen in Indianapolis auf der Rennwagenhaube treibt, und als krönender Abschluß vögelt Lili mit King Elvis. Auf Seite neunundsiebzig sitzt Lucy endlich als Miss Universum auf einer Weltkugel. Die Produktion des Buches dauerte ein Jahr. Bis das Kunstwerk endlich komplett bei uns in der Herstellung lag, hatte Meysenbug im Schweiße seines Angesichts mit dem Storchschnabel gearbeitet. Ich weiß, wie anstrengend so was ist, habe ja als Junge oft genug zugesehen, wie Siegfried die Entwürfe für seine Ölbilder herstellte. Der Vorschuß gezahlt, die Vorlagen im Haus, so entwickeln sich Sünden zu kleinen Dramen, weil man während einer Produktion nicht mal zwischendurch fragt: Wo soll das hinführen, kommen wir damit nicht in Teufels Küche?
(BK /JS)
In letzter Zeit sind die FAQs: »Du hast doch bei Olympia Press Ende der Sechziger die ersten pornographischen Bücher und Filme für den freien Markt gemacht. Wie fing das an? Warum, wieso, weshalb?« Diese Fragen werde ich in loser Folge beantworten, unter dem geflügelten Titel: Making of Pornography. (JS)