Der Bär flattert in nördwestlicher Richtung.
Und so geht’s weiter: Noch gravierender aber als auf Heinrich Böll war die Wirkung des ›Stern‹ auf den Richter für Handelssachen am Landgericht Frankfurt. Es gab einen Rahmenvertrag mit Maurice Girodias, in dem vereinbart war, daß Tantiemen an ihn gezahlt werden zur Verteilung an die amerikanischen Autoren – eigentlich normal. Nun war wegen des großen Aufsehens, das die Olympia Press Deutschland erregte, unsere Erfolgsgeschichte auch an die Ohren dieser Schriftsteller gedrungen, denen Girodias zwar Tantiemen für die Originalausgabe in den USA gezahlt hatte, aber nicht für die deutsche Lizenz. Die Autoren veranstalteten deshalb Demonstrationen vor dem Büro der Olympia Press New York, um auf sich aufmerksam zu machen: ›Auch Pornoautoren müssen leben!‹, stand auf ihren Transparenten. Es häuften sich die Briefe des Ehepaars Abrams an mich, das waren die Verfasser des Buches ›Barbara‹, ihr Pseudonym war Frank Newman, und weiterer zwanzig Autoren. Girodias schrie zusätzlich aus New York, London, Mailand, Istanbul oder von den Bahamas nach höheren Abschlagszahlungen auf jene Tantiemen, die er den Autoren vorenthielt, und würzte seine Fernschreiben mit herzzerreißenden Sprüchen wie: »authors cry!«
Unser Umsatz war in den ersten Monaten steil nach oben gegangen, danach hatte er sich eingependelt, es wurden nicht mehr zwanzigtausend Exemplare pro Titel verkauft, also bei zwei Titeln monatlich vierzigtausend wie anfangs, sondern nur noch die Hälfte. Das bewies ich ihm bei seinen zahlreichen Besuchen in Frankfurt anhand der Absatzstatistiken unserer Auslieferung: »Maurice, wir müssen die Vorauszahlungen an dich senken, sonst können wir den Laden dichtmachen.« Aber er schrie weiter wie ein Kuckuck, mußte er auch bei seinem aufwendigen Leben. Der Zeitpunkt war also gekommen, diesen Girodias-Vertrag zu kündigen. Das tat ich, mein Anwalt Johannes Riemann schrieb ihm, daß die Zahlungen an ihn zurückgehalten würden wegen der Forderungen der amerikanischen Autoren. Riemann versicherte mir, daß wir uns auf der sicheren Seite befänden. Als Antwort erhielt ich einen Brief des Anwalts Dr. Fritze aus Frankfurt: »Sie schulden meinem Mandanten fünfhundertfünfzigtausend DM, weil Sie auf falscher Basis abgerechnet haben. Laut Vertrag sind Sie verpflichtet, für die Benutzung des Olympia-Press-Logos sieben Komma fünf Prozent vom Verkaufspreis zu zahlen, Sie haben jedoch bisher aufgrund des Nettoverkaufspreises abgerechnet, mithin schulden Sie meinem Mandanten fünfhundertfünfzigtausend DM. Für den Zahlungseingang dieses Betrages auf einem meiner unten angegebenen Konten habe ich mir den was-weiß-ich-wann notiert.«
Fünfhundertfünfzigtausend! Das löste Gelächter aus bei Rechtsanwalt Riemann, und ich lachte erleichtert mit. Ich durfte ja lachen als juristischer Depp. Dann lasen wir im Vertrag nach, und das Gelächter wurde etwas dünner, tatsächlich stand in dem Schriftstück, das Riemann entworfen hatte: ›retail price‹, also Ladenverkaufspreis, und nicht ›whole sale price‹, also Großhandelspreis. Vereinbart war tatsächlich von Anfang an eine Abrechnung vom Nettoverkaufspreis, und Girodias hatte klaglos ein Jahr lang vor Abschluß des Vertrages nach dieser Vereinbarung sein Geld kassiert. Jetzt hatte Dr. Fritze diesen schwerwiegenden Fehler im Wortlaut entdeckt, worauf Riemann auf zwanzig Seiten dünnen Durchschlagpapiers schlüssig argumentierte: »Es handelt sich um einen Schreibfehler, falsa demonstratio, wie bereits das Reichsgericht Leipzig in seiner Entscheidung in Sachen Haifischöl/Walfischöl ausgeführt hat. Unstreitig zwischen den Vertragspartnern war seit Beginn der Zusammenarbeit eine Logo-Tantieme von sieben Komma fünf Prozent vom Nettoverkaufspreis …« und so weiter. Darauf antwortete Fritze mit einer dürren halben Seite, daß unsere Ausführungen neben der Sache lägen, und wenn die fünfhunderfünfzigtausend nicht umgehend gezahlt würden, werde er gerichtliche Hilfe in Anspruch nehmen.
Riemann pfiff immer noch locker durch seine Zahnlücke, dann solle er doch klagen, das dauere vier Jahre, weil der Vertrag nach Schweizer Recht geschlossen sei und eine Schiedsverhandlung der Handelskammer von Genf vorsehe. Er pfiff nicht mehr, als im Mai nicht etwa ein neuer Brief von Dr. Fritze oder eine Klageschrift kam, sondern ein Arrest- und Pfändungsbeschluß, in dem mein Schloßgrundstück in Florstadt arretiert wurde, das ich gerade versuchte, mit Hilfe irgendwelcher Immobiliengangster zu verhökern, um liquide zu bleiben. Als Zwischenfinanzierung war eine Grundschuld von zweihunderttausend Mark mit der Bank für Gemeinwirtschaft verhandelt. Das Geld war praktisch schon auf unserem Konto und hätte gerade gereicht, um unbeschwert weitermachen zu können. Jetzt war Ebbe, und die Lieferanten fingen an zu randalieren, die Drucker, die Binder. Meine Kündigung in Sachen Olympia Press und der Pfändungsbeschluß auf das Grundstück waren ruchbar geworden. Daß ein solcher Beschluß nicht leichtfertig erlassen wird, wußten meine Gläubiger auch, du mußt nämlich als Antragsteller glaubhaft machen, daß der Schuldner dabei ist, sein Vermögen zu deinem Nachteil zu verjubeln, daß eben kurzfristig Zahlungsunfähigkeit bevorsteht. So was ist gewöhnlich erst zu beweisen, wenn es schon zu spät ist, dann aber nützt es dir nichts mehr. In meinem Falle war es ganz einfach: Nach strenger Exegese des ›Stern‹ vom 18. April 1971 machte Dr. Fritze glaubhaft, daß ich dabei sei, mein Vermögen ins Ausland zu verbringen, Beweis: das Haus in der Toscana. Zum aufwendigen Lebensstil reichten Jaguar und Schloß etc. pp., zur Zahlungsunfähigkeit fünfhundertfünfzigtausend Mark Schulden bei Maurice Girodias. Als Beweismittel lag diesem Arrestantrag der komplette ›Stern‹ bei. Der Richter sah den Fall nach intensiver Lektüre der Abenteuer eines Pornokönigs genauso wie Dr. Fritze. Nicht positiv. Genau gesagt: große Grütze, innerhalb von zwei Wochen war alles böse am Wackeln. Die Krisenkonferenzen mit Beitlich, Kumetat und Riemann nahmen kein Ende. Das Verrückte dabei ist, ich hätte ja eigentlich sagen müssen: »Herr Anwalt! Genosse hin, Linkenanwalt her, du hast einen schlimmen Fehler gemacht! Jetzt ist deine Versicherung gefragt. Tut mir leid, wenn deine Prämien dadurch höher werden, aber es ist dein Verschulden!« Er war doch extra wegen des Vertragsabschlusses mit nach Genf gefahren. Wozu zahlt man seinem Anwalt ein Zimmer im ›Beau Rivage‹? Du brauchst mir jetzt nicht vorzuwerfen, daß ich selbst der Depp war, weil ich das übersehen habe. Mein Gott, wie sie es an sich haben, diese Einbahnungsfehler, du liest drüber hinweg, auch wenn du einen solchen Entwurf zwanzigmal durchgelesen hast. Aber wenn dein Anwalt dabei ist und es nicht bemerkt, ist der Schwarze Peter doch bei ihm. Es hätte vielleicht sogar gelangt, nur einmal das Wort ›Anwaltshaftung‹ auszusprechen, das bringt die lahmsten Anwaltskrücken auf Trab, ich habe so was später einmal erlebt mit meinem Dr. Keller. Aber natürlich habe ich es damals nicht gesagt, aus Anstand, wie man solche Dämlichkeit selbstbetrügerisch zu nennen pflegt.
Schließlich wurde als Weisheit letzter Schluß eine Gläubigerversammlung einberufen. Das sind die Geschichten, die ich in ›Siegfried‹ nicht erzählen konnte, es lief ja noch, und bei aller Liebe zur Offenheit, ich wollte den Verlag schließlich weitermachen. Da nützen dir ästhetische Postulate vom ständigen Seitenwechsel, von der Auflösung des Subjekts, von den schnellen Schnitten und dem Sprung von einem Bild oder System ins andere gar nichts. So was hätte ich den Gläubigervertretern und ihren Anwälten nicht erzählen dürfen. Für den Juni wurde eine Versammlung einberufen, alle Gläubiger bekamen ein Exposé, in dem die juristischen Auseinandersetzungen mit Girodias erläutert waren, die Liquiditätsenge, die aus der geplatzten Beleihung des Grundstücks resultierte. Die Gläubiger wurden um verlängerte Zahlungsfristen gebeten, so etwas nennt man ein Moratorium, eine außergerichtliche Vereinbarung über Zahlungsaufschub. Sie kamen alle angefahren: Herr Klemme von der Buchbinderei Klemme & Bleimund in Bielefeld, Wagners aus Nördlingen, Herr Hucker im Auftrage der Darmstädter Druckerei Mai & Co., Christoph Kreickenbaum von der Peter Presse Darmstadt, alle Drucker und Binder, etwa fünfzig Leute. Wir hatten unsere Unterlagen schön vorbereitet, Kumetat und ich, die Exposés verhießen glänzende Zeiten. Die erste halbe Stunde war etwas unangenehm, jeder zweite hielt einen ›Stern‹ hoch, aber dann waren doch alle einverstanden, eine gewisse Zeit stillzuhalten. Ein Gläubigerbeirat wurde gewählt, er bestand aus einem Vorsitzenden, dem Diplom-Volkswirt Hucker, seinem Stellvertreter Bosse von einer Druckerei in Seligenstadt, die gerade ›Lucys Lustbuch‹ von Alfred Demarc hergestellt hatte.
(BK /JS)
In letzter Zeit sind die FAQs: »Du hast doch bei Olympia Press Ende der Sechziger die ersten pornographischen Bücher und Filme für den freien Markt gemacht. Wie fing das an? Warum, wieso, weshalb?« Diese Fragen werde ich in loser Folge beantworten, unter dem geflügelten Titel: Making of Pornography. (JS)