Dem in seiner Existenz gefährdeten Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften (IFK) in Wien droht momentan eine von ministerieller Seite verordnete Zwangsehe mit der Universität Graz. Die Aussicht unter Kuratel der Weltsteirertums gestellt zu werden, scheint sich bereits wie ein Schleier über die Köpfe zu legen. Denn die jüngste Tagung des noch unabhängigen Instituts (in Kooperation mit der Wienbibliothek im Rathaus) machte sich intellektueller Trägheit schuldig.
Überzeugende inszenierte Vorträge zum Thema »Vermessung der urbanen Gesellschaft« seit dem 18. Jahrhundert gab es in der letzten Woche beinahe keine zu hören. Kühne Thesen zur Stadtentwicklung, aktuelle Bezüge zur Gegenwart der Donaumetropole fehlten fast vollständig. In den Kulturwissenschaften scheint momentan niemand für Wien den Finger krumm machen zu wollen.
Daß die Hausbeschriftungen Mitte des 18. Jahrhunderts eingeführt wurden, um einerseits die Konskription, andererseits die Steuererhebung sowie die Durchsetzung der Hofsquartierpflicht zu erleichtern, das hätten wir uns auch ohne höhere Forschungsweihen denken können. Der Historiker Anton TANTNER wusste keine Vergleichszahlen für den Aufschwung der »Aufschreibtechnik« aus anderen Großstädten zu nennen. In den 1750er-Jahren, berichtete er, gab es die ersten nachweisbaren Diskussionen darüber, wie Bettler (»schlechtes Gesindel«) aus den Häusern zu vertrieben sei.
Türnummern in den Häusern – ein Wiener Unicum – gehen auf sogenannte Familiennummern zurück; und das erste öffentliche Adressenverzeichnis der Stadt erstellte ein Postler. Schön & gut … dass aber solche Errungenschaften des aufgeklärten Absolutismus und der bürgerlichen Verwaltung heute noch einmal gefeiert werden, ohne tiefer reichende soziologische Fragen zu stellen, geht auf den allgemeinen Fehlschluss dieser Tagung zurück, die historischen »Aufschreibtechniken« seien für die industrielle Moderne irgendwie unabdingbar gewesen. In Japan gibt es bis heute keine Hausnummern im Wohnbereich, ohne dass dort von einem zivilisatorischen Rückstand gegenüber den Forschern in Reichsratsstraße 17 gesprochen werden könnte.
An internationalen Vergleichen fehlte es auch Andreas WEIGLS Ausführungen zur Entwicklung kommunaler Statistiken. Bis in 19. Jahrhundert (und dann wieder im Dritten Reich) war die Veröffentlichung von Zahlen verboten. Seither gelte nach WEIGL die schöne Formel: »Wo immer kommunales Geld fließt, da gibt es eine Statistik«.
Es folgte Wolfgang MADERTHANER, Hausmeister der sozialdemokratischen Archive, um von nicht kartographierten Revolten im Ottakringer Stadtviertel Neulerchenfeld zu berichten. Ob nun Teuerungsunruhe 1911 oder Proletarieraufstand 1927: MADERTHANERS Ausführungen klangen, als er wäre ein Rockabilly-Fan in den Schwarzen Block geraten. Überall sammelten sich bei ihm »Kulturen des Widerständigen«, »Sozialrevolutionäre«, die »Outlaws« der Wiener Platten errichteten ihr »autonomes Normen- und Regelsystem«.
MADERTHANER paraphrasierte vergessene Sozialrevolten; seine Parteinahme für »Lebensfreude in größter Not« wirkte freilich, als müsste die sozialtechnologische Gewalt der klassischen Arbeiterbewegung wenigstens im Archiv wieder gut gemacht werden. Die meist jugendlichen Protestierer, so seine These, seinen nicht zufällig in Form von Büchern und Akten gegen »Schriftlichkeit« vorgegangen, sondern, nun ja, um die »kalte Logik der Moderne« zu attackieren.
Natürlich bestand z. B. der Zweck der Stadterweiterungen und die Einteilung in Bezirke darin, jede Bezugnahme auf lokale Eigentümlichkeiten zu unterbinden und dadurch das Eindringen kommunaler Autorität in sämtliche Bereiche zu vereinfachen. Doch um solche Jahrhundertprozesse seriös darzustellen, braucht es mehr als ein paar Schlagworte, Anekdoten und Powerpoint-Präsentationen.
Margarethe SZELESS bot einen Rückblick auf allseits bekannte Sozialreportagen des Fin-de-Siècle. Martina NUSSBAUMER, Kuratorin des Wienmuseums, referierte den Inhalt des Wiener Baedecker von 1868. Der Historiker Siegfried MATTL gab völlig disziplinlos einen Fachtext der Werbewirtschaft aus den 1920er-Jahren zur Einführung des Direct Marketing wieder – jeder der Vortragenden ohne einen Funken aus seinem Thema zu schlagen.
Einziger Lichtblick: die pensionierte Stadtforscherin BANIK-SCHWEITZER. Diese Mitarbeiterin am Historischen Atlas der Stadt Wien konnte am Beispiel des Häuserkatasters zeigen, wie sich Baufiguren von Plätzen im Lauf der Zeit verändert haben, oder anders: wann und wo das Kartographieren als Methode der Liste überlegen ist. BANIK-SCHWEITZER machte mit großer Leidenschaftlichkeit deutlich, warum die räumliche Darstellung für Transformationsmaßnahmen der Stadt unerlässlich ist.
Dabei legte sich die Dame mächtig gegen die Planungsideologie des Funktionalismus in Zeug, plädierte gewitzt für die Einbeziehung frühhistoristischer Bauwerke in die kommunalen Schutzzonen und erhoffte sich Zukunftsimpluse für die Stadtplanung vor allem aus Spanien (Valencia vor Barcelona).
Als Höhepunkt der Tagung waren mehrere Beiträge zu dem ab 1859 erschien »Lehmann’s Allgemeiner Wohnungs-Anzeiger« gedacht. Dieses einmalige Auskunftsorgan über die Stadt verzeichnete bis zum Jahr 1942 nicht nur Daten über Haushaltsvorstände, sondern auch über Behörden, Betriebe und Straßen. Eine Netzversion des legendären Adressenverzeichnisses ist seit letzter Woche online benutzbar (www.wienbibliothek.at) – freilich nicht in einer voll digitalisierten Version, sondern als monumentales Klick-& Scroll-Bergwerk.
Der Stadtbiblothekar Alfred PFOSER nannte »den Lehmann« einen »Spiegel des industriellen Fleißes in einer Großstadt« und ein zunächst vom »liberalen Bürgertum getragenes Projekt gegen den Feudalismus«. Schließlich wurde darin auch Clemens Wenceslaus Lothar Graf Fürst von Metternich-Winneburg zu Beilstein nur als eine am Rennweg lebende Person verzeichnet.
Der Inklusion und der Gleichmacherei der Bevölkerung im 19. Jahrhundert stand dann die Exklusion der jüdischen Mitbürger während der Zeit des Nationalsozialismus gegenüber. Auch das Grauen hält »Lehmann’s Anzeiger« Schwarz auf Weiss gedruckt fest: den Wechsel von Hausbesitzern und Wohnungsparteien, die politisch motivierten Straßenumbenennungen, die Vertreibung der Wiener Intelligenz – Namen und Fakten, die die Lokalhistoriker wohl noch über Generationen beschäftigen werden.
Sándor BÉKÉSI wusste zum Anzeiger-Thema nur nachzutragen, dass sich Wissensformen und Machttechniken nun mal gegenseitig bedingen, dass sich im Adressenkonvolut auch die Boulevardisierung der Wiener Gürtelstraße wiederspiegele, dass sich überhaupt alle Phänomene der Stadtentwicklung (Citybildung, Gewerbeaufschwung, …) an den Daten »ablesen lassen«. Darüber hinaus – was wenig ist –, nichts.
Die Mehrzahl der Referate hätte gewiss in eines der 23 Wiener Bezirksmuseen gepasst und wäre vom dortigen Publikum mit freundlichem Applaus bedacht worden. Für einen aufregenden Diskurs über die selbsternannte Welthauptstadt der Kultur, und wohl auch für »Mapping Styria«, ließ die Tagung wenig hoffen.
© Wolfgang Koch 2011