Begräbnis des Mapuche-Aktivisten Jaime Mendoza (Bild: dpa)
Wie leicht man in diverse Fallen tappt, wenn man versucht, den Mapuche–Konflikt in Chile in ein paar Absätzen zu beschreiben, zeigt ein jüngst im „Freitag“ erschienener Bericht – an dem manches stimmt und manches leider gar nicht. Richtig ist, dass die Landbesetzungen in der Araucanía, dem historischen Haupt-Siedlungsgebiet der Mapuche, in diesem Jahr deutlich zugenommen haben. Allerdings schwelt der Konflikt schon seit Jahren, und seit Jahren kommt es auch immer wieder zu Brandanschlägen oder Baumfällungen auf Ländereien von Forstunternehmen oder privatem Großgrundbesitz. Nicht erst die Regierung von Michelle Bachelet hat damit begonnen, in der betroffenen Region polizeilich (das heißt in Chile: quasi-militärisch) aufzurüsten. Der am 12. August durch einen Schuss in den Rücken getötete Jaime Mendoza ist bereits das dritte Opfer von Polizeigewalt seit dem Jahr 2002. (Hier und hier ein anschaulicher Abriss der Auseinandersetzungen.)
Andererseits ist auch die Gewalt der Mapuche-Aktivisten real, und nur mit Wunschdenken lässt es sich erklären, dass der Autor des Artikels nahelegt, der Angriff auf einen voll besetzten Überlandbus – also auf völlig unbeteiligte Menschen – könne „fingiert“ sein. Eine Interpretation, von der in Chile nie zu hören war, zumal die radikalste Mapuche-Fraktion, die Coordinadora Arauco-Malleco (CAM), sich den Anschlag eindeutig zugeschrieben hat. Falsch wiederum ist, dass der Sonderbeauftragte der Regierung, José Antonio Viera-Gallo, vor „Steinwürfen“ fliehen musste – da waren die „gewaltbereiten Wilden“ eben doch nicht so gewalttätig, wie der Text unterstellt.
A propos „gewalttätige und faule Eingeborene“: Dieses rassistische Klischee wurzelt tief in der chilenischen Gesellschaft – aber dass es die Massenmedien heute noch ungehemmt verbreiteten, ist nicht richtig. Richtig ist, dass etwa der „Mercurio“ unlängst einen Aufsatz des Historikers Sergio Villalobos druckte, der – auf der Grundlage von Informationen, die zu prüfen wären – behauptet, viele Mapuche hätten ihr Land gegen Ende des 19. Jahrhunderts ohne Not an chilenische Siedler verkauft. Außerdem handele es sich bei den Mapuche größtenteils um Mestizen, denn die „Frontera“, die Grenze, an der die Ureinwohner den spanischen Eroberern Einhalt geboten hatten, sei viel durchlässiger gewesen als landläufig angenommen. Villalobos spart dann auch nicht mit Ideologie: Ja, es habe punktuell gewalttätige Landnahmen gegeben, aber die Mapuche/Mestizen hätten schließlich von ihrer Eingliederung in die chilenische Marktwirtschaft nur profitiert. Glaube das, wer will.
Ganz schwierig wird es bei der Frage, wie der Landkonflikt zu lösen sei – bzw. ob es sich überhaupt nur um einen Konflikt um einzelne Flächen handelt. Fragt man Aucán Huilcamán, den Vorsitzenden des von ihm selbst gegründeten „Consejo de Todas las Tierras“, lautet die Antwort seit längerem: autogobierno. Erst wenn sich das Mapuche-Volk selbst regiere – und zwar vom Bío-Bío-Fluss südwärts -, sei die historische Schuld der Chilenen beglichen. Um ein autogobierno finanziell auszustatten, könne der chilenische Staat ja Reparationszahlungen für anderthalb Jahrhunderte Besetzung leisten.
Solche Forderungen sind nicht nur fundamentalistisch, weil sie bewusst ignorieren, dass die meisten Mapuche heute in Santiago leben, während sie selbst in der Araucanía zahlenmäßig in der Minderheit sein dürften. Sie definieren gleichzeitig alle „Chilenen“ – zu denen Huilcamán und andere radikale Mapuche-Aktivisten sich niemals zählen würden – im Süden des Landes als Usurpatoren, auch wenn die meisten selbstverständlich weder Ländereien noch Kiefernplantagen besitzen, sondern ganz bescheidene Menschen mit mestizischer Identität sind, die sich auch nicht ausgesucht haben, in welchem Landstrich sie in vierter oder fünfter Generation geboren wurden.
Die Verachtung, mit der manche radikalen Mapuche ihre mestizischen Mitbürger adressieren, ist die hässliche Spiegelung des Mehrheits-Rassismus. Dabei ist alles andere als klar, wer überhaupt Mapuche ist. Nach dem letzten Zensus, bei dem die ethnische Selbstzuordnung abgefragt wurde, leben nur gut 600.000 Mapuche in Chile. Möglicherweise sind es auch mehr – aber welche Kriterien legt man hier an? Die Sprache, das Mapudungun, wird von den urbanen Mapuche kaum noch beherrscht. Praktizierte Kultur? Selbst die Mapuche der ländlichen comunidades, also der Reduktionen, in die man sie verbannt hat, pflegen heute einen weitgehend „westlichen“ Lebensstil. Und wer wollte umgekehrt einem abstammungsmäßig „reinen“ Mapuche verbieten, sich als Chilene zu fühlen und ein modernes städtisches Leben zu führen, anstatt sich dem – hypothetischen – Diktat einer indigenen Identität zu unterwerfen?
Auf welchen Insitutionen und Verfahrensweisen ein autogobierno überhaupt beruhen sollte, diese Frage wirft etwa José Mariman in einem nicht ganz neuen, aber völlig aktuellen Essay auf: Seiner Überzeugung nach gibt es gar kein traditionelles Modell einer organisierten Mapuche-Gesellschaft, weil diese lediglich aus Familienverbänden bestand, die nur in Ausnahmefällen Zweckbündnisse eingingen. Die comunidades, wie sie in Chile heute existieren, sind dagegen das Ergebnis der Einverleibung der Auraucanía durch den chilenischen Staat. Dennoch ist das idyllische Bild einer Mapuche-Gemeinschaft, die alle Fragen kommunitär löst, weit verbreitet, genauso wie die Projektion vom naturliebenden Indigenen, die gerade bei jungen, urbanen Nicht-Mapuche große Popularität genießt – laut Mariman, Politikwissenschaftler und selbst Mapuche, ein völlig irregeleiteter Mythos vom „edlen Wilden“.
All das ändert freilich nichts am Grundproblem: dass die Mapuche in der Araucanía viel zu wenig und dabei schlechtes Land besitzen, und dass sie, genau wie die Mapuche in den Städten, Opfer von Rassismus sind. Die Regierungen der Concertación haben einiges getan – Land verteilt, Förderprogramme aufgelegt -, aber das reicht nicht. Immerhin hat der chilenische Kongress Anfang 2008 die ILO-Konvention 169 über die Rechte indigener Völker ratifiziert, und seit diesem April läuft eine Verfassungsänderung durch die Mühlen des Parlaments, die den pueblos originarios ihren eigenen Status innerhalb einer „unteilbaren, multikulturellen chilenischen Nation“ zuerkennen soll. Aktivisten wie Huilcamán ist das natürlich ein Gräuel, für alle anderen vielleicht ein großer Schritt in die richtige Richtung.