„Ich heiße Marek Edelman. Ich war der stellvertretende Kommandant der jüdischen Kampforganisation, einer der Anführer des Aufstands im Warschauer Ghetto…Wir waren allein in unserem Kampf, dennoch gelang es der mächtigen Armee des Feindes nicht, diese schlecht bewaffneten 200 jungen Männer und Frauen zu bezwingen. In Warschau kämpften wir über mehrere Wochen, später im Wald und beim Warschauer Aufstand. Dennoch ist noch keiner Stadtguerilla auf der Welt ein Sieg gelungen, und den gegen sie kämpfenden Armeen ebenso wenig. Auch dieser Krieg kann keine Lösung bringen. Es wird vergebens Blut fließen und Menschen werden auf beiden Seiten sterben. Wir selbst haben mit dem Leben nie leichtsinnig gespielt. Wir haben nie unsere Soldaten in den sicheren Tod geschickt. Denn es gibt nur ein Leben für alle Ewigkeit. Das darf niemandem leichtfertig genommen werden. Es ist an der Zeit, dass das jeder versteht.“
Diesen Appell richtete Marek Edelman im August 2002 „an alle Führer der palästinensischen Militär-, Paramilitär- und Untergrundorganisationen…“
Für Edelman gibt es „fortschrittliche und reaktionäre Partisanen“. Es sind jedoch beides Partisanen, „denn sie führen nun mal eine Art Partisanenkampf“. Seine eigene Guerillaorganisation kämpfte 1942/43 „um das Leben (ihr eigenes und das der damals noch etwa 60.000 Juden im Warschauer Ghetto, deren Deportation bevorstand). „Doch die palästinensischen Partisanen kämpfen nicht um ihr Leben, sie kämpfen um einen Staat. Um die Art des Lebens. Ich verstehe, dass das eine wichtige Sache ist,“ sagt Edelman in einem Interview, „doch da muß man so kämpfen, dass dabei keine Menschen umkommen, denn es gibt keinen Grund dafür, dass Menschen umkommen.“
Seinen Interviewern, zumeist jungen Journalisten, unterstellt er im übrigen, dass sie sowieso „nichts davon verstehen“ – die Ghettos in Polen, die deutsche Judenvernichtung, den jüdischen Widerstand. „Eure Vorstellung vom Holocaust ist einerseits zu einfach und oberflächlich, andererseits zu pathetisch. Ihr werdet nie begreifen, warum die Menschen bereit waren, für drei Kilo Brot in den Tod zu gehen, oder dass ein junges Mädchen im Ghetto die schönste Zeit ihres Lebens durchlebte, weil sie dort vor ihrem Tod ihrer ersten Liebe begegnete.“
Auch der schließlich im Mai 1943 endgültig niedergeschlagene Aufstand motivierte die weiterhin in die Vernichtungslager transportierten Juden, sich zu wehren. Hinzu kam die etwa gleichzeitige deutsche Niederlage bei Stalingrad, die nahezu sämtliche Völker der Welt aufatmen ließ (am 19.November 1942 hatte dort die sowjetische Gegenoffensive begonnen). Den Deutschen andererseits, speziell den in Warschau zur Vernichtung des Ghettos eingesetzten, schwante nichts Gutes. Auch das half dem Widerstand. „Zum ersten Mal geriet der Mythos der unangreifbaren und allmächtigen Deutschen ins Wanken,“ so sagt es Edelman. Er meint: „dies war der Wendepunkt“.
Marek Edelman wurde 1943 Waise – mit 15. Er begann, für seinen Unterhalt selbst zu sorgen. Ein mit seiner Mutter befreundetes Bundisten-Ehepaar nimmt ihn auf. Der rätekommunistische jüdische „Bund“ blieb bis zuletzt (Edelman starb am 2. Oktober 2009 in Warschau) seine politische Heimat. Wiewohl seine Kampforganisation im Ghetto von der linken polnischen Untergrundarmee (wenn auch mäßig) unterstützt wurde, konnte er die Parteikommunisten, vor allem die russischen, nie leiden, noch weniger die Zionisten, deren Beitrag zum Widerstand gegen die Deutschen er geringschätzte – um so mehr, als deren „Kampfgeist“ später von israelischen Historikern besonders betont wurde.
In dem jüngst erschienenen Buch „Marek Edelman erzählt“ von Witold Beres und Krzysztof Burnetko, um das es hier geht, findet man eine kurze Geschichte des jüdischen Arbeiter-Bund, der 1897 in Wilna gegründet wurde und später Ableger in den USA hatte, wo noch heute einige Bundisten leben. Von den Bolschewiki und den Sozialdemokraten wurden sie in Ost- und Mitteleuropa gleichermaßen schändlich behandelt. Nur für kurze Zeit waren sie Mitglied in der sogenannten „Zweieinhalbten Sozialistischen Internationale“. Im Gegensatz zur „Streitkultur“ in den linken Parteien wurde im Bund laut Edelman „jeder schon von klein auf an geradezu dazu angespornt, die Führung des Bundes zu kritisieren.“ Die Anführer Hersch Wolf Erlich und Wiktor Alter ließen die Sowjets 1941 im Ural, wo sich damals die polnische Botschaft befand, verhaften und wenig später erschießen.
Edelman arbeitete seit 1939 als Bote im Berson-Baumann-Kinderspital. Anfang 1942, während die Vorbereitungen zur Judenvernichtung „auf Hochtouren laufen“, entsteht im Wilnaer Ghetto die erste jüdische Kampforganisation – die „Farajnigte Partizaner Organizacje“. Nach der ersten „Großen Aktion“, dem Abtransport von etwa 6000 Juden aus dem Warschauer Ghetto in die Vernichtungslager, am 22.Juli 1942, kommt es zu ersten Widerstandsversuchen. Nach mehreren Aktionen und blutigen Überfällen bleibt im Oktober 1942 nur ein „Restghetto“ übrig, in dem noch 20.000 illegale und 35.000 registrierte Juden leben, letztere sind in verschiedenen „Shops“ beschäftigt. In der Umgebung Warschaus gab es 19 „Chaluz-Farmen“, in denen sich Juden auf das Leben in den Kibbuzim in Palästina vorbereiteten, sie boten den Aufständischen im Ghetto zunächst Unterstützung, wurden jedoch Ende 1942 aufgelöst. Unterdes hatte sich die Kampforganisation (ZOB) für die noch im Ghetto Verbliebenen „zum wichtigsten Bezugspunkt“ entwickelt. Sie verwaltet das Ghetto, „baut die ersten Bunker, führt Expropriationen durch“ – bei den „Kriegsemporkömmlingen“ (Schmugglern, Zuhältern etc.), um mit dem Geld Waffen zu kaufen. Wer keins rausrückt, wird erschossen, ebenso dann auch Ghettopolizisten, die allzu willig die Befehle der Deutschen und ihrer ukrainischen Hilfskräfte ausführten. Im März 1943 entführen die „ZOB-Kämpfer“ sogar den Sohn von Marek Lichtenbaum – dem Vorsitzenden des Judenrats, weil der nicht zahlen will. Finanzielle Unterstützung bekamen sie außerdem von Aktivisten im „Arbeiterkomitee“ der jüdischen Gewerkschaften in den USA, hauptsächlich Schneidergewerkschaften, deren Mitglieder zu 90% Bundisten waren.
Der Führungsstab der ZOB zog in einen Bunker in der Milastraße 18, den der „führende Zuhälter des Ghettos“ angelegt hatte. Am 19. April 1943 begann der Aufstand, den einige als „den polnischsten aller polnischen Aufstände“ bezeichnen, weil er „der hoffnungsloseste von allen Aufständen“ war, ein Jahr später begann der „Warschauer Aufstand“, der laut Edelman „ganz anders war…Wichtig war, dass wir schießen konnten. Das mußte gezeigt werden. Nicht den Deutschen. Die konnten das selbst besser. Der anderen, der nicht-deutschen Welt mußten wir es zeigen. Schon immer haben die Menschen geglaubt, das Schießen sei die größte Heldentat. So haben wir eben geschossen…Schreibt noch dazu, dass ich zwei Revolver hatte. Zum damaligen Chic gehörten die Revolver – an diesen Gurten. Damals dachten wir, wenn man zwei Revolver hat, dann hätte man alles.“
Die ZOB kommandierte 220 Kämpfer, „und dann gab es noch die Verbindungsfrauen: Vladka, Irka, ‚Marysia‘, Inka und andere. Auch unter den Kämpfern gab es Frauen. Der einsatzleitende SS-General Jürgen Stroop erzählte nach dem Krieg im Gefängnis den ihn interviewenden Kazimierz Moczarski: „Ich glaubte, sie seien keine menschlichen Wesen, Teufelinnen vielleicht oder Göttinnen. Oft schossen sie aus zwei Pistolen gleichzeitig.“ Stroop befahl, die Frauen nicht mehr festzunehmen oder nahe herankommen zu lassen, sondern sie sofort „mit Maschinenpistolen niederzuschießen“.
Von den Polen halfen vor allem die Kommunisten der PPR den Aufständischen: „Ein gewisser Jozwiak zum Beispiel“. Er war anders als etwa der antisemitische Parteiführer Gomulka: „Versteht ihr? Nein, Ihr versteht nicht. Aber genau auf diesen Unterschied kommt es an.“ Erstere wollten wirklich helfen, „konnten aber nichts ausrichten. Sie wurden doch selbst von Russland allein gelassen, ohne einen Cent in der Tasche ‚abgeworfen‘, in armseligen dünnen Mänteln, und dann haben sie sich noch gegenseitig umgebracht.“ Nachdem die Deutschen das Ghetto Haus für Haus niedergebrannt und zuletzt die Große Synagoge in die Luft gesprengt haben – als „schönen offiziellen Schlußakzent“, flüchten die letzten noch etwa 80 Kämpfer durch die Kanalisation auf die „arische Seite“, wo sie mit Hilfe der Arbeiterpartei PPR versuchen, unterzutauchen. Auch dort kümmert sich Edelman um seine Leute. Aber „hört bitte auf, aus mir einen Helden zu machen. Wen interessiert es schon, wie viele Karabiner es waren und wer wo geschossen hat. Ihr redet so ernst darüber, während wir damals nur junge Leute waren, Rotzlöffel…Na gut, wir waren tapfer. Mutig. Aber militärisch gesehen…Im Vergleich zu den Deutschen hat es uns gar nicht gegeben. Entscheidend war vielleicht, dass wir uns an bestimmten gemeinsamen Werten orientierten. Freundschaft war hier wichtig.“
Etwa 70.000 Menschen sind bei den Kämpfen dieses „ersten Warschauer Aufstands“ im April und Mai 1943 ums Leben gekommen. Die durch die Kanalisation flüchten konnten, schlugen sich in die Wälder zu den Partisanen, Edelman kehrte – als „ZOB-Kommandant“ – bald nach Warschau zurück, hielt sich dort jedoch versteckt, schlief viel und trank „die ganze Zeit Wodka. Wann gab es in Polen mal keinen Wodka?“ Außerdem verfaßte er einen Bericht über den Aufstand, der später nach London zur polnischen Exilregierung gelangte, der mittelbar auch seine Kampforganisation unterstand.
Am 1.Juli 1944 begann der Warschauer Aufstand, der mit der fast völligen Zerstörung der Stadt endete. Edelman schloß sich einer Abteilung der Volksarmee (AL) an, zuletzt gelang ihm noch einmal die Flucht durch die Kanalisation. Selbst nach dem Einmarsch der Roten Armee im Januar 1945 mußten die wenigen Juden, die in Polen überlebt hatten, noch um ihr Leben fürchten, denn die rechten „Nationalen Streitkräfte“ (NSZ) machten Jagd auf sie.
In der „Kommune“, in der Edelman untergekommen war, „wurde beschlossen, das ich Medizin studiere…Die Studenten beschäftigten sich damals übrigens mit allem, nur nicht mit dem Studium; ein Teil war noch bei den Partisanen, ein anderer Teil war konspirativ tätig.“ Edelman wurde dennoch später einer der besten Herzchirurgen Polens, während die meisten Juden nach und nach nach Palästina auswanderten, 1967/68 kam es noch einmal zu einer Auswanderungswelle, als die Kommunisten das Land mit einer antisemitischen Kampagne überzogen, um die Kritik der Studentenbewegung von sich abzulenken. Man verweigerte Edelman die Habilitation und in seiner Klinik mußte er sich vom Pförtner sagen lassen: „Juden haben keinen Zutritt.“ Er verliert vorübergehend seine Anstellung und wird kurzzeitig interniert. Als Journalisten ihn später fragen, wie er sich gefühlt habe, als man ihn wegen seiner Herkunf entließ, sagt er: „Das sind Bagatellen…“
Auch in dieser Situation weigerte Marek Edelman sich, im Gegensatz zu seiner zweiten Frau und seinen Kindern, ins Ausland zu gehen. Zwar hatte er ein paar Mal seine linkszionistischen Freunde in Israel besucht, aber gegenüber dem Zionismus blieb er auf Distanz: „Die Bundisten haben nicht um den Staat Israel gekämpft, sondern um einen würdigen Tod.“ Wenn überhaupt, dann hätte man am Besten den jüdischen Staat in Bayern gründen sollen, aber die Entscheidung für Palästina war religiös motiviert und wurde von einer „Theologie des Holocaust“ flankiert: „Israel lebt von diesem ganzen Blödsinn.“ Zudem gaben die Amerikaner Geld, „weil sie einen Flugzeug-Landeplatz im Nahen Osten brauchten. Und der Nahe Osten, das bedeutet Öl.“
1973 lernt Edelman den Gründer des Komitees zur Verteidigung der Arbeiter (KOR) Jacek Kuron kennen. „Das KOR war genau dasselbe wie der Bund. Dieselben Ideale, dieselben Werte: Brüderlichkeit, soziale Gerechtigkeit, Kampf gegen die Diktatur. Für mich war das KOR die Fortsetzung des Bundes.“ Und für Edelman bedeutete das auch, wieder im Untergrund zu arbeiten. Die Bekanntschaft mit Kuron bezeichnet er rückblickend als „eine der wichtigsten Begegnungen“ in seinem Leben. 1979 trat er der von Kuron mitgegründeten „Solidarnosc“ bei, nach dem Fall des Kommunismus saß er 1989 mit am „Runden Tisch“ und zog danach sogar ins Parlament ein. Bis zu seinem Tod 2009 engagiert er sich für Zigeuner, Palästinenser, kubanische Oppositionelle, Tschetschenen, Albaner im Kosovo u.a. drangsalierte Minderheiten. Sein Credo lautet: „Immer auf der Seite der Schwächeren stehen!“
Auch gegen das 1999 in Berlin geplante „Zentrum gegen Vertreibungen“ nimmt Edelman noch Stellung: „Ich will keine Rache. Ich will nichts von den Deutschen. Ich möchte aber nicht, dass man sie zu Opfern stilisiert. Der Bau eines Zentrums gegen Vertreibungen wäre antipolnisch, denn das würde bedeuten, dass es Polen waren, die ihnen durch die Vertreibung Unrecht getan haben.“ In Lodz, wo er nach dem Krieg mit seiner zweiten Frau hingezogen war und dann in wechselnden Klinken gearbeitet hatte, tauchten nach 2000 antisemitische Sprüche an den Häuserwänden auf, z.T. direkt gegen eine Lehrerin und ebenso Edelman gerichtet. Daraufhin engagiert er sich auch noch gegen Rechtsradikalismus sowie gegen den rechten katholischen Hetzsender „Radio Maryja“. Gegenüber den Interviewern Beres und Burnetko meint er 2007: „Das größte Unglück dieser angeblichen Vierten Republik ist, dass die Angst wieder da ist. Die Menschen haben sogar Angst zu sagen, was sie denken, weil sie ihre Arbeit verlieren könnten.“ Als die „Regierung des Hasses und des Mißtrauens“ der Kaczynski-Brüder gestürzt wird, ist er froh: „wenigstens ist jetzt eine andere Atmosphäre da.“
Witold Beres/Krzysztof Burnetko: „Marek Edelman erzählt“, parthas Verlag Berlin 2009, 688 Seiten.
Ähnlich wie die sowjetischen Kriegsschriftsteller Wassil Bykau und Wassili Grossman hat auch Marek Edelman Widerstand und Kampf der Wahrheit zuliebe extrem unpathetisch geschildert. Ersterer erklärte dazu 2002 der in Berlin erscheinenden Zeitung „Russki Berlin“:
“Bis noch vor kurzem durfte man die ganze Wahrheit über den Krieg nicht sagen. Das lag nicht an der Zensur oder am dogmatischen Sozialistischen Realismus, die natürlich auch die Literatur unterdrückten, sondern an dem besonderen Charakter des gesellschaftlichen Bewußtseins in der Sowjetunion, der nach dem Krieg eine fast süchtige Beziehung – nicht zur Wahrheit des Krieges, sondern zu den Mythen des Krieges hatte: das betraf die Helden, die Flieger, die Partisanen usw. Diese schönen Mythen waren auch für die Veteranen annehmbar, obwohl sie ihren eigenen Erfahrungen widersprachen. Die Wahrheit über den Krieg war nutzlos und sogar amoralisch. Schon die kleinste Annäherung an die Wahrheit wurde sofort als ein Attentat auf das Heiligste – den Kampf für die Freiheit und die Unabhängigkeit der Heimat – aufgefaßt. Die Autoren, die über den Zweiten Weltkrieg schrieben, waren jedoch begabte und durchaus zu Selbstopfern bereite Menschen, die der Wahrheit in ihren Büchern auf der Spur waren. Ihre Werke hatten deswegen auch oft ein schweres Schicksal (die russische Umschreibung für jahrelanges Druckverbot). Das ist jedoch nur allzu verständlich, wenn man bedenkt, daß diese Wahrheit nicht nur in den Redaktionsstuben, sondern auch auf den Schlachtfeldern des Krieges selbst erobert werden mußte. Ernest Hemingway hat einmal gesagt: ‘Über den Krieg zu schreiben ist sehr gefährlich, noch gefährlicher ist es aber, die Wahrheit im Krieg selbst zu suchen’”.
Noch einmal zu den zwei Warschauer Aufständen 1943 und 1944:
„Das Lied ist geschrieben mit Blut und nicht mit Blei“ – heißt ein kürzlich erschienenes Buch über Mordechaj Anielewicz: dem ersten Führer des Aufstands im Warschauer Ghetto – bis zu seinem gewaltsamen Tod. Danach übernahm Marek Edelman das Kommando über die jüdische Kampforganisation ZOB. Dieser sagte über seinen Vorgänger: „Anielewicz wollte so gerne die Führung übernehmen, deswegen haben wir ihn gewählt“. Die Biographie über ihn schrieb Sabine Gebhardt-Herzberg. Sie hat sich die Arbeit nicht leicht gemacht. Es sollte ein würdiges „Andenken an Mordechaj Anielewicz“ sein. Dazu interviewte sie Überlebende in Israel und Widerstandsforscher, besuchte in Warschau zusammen mit ihrem kleinen Sohn die Stätten der Kämpfe und suchte die Orte auf, an denen Anielewicz lebte. Nach einem „Schlüsseltraum“ betete sie, „am richtigen Platz“ zu sein. Schließlich brachte sie ihre Biographie im Selbstverlag heraus. Ihre Studie legt nahe, dass Anielewicz, dessen Stab sich am 8.Mai 1943 in einem Bunker verschanzt hatte, verraten wurde: durch jemand, der den Deutschen den Standort des ZOB-Verstecks „Mila 18“ im Ghetto gezeigt hatte. Der deutsche Kommandant Stroop notierte bereits am Tag zuvor: „Die Lage des Bunkers der sogen. ‚engeren Parteileitung‘ ist nunmehr bekannt“. Seine Soldaten leiteten am 8.Mai Giftgas hinein. Die meisten „Terroristen“ begingen, bevor sie erstickten, Selbstmord, „einige töteten zuerst ihre Angehörigen und dann sich selber“. Edelman mißbilligte insbesondere den Selbstmord von Anielewicz: „Ein Kommandant muß bis zuletzt kämpfen.“
In diesem Jahr jährt sich zum Siebenundsechzigsten mal ihr Aufstand. Mitte Januar 1943 hatte Emilia Landau das Signal zum Widerstand gegeben, als sie eine Handgranate warf, die mehrere Deutsche tötete. Am 18. April ließ SS-Brigadeführer Jürgen Stroop das Ghetto durch polnische Polizei umstellen. Am 19. gipfelte der Widerstand der 22 jüdischen Kampfgruppen in einen allgemeinen Aufstand. Er endete in der zweiten Julihälfte 1943 – mit der vollständigen Zerstörung des Ghettos und zigtausend Toten. Nur einigen wenigen Juden gelang die Flucht durch die Kanalisation – auf die „arische Seite“ der Stadt oder in die Wälder zu den Partisanen.
Diesen gescheiterten Aufstand betrachtet die israelische Armee heute als ihren eigentlichen Gründungsakt, der somit das glückliche Ende des langen jüdischen Kampfes um eine eigene Nation einleitete. An seinem Anfang stand ebenfalls ein gescheiterter Aufstand: Der so genannte jüdische Krieg in den Jahren 66 bis 74, der mit der Eroberung der letzten Festung Massada durch römische Truppen endete. Der römische Historiker Flavius Josephus schilderte uns diesen achtjährigen verzweifelten Widerstand gegen einen technisch und zahlenmäßig hoch überlegenen Gegner, der mit dem Tod oder der Versklavung fast aller daran beteiligten Juden und auch vieler unbeteiligter in anderen Ländern endete – in seiner zweibändigen „Geschichte des jüdischen Krieges“. 1995 hat die Religionshistorikerin Mireille Hadas-Lebel neuere Forschungsergebnisse über die römische Rückeroberung der Festung „Massada“ am Toten Meer veröffentlicht, bei der die Verteidiger zuletzt ihre Frauen und Kinder ermordeten, damit sie nicht in die Hände der Feinde fielen. Aus dem Warschauer Ghettoaufstand ist ähnliches überliefert. So erwähnt z.B. Alina Margolis-Edelman in ihrem Bericht „Als das Ghetto brannte“ , daß ihre Mutter, die damals Ärztin war, ein ihr anvertrautes krankes Kind mit einer Dosis Morphium tötete, die sie eigentlich für sich aufbewahrt hatte – was jedem, der eine solche Ampulle, die „damals den Wert von Gold besaßen, ein wunderbares Gefühl der Sicherheit gab, eine Möglichkeit, jeden Augenblick zu gehen“.
Die Autorin ist die Ehefrau des einstigen Kommandanten der jüdischen Kampforganisation (ZOB) im Warschauer Ghetto: Marek Edelman. In einem 2002 erschienenen Interview-Band mit ihm – „Der Hüter“ – wird er als „letzter Überlebender des Aufstands“ bezeichnet. Desungeachtet gibt es immer noch weitere Berichte von Zeitzeugen. Die auf solche Literatur quasi spezialisierte Schweizer Agentin Eva Koralnik berichtete 1999, auf der Jerusalemer Buchmesse würden ihr jedesmal „Dutzende von Überlebenden“ ihre Memoiren anbieten: „Jede einzelne Geschichte ist eine Tragödie…Es ist schwer, ihnen zu sagen: ‚Nein danke, der Markt ist voll'“.
1999 erschien auf Deutsch „Jossel Rakovers Wendung zu Gott“, der Verlag schrieb dazu: „Er ist einer der letzten Aufständischen im Warschauer Ghetto. In den Ruinen verfaßt er seine Abrechnung mit Gott und versteckt sie in einer Flasche Benzin, mit dessen Inhalt er seinem Leben ein Ende setzt“. Der Autor, Zvi Kolitz, schrieb den Text aber erst 1946 – in einem Hotel in Buenos Aires, dennoch wird seine Legende von der Entstehung im brennenden Ghetto weiterhin für wahr gehalten. Statt den Autor mit dem „Auschwitz-Schwindler“ Wilkomirski zu vergleichen – einem Schweizer, der weder Jude noch jemals im KZ war – stellt man seine „Wendung zu Gott“ eher in eine Reihe mit der letzten Rede des Anführers der Aufständischen von Massada, Eleazar ben Jair, die Flavius Josephus um das Jahr 76 schrieb, weil man damals, so Mireille Hadas-Lebel, „das Talent eines Historikers danach beurteilte, welche Kunstfertigkeit er für die Ausschmückung seines Berichts mit Reden anwandte“. Da nach jüdischer Auffassung von göttlicher Gerechtigkeit jedes Unglück als eine Strafe Gottes angesehen wird, geht es bei Eleazar in Massada ebenso wie bei Rakover in Warschau um eine Auseinandersetzung mit Gott – angesichts des furchtbaren Massakers.
„Das wesentliche Merkmal des Aufstands im Warschauer Ghetto besteht darin“, schreibt der polnische Essayist Jan Josef Szczepanski, daß es hierbei nicht um eine „Vorahnung der unvermeidlichen Niederlage ging, sondern um eine bewusst angenommene Gewißheit“. Dies unterscheidet den Ghettoaufstand im April 1943 vom Warschauer Aufstand, der am 1. August 1944 begann – und ebenfalls nach etwa drei Monaten scheiterte.
Mit dem Warschauer Aufstand entwickelt sich ein neues polnisches Selbstbewußtsein. Die Stadt wurde dabei von den Deutschen nahezu vollständig zerstört, zigtausende von Warschauer fanden den Tod und die Überlebenden wurden zur Zwangsarbeit nach Deutschland deportiert. Nur wenigen Kämpfern gelang die Flucht durch die Kanalisation – in die Wälder. Unter ihnen befand sich damals neben einigen hundert anderen Juden auch wieder Marek Edelman.
Einen ersten knappen „Kampf“-Bericht über den „Ghettoaufstand von 1941 – 43“ verfaßte er bereits gleich nach dem Krieg, der Text wurde 1993 von Ingrid Strobl auf Deutsch herausgegeben. Vorher war bereits ein Interview von Hanna Krall mit ihm erschienen: „Dem Herrgott zuvorkommen“. Edelman versucht darin das Heldentum (der bewaffneten Kämpfer) zu relativieren – im Vergleich zu dem Mut, mit dem viele Menschen im Ghetto nahezu klaglos ihrer Vernichtung entgegengingen: „Schießend stirbt es sich viel leichter“.
Den Philosophen Zvetan Todorov brachten diese Gedanken in seiner Studie „Angesichts des Äußersten“ zu einem Vergleich des Warschauer Aufstands mit dem Ghettoaufstand, wobei er sich auf die Äußerungen von Marek Edelman und auf die des Aufstandsführers General Bor-Kormorowski und dessen operativen Leiter Okulicki bezog, letzterer starb nach dem Krieg in sowjetischer Haft. Todorov schlug vor: „Man sollte in bezug auf Okulicki von heroischen Tugenden reden und bei den von Edelman überlieferten Fällen von Alltagstugenden…Dort wird der Tod zu einem Wert und einem Ziel, weil er das Absolute besser als das Leben verkörpert. Hier ist er das Mittel, nicht der Zweck. Er ist die letzte Zuflucht des Individuums, das seine Würde bewahren will“.
Wenn man seinerzeit (1961) dem „Standardwerk“ über „Die Vernichtung der europäischen Juden“ von Raul Hilberg gefolgt war, der sich bei seiner Darstellung des Ghettoaufstands vor allem auf deutsche Quellen sowie auf die Memoiren des Warschauer Aufstandsführers Bor-Kormorowski gestützt hatte, dann entschieden sich die meisten Menschen – vor die Alternative gestellt: zu kämpfen oder „wie die Schafe zur Schlachtbank“ geführt zu werden – für letzteres. Hilberg führte das vor allem darauf zurück, daß die Juden seit etwa 1900 Jahren in der Diaspora dem Gebrauch der Waffen entfremdet und ohne kämpferische Traditionen waren. Seine Quellen waren allerdings fragwürdig: General Bor-Kormorowski hatte z.B. ein großes Interesse daran, seine antikommunistische und teilweise auch antisemitische Heimatarmee (AK) als aktive Unterstützer der leider schwachen Ghettokämpfer im Nachkriegspolen darzustellen. In Wahrheit kam den Aufständischen bis auf einige Gruppen aus der kommunistischen Volksarmee (AL) so gut wie niemand zu Hilfe. Die während der Kämpfe auf der „arischen Seite“ untergetauchte Alina Margolin-Edelman schreibt, als sie an die Ghettomauer lief, hinter der geschossen wurde und Menschen über die Dächer liefen: „Passanten und Schaulustige standen in kleinen Gruppen, hoben den Kopf nach oben, zeigten mit dem Finger auf sie. Das, was sie sagten, wiederhole ich nicht, ich will es nicht wiederholen“.
Gegen Raul Hilbergs Darstellung der jüdischen Widerstandslosigkeit wurden eine Reihe von Ghettokämpfer-Memoiren veröffentlicht. Einige erschienen bereits 1963 auf Deutsch – unter dem Titel „Im Feuer vergangen“. Um die Veröffentlichung weiterer Erinnerungen jüdischer Partisanen bemühte sich dann hierzulande von linker Seite vor allem Ingrid Strobl und von konservativer Arno Lustiger. Berühmt wurde vor allem das umfangreiche Werk von Reuben Ainsztein: „Jüdischer Widerstand im deutschbesetzten Osteuropa während des Zweiten Weltkriegs“. Es war explizit gegen die Thesen von Hilberg gerichtet, der den Ghettoaufstand als ein bloßes „Gefecht“ bezeichnete. Reuben Ainsztein zitiert einen vier Tage nach Beginn des Aufstands geschriebenen Brief von Mordechai Anielewicz an Marek Edelman: „Was wir erlebt haben, läßt sich mit Worten nicht beschreiben. Wir hätten es in unseren kühnsten Träumen nicht zu hoffen gewagt. Zwei mal zwangen wie dir Deutschen, das Ghetto fluchtartig zu verlassen…Ich habe das Gefühl, große Dinge geschehen, daß das, was wir wagten, von großer Bedeutung ist“. Der Widerstandsforscher Reuben Ainsztein ist der festen Überzeugung: „In rein militärischen Kategorien gesprochen, handelte es sich um die bedeutendste antideutsche Schlacht auf polnischem Boden seit 1939“.
Ihr folgte im Sommer des darauffolgenden Jahres der Warschauer Aufstand. Auch hierbei gab es eine Art von nahezu unbeteiligter Zuschauerschaft: das restliche Polen drumherum, von Deutschen besetzt – soweit sie die im Spätsommer 1944 bis an das rechtsseitige Weichselufer vorgerückte Rote Armee noch nicht vertrieben hatte. Diese Zuschauerschaft schildert der Dichter Miron Bialoszewski, der als junger Hilfsfreiwilliger am Aufstand beteiligt war. Er brauchte 20 Jahre, um „Nur das was war“ zu beschreiben, seine „Erinnerungen aus dem Aufstand“ erschienen 1994 auf Deutsch. Ihm ging es dabei vor allem um so etwas wie den „Alltag der Kämpfe“, der – zumal für einen jungen Zivilisten – erst einmal Warten, Warten, Warten – in Bunkern – war, sowie aus Essensbeschaffung und Schlafgelegenheiten suchen bestand, wobei es sogar hier durchaus Glücksmomente gab. Sein Freund Leszek Solinski schreibt im Nachwort: „Man warf Bialoszewski eine Banalisierung des Themas vor, eine Entdämonisierung des Krieges, seinen Mangel an persönlichem Engagement, die Position des Antihelden, das Fehlen von jeglichem Pathos und Patriotismus. Der Autor wurde als Feigling bezeichnet“. Nichtsdestotrotz wurde sein Buch in Polen mehrmals wieder neu aufgelegt. Inzwischen gibt es eine fast unüberschaubare Literatur sowohl über den Ghettoaufstand als auch über den Warschauer Aufstand.
Auf Deutsch erschien 2001 eine Studie über den Warschauer Aufstand von Wlodzimierz Borodziej. Der 1956 geborene Historiker zitierte im Vorwort das „Informationsbulletin“ der Heimatarmee, das bereits einen Tag nach der Kapitulation „vor eiligen Schlüssen über die letzten 63 Tage“ warnte: „‚die Rechnung‘ sollte lieber der Geschichte überlassen bleiben“.
Zunächst wurde den Kämpfern und Opfern des Aufstands von der kommunistischen Regierung sogar ein Denkmal verweigert, im Gegensatz zum Ghettoaufstand, an den seit 1948 bereits das berühmte Monument von Nathan Rapoport erinnert, der dann in einem israelischen Kibbuz auch noch ein „Mordechaj Anieliwicz-Monument“ errichtete. Sofern sie nicht ins Londoner Exil geflüchtet waren, wurden nach Kriegsende die Angehörigen der (bürgerlichen) Heimatarmee, die den Aufstand befehligten – und der auch und vor allem gegen die Rote Armee gerichtet war, wie Todorov meint – noch strafrechtlich verfolgt. Erst 1984 ließ die kommunistische Partei ein Denkmal für den Warschauer Aufstand zu, zuvor waren bereits etliche „Erinnerungen“ erschienen und es hatte sich für den 1.August ein „Festtagsritual“ entwickelt. 1994 – zum 50.Jahrestag des Aufstands – wurden erstmalig auch westliche Politiker dazu eingeladen. Dafür sagte jedoch der russische Staatspräsident ab. Für einen kleinen Skandal sorgte der deutsche Bundespräsident Roman Herzog, als er im Vorfeld den Warschauer Aufstand 1944 mit dem Ghettoaufstand 1943 verwechselte. Der Gastgeber Lech Walesa sprach in seiner Rede davon: Polen, Warschau und die Aufständischen seien im Zweiten Weltkrieg zwei Totalitarismen zum Opfer gefallen.
Borodziej kommt am Ende seiner Studie auch auf Tzvetan Todorov zu sprechen, der den Warschauer Aufstand im Gegensatz zum Ghettoaufstand für eine „Entfesselung“ hält, die niemandem geholfen hat: „weder damals noch später, weder vor Ort noch anderswo“. Todorov irrt hier eventuell, schreibt Borodziej, denn „es liegt schließlich im Bereich des Möglichen, daß ohne die Niederlage des – hoffentlich letzten – großen Aufstands die Polen weder 1980 eine legale antikommunistische Gewerkschaft…erfunden hätten, noch den ‚Runden Tisch‘ neun Jahre später, mit dem die friedliche Entmachtung des Regimes eingeleitet und der Weg in die Freiheit beschritten wurde“. Als die wichtigste mediale Aufarbeitung des Warschauer Aufstands bezeichnet der Historiker den Spielfilm „Der Kanal“ von Andrzej Wajda, der 1957 Premiere hatte und dem inzwischen „der Rang eines Klassikers“ gebührt.
Dies wird man wohl kaum von dem erst kürzlich in Warschau vorgeführten Film „Der Pianist“ von Roman Polanski sagen können, der auf den „Warschauer Erinnerungen“ des Musikers Wladyslaw Szpilman basiert. Dieser überlebte sowohl den Ghettoaufstand als auch den Warschauer Aufstand. Polanskis Verfilmung wurde zwar artig gelobt, auch von Andrzej Wajda und Marek Edelman, aber sein Eurofilm geriet trotzdem bald in gnädige Vergessenheit. Allerdings ist auch bereits die Buch-Vorlage – von Szpilman – eher vom „Wegkucken“ geprägt, vergleicht man sie mit den neueren „Erinnerungen“ an den Ghettoaufstand z.B. von Simka Rotem und Vladka Meed.
Es werden bestimmt noch viele Berichte und historische Forschungen über den Ghettoaufstand, aber auch über den Warschauer Aufstand erscheinen, denn nur in solchen oder ähnlichen „Volkserhebungen“ wird das greifbar, was man „Brüderlichkeit“ (Freundschaft) nennt, dessen Reichweite und Begrenztheit dabei jedoch ebenfalls deutlich zutage tritt. Es ist sozusagen der Lackmustest für den Befreiungswillen einer Klasse, eines Volkes, einer Minderheit, einer Nation… Deswegen gehören die Berichte über Aufstände zu den Gründungsurkunden – in diesem Fall von Israel und dem neuen Polen. Auch diese Dokumente sind noch – ebenso wie der Aufstand selbst – kollektive Hervorbringungen. Nicht zuletzt aus diesem Grund wird z.B. der Bericht des Journalisten Zvi Kolitz „Jossel Rakovers Wendung zu Gott“ in der Judenheit auch als ein „anonymer“ rezipiert – spätestens seit der Philosoph des Judentums Emmanuel Levinas ihn als einen „wahren Text, so wahr wie allein die Fiktion es sein kann“ bezeichnete (1955 – auf Deutsch in: „Schwierige Freiheit“ 1996). Indem die ursprünglich auf Jiddisch geschriebene „Wendung zu Gott“ mit der unmittelbaren Erfahrung des Warschauer Ghettoaufstands verknüpft blieb – wider besseres Wissen, möchte man sagen – geriet der Text zum Volkseigentum und wurde dementsprechend auch immer wieder verändert, verbessert, erweitert (ohne dass sein Autor sich dagegen verwahrt hätte).
Bereits am 8. Dezember 1941, als Simon Dubnow – Verfasser der zehnbändigen „Geschichte des jüdischen Volkes“ – in Riga von den Deutschen zur Hinrichtung geführt wurde, rief er den Umstehenden zu: „Juden, berichtet davon!“ In der Folgezeit haben sehr viele Juden es unternommen, in den Ghettos und Lagern ihre Erlebnisse aufzuschreiben. Leon Wulf, Mitglied in der „Zentralen Jüdischen Historischen Kommission“ in Polen (von 1945 – 47) meint in seinem Bericht über das Warschauer Ghetto, der 1958 von der Bonner „Bundeszentrale für Heimatdienst“ auf Deutsch herausgegeben wurde: „Es handelte sich dabei nicht etwa nur um Historiker, Schriftsteller oder Journalisten, sondern um ganz gewöhnliche Sterbliche, die nichts mit Schriftstellerei oder dergleichen zu tun hatten. Fast jeder, der im Ghetto oder Lager den Golgathaweg der Vernichtung ging und überlebte, traf diese Laien-Chronisten“. Ähnliches ließe sich auch wohl von den Berichterstattern des Warschauer Aufstands sagen, vor deren anschwellender Menge schon die Kommunisten irgendwann kapitulierten, die selber laut Borodziej „ein gerüttelt Maß an Verantwortung für die Katastrophe“ trugen.
Die erste Aufstandschronistin Anna Borkiewicz wurde sogar noch in den Fünfzigerjahren wegen „Sammlung und Aufbewahrung von Material der (bürgerlichen) Heimatarmee, das diese glorifiziert und die (kommunistische) Volksarmee herabwürdigt“, zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt. Doch bereits 1964 durfte der ZK-Sekretär und frühere AL-Offizier Zenon Kliszko, der später selbst ein dünnes Buch über den Warschauer Aufstand schrieb (es erschien 1969 auf Deutsch), über die einstigen „Verräter“ und „Diversanten“ der AK öffentlich sagen: „Uns, die wir unter den Fahnen verschiedener Gruppierungen auf den Barrikaden gekämpft haben – gegen den tödlichen Feind Polens – trennt heute nichts mehr“. Nichtsdestotrotz wurde jedoch in der zweiten Hälfte der Siebzigerjahre in polnischen Untergrundveröffentlichungen, auf Demonstrationen und in Diskussionen immer wieder „die volle Wahrheit über den Aufstand“ eingefordert. Seit 1989 ist dabei die „zentrale politische Botschaft – der Verrat Moskaus“: Die Aufstandsplanung der AK wird seitdem als weise „hochstilisiert“ – nur die angeblich unerwartete Reaktion Moskaus (nämlich den Vormarsch der Roten Armee an der Weichsel zu stoppen) habe ihren Plan zum Scheitern verurteilt. Heute sei jedoch „der Warschauer Aufstand als Gegenstand heftiger Auseinandersetzungen wie vor 1989 schwer vorstellbar“, meint Wlodzimierz Borodziej. Auch der Heroismus der Warschauer Ghettokämpfer ist heute – außer bei Neonazis, deren Propaganda gegen den einstigen antideutschen partisanischen „Terror“ allerdings zunimmt – unumstritten.
Zuletzt veranstaltete sogar das Deutsche Historische Museum Unter den Linden eine Ausstellung über den „Jüdischen Widerstand“. Immer öfter wird dafür der einstige aggressive polnische Antisemitismus als berechtigter Widerstand gegen die jüdischen Kollaborateure der Sowjetunion dargestellt. U.a. von dem Deutschpolen Bogdan Musial, der zuletzt, am 19.Juli in Berlin, zusammen mit Ralph Giordano auf einer Gedenkveranstaltung zum „60. Jahrestag des Warschauer Aufstands“ und des Kampfes der antikommunistischen, teilweise auch antisemitischen Heimatarmee (Armia Krajowa) auftrat. Dieses „Event“ wurde ausgerechnet vom deutschen Bund der Vertriebenen mitorganisiert. Während Giordano dort über die deutschen Greueltaten bei der Niederschlagung der beiden Warschauer Aufstände sprach, konzentrierte Musial sich wie stets auf die Grausamkeiten der Kommunisten bei ihrer Machtübernahme nach der Niederschlagung der Deutschen. In Polen hält man die Abhaltung dieser Veranstaltung noch immer für eine grobe Unverschämtheit. Der Friedenspreisträger und frühere Außenminister Wladislaw Bartoszewski – einer der weniger noch lebenden Teilnehmer am Warschauer Aufstand – hatte sich bereits vorab öffentlich gegen das „unerbetene Mitleid“ von seiten der Vertriebenen verwahrt, insgesamt hielt er die Teilnehmer insgesamt für in dieser Sache „völlig inkompetente Staatsbürger Deutschlands“.
Beim Lesen des Buches „Marek Edelman erzählt“ hatte ich immer wieder das Gefühl, dass Edelmans Erlebnisse im Ghetto und im Aufstand das Material lieferten für Andrzej Wajdas Film „Der Kanal“. Dieser thematisiert jedoch wie erwähnt den zweiten Warschauer Aufstand und darin eine Kampfeinheit der Heimatarmee (AK):
In seinem Roman „Die Elenden“ beschreibt Victor Hugo die Kanalisation von Paris – die „Kloake“: Zufluchtsort für politisch und religiös Verfolgte, ebenso wie für Verbrecher und Lebensraum von Ratten. Er thematisiert daneben jedoch auch die Ängste, Verdächte, Geschichten und Mythen, die über diese dunkle unterirdische Stadt oben im Hellen kursieren. 2005 veröffentlichte die Gazeta Wyborcza ein Interview mit einem ehemaligen deutschen Soldaten, dessen 46. Sturmbrigade bei der Niederschlagung des Warschauer Aufstands an der Seite der ersten mörderischen Partisanenvernichtungseinheiten – dem SS-Sonderregiment Dr. Dirlewanger und der Bandenbekämpfungsbrigade Kaminski – kämpfte. Unter anderem war der damals achtzehnjährige Soldat an mehreren Nahkämpfen mit dem Messer – in Kellern – beteiligt: „Die Keller waren das zweite Warschau. Wenn man in Kellern kämpft, ist es still, man sieht nichts“, erzählte er. Wegen der Flugzeugangriffe zogen sich die Aufständischen schon sehr bald in diese Keller zurück, wobei sie sie miteinander verbanden, indem sie die Wände zwischen den Häusern durchbrachen. Aber dann mußte ein Viertel nach dem anderen aufgegeben werden und die Aufständischen versuchten in die Innenstadt zu gelangen – durch die noch tiefere und dunklere Kanalisation der Stadt – unter den Straßen und Kellern.
Dieses dritte Warschau hat Andrzej Wajda mit seinem Film „Der Kanal“ 1956 erhellt. In den Kanal trauten sich die Deutschen nicht rein, aber ihre nahe Anwesenheit und die Möglichkeit, dass sie von oben Gas einsetzten, bestimmte das Verhalten der mit einem „Passierschein“ in den Kanal sich zurückziehenden Kompanie der Armia Krajowa (AK) – die zu dem Zeitpunkt noch aus einundvierzig Männern und einem jungen Melder sowie zwei weiblichen Meldegängerinnen bestand. Der Film zeigt die letzten Stunden ihres Lebens. Er handelt von den Existentialien Liebe, Mut, Feigheit, Verrat – und rührte äußerst wirkungsmächtig an ein Tabu der polnischen Kommunisten: Sofern sie nicht ins Londoner Exil geflüchtet waren, waren die Angehörigen der Heimatarmee (AK), die den Aufstand befehligt hatten, der auch gegen die Rote Armee gerichtet war, nach dem Krieg zunächst als „Verräter“ und „Diversanten“ diffamiert und sogar strafrechtlich verfolgt worden – so dass Wajdas „Kanal“ auch einen anderen Umgang mit diesem „dunklen Kapitel“ der polnischen Geschichte, die er erhellte, einleitete.
2004 strahlte das deutsche Fernsehen ein Interview der ARD-Korrespondentin in Warschau Annette Dittert mit der ehemaligen Meldegängerin Wanda Stawska aus, die dabei auch auf „die schönen Momente des Warschauer Aufstands“ zu sprechen kam: Alle Jungs seien in die Kämpferinnen verknallt gewesen – „Wir waren doch alle so jung. Und es entstand eine so unglaubliche Solidarität und Nähe in dieser ganzen Aussichtslosigkeit“. Ähnlich äußerten sich dann auch einige weibliche Verbindungssoldaten, die der Freiburger Regisseur Paul Meyer 2006 für seinen Film „Konspirantinnen“ interviewte. Sie waren nach dem Aufstand gemäß des Kapitulationsabkommens als Kriegsgefangene in ein Moorlager bei Oberlangen im Emsland gebracht worden. Eine der Frauen sagt in dem Film: „Der Aufstand konnte nicht nicht losgehen.“ Und „es war die schönste Zeit in meinem Leben.“
Auch Wajdas Film handelt davon: Der Leutnant Madry verliebt sich in die Melderin Halinka, wobei er ihr jedoch verschweigt, dass er verheiratet ist und Kinder hat. Sie sagt: „Mit Liebe ist es leichter zu sterben.“ Die zweite Melderin – „Gänseblümchen“ – hat eine Romanze mit dem jungen Jacek, der bei einer mutigen Aktion verwundet wird. Gänseblümchen muß ihn die ganze Zeit im Kanal fast tragen. Als erfahrener Verbindungssoldat kennt sie sich unten aber von allen am Besten aus. Als einige der dort unten zu Tausenden umgekommenen Flüchtenden an ihnen vorbeitreiben, meint sie nur: „Dumme Menschen, die nie im Kanal waren.“ Die Kompanie zerfällt in kleine Gruppen und keine findet den Ausstieg Wilczastraße – bis auf Gänseblümchen, die mit ihrem verwundeten Geliebten jedoch den Anschluß verloren hat. Und Jacek schafft es dann nicht mehr, den Ausstiegsschacht hochzukommen: „Geh allein!“ sagt er, „Du Idiot!“ antwortet sie. Wenig später ermahnt sie ihn: „Hör auf zu heulen Jacek, komm. Wir gehen geradeaus – wo der Kanal in die Weichsel mündet.“ Während sich die Hauptgruppe in einer Sackgasse verirrt und ein anderer Teil der Kompanie einen falschen Schacht hochsteigt, wo sie oben sofort von Deutschen gefangen genommen werden, schaffen Gänseblümchen und Jacek es tatsächlich bis zur Weichsel, aber dort ist der Kanal vergittert. Der Verwundete kann nicht mehr weiter, Gänseblümchen täuscht ihn über das traurige Ende ihrer Flucht: „Jetzt ruh dich erst mal aus. Öffne nicht die Augen, die Sonne scheint zu hell.“ Auch die anderen durch den Kanal irrenden Teile der Kompanie enden derart traurig.
„Aber wer eine Tragödie überlebt hat, ist nicht ihr Held gewesen.“ (J. St. Lec) In diesem Fall sind es eindeutig die Frauen – was vielleicht auch einer List des Regisseurs gegenüber der Zensur geschuldet ist. An die Heldin „Gänseblümchen“ und all die anderen „in Gefahr und größter Not“ über sich selbst und die Männer hinausgewachsenen weiblichen Verbindungssoldaten erinnerten 2005 noch einmal die beiden Künstler Darek Foks (41)und Zbigniew Libera (48)mit einer Ausstellung in Katowice und Bytom sowie 2006 in Paris. Sie beschäftigten sich in ihrer Arbeit „Was tat die Meldegängerin?“ mit dem (polnischen) Bildgedächtnis und ganz allgemein mit dem Begriff der Rekonstruktion historischer Ereignisse. Dabei gingen sie von dem Gemeinplatz aus, daß uns die Vergangenheit durch Fotos und Geschichten überliefert wird. (Der polnische Künstler Piotr Uklanski beschritt 1998 mit seiner Ausstellung „Nazis“ einen ähnlichen Weg, indem er berühmte polnische Schauspieler in ihren Rollen mit Naziuniformen zeigte). Zbigniew Libera nahm die ikonisch gewordenen Zeitungsphotos vom Warschauer Aufstand und montierte anstelle der Gesichter echter Melderinnen Bilder von Anita Ekberg, Sophia Loren, Catherine Deneuve und anderen Filmstars hinein. Die Pin-up- und Spind-Ästhetik soll eine Verbindung zwischen Eros und Krieg herstellen. Darek Foks meinte dazu, es müsse in einer Kriegserzählung immer auch eine Liebesgeschichte geben. Wenn man attraktive Frauen hineinnehme, würden sich die Leser eher für die Geschichte des Warschauer Aufstands interessieren. Auch Wajda tat dies in gewisser Weise, indem er für seinen „Kanal“ besonders „schöne Melderinnen“ engagierte und eine sogar die Hauptrolle spielen ließ. Foks und Libera ging es darüberhinaus bei ihrer Ausstellung „Was tat die Melderin?“ darum, die Aneignung des Mythos vom Warschauer Aufstand durch die offizielle polnische Geschichtspolitik der letzten Jahre zu unterlaufen. Da die Geschichte vom Warschauer Aufstand in der Volksrepublik Polen von offizieller Seite unterdrückt wurde, hatte sozusagen jeder die Möglichkeit, sich dazu Heldengeschichten zu erfinden und sie auszumalen.
Die erste Aufstandschronistin Anna Borkiewicz wurde noch in den Fünfzigerjahren wegen „Sammlung und Aufbewahrung von Material der (bürgerlichen) Heimatarmee, das diese glorifiziert und die (kommunistische) Volksarmee herabwürdigt“, zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt. Um so wichtiger war dann Wajdas wenig später gedrehte Film über eine Kompanie der AK. Man kann sich sogar fragen, ob er nicht auch noch die für den deutschen Film „Konspirantinnen“ befragten Zeitzeugen in ihrer Erinnerung beeinflußt hat. Nun gibt es aber heute ein regelrechtes Aufstands-Marketing, mit eigenem Museum und einer offiziell verbindlichen Darstellung der Ereignisse. Die beiden Künstler wollten sich jedoch „ihren Warschauer Aufstand“ nicht nehmen lassen. Wajdas „Kanal“ bildete dabei die Ausgangsbasis ihres Kunstprojekts. Am Anfang gibt es bei Wajda eine Szene, in der Izewska zu Janczar sagt, daß sie nur seinetwegen zurück in die Stadt gekommen sei. Warum, fragt er. Sie antwortet: „Weil ich deine Meldegängerin bin.“ Daraufhin küssen sie sich. Während die jungen Künstler Foks und Libera mit dem „Mythos“ spielten, hat der Dichter Miron Bialoszewski, der als junger Hilfsfreiwilliger selbst am Aufstand beteiligt war, „Nur das was war“ zu beschreiben versucht. Er brauchte für seine „Erinnerungen aus dem Aufstand“ zwanzig Jahre. Es ging ihm dabei vor allem um so etwas wie eine Schilderung des „Alltags der Kämpfe“, der – zumal für einen jungen Zivilisten – erst einmal aus Warten, Warten, Warten – in Bunkern – bestand, sowie aus Essensbeschaffung und Schlafgelegenheiten suchen, wobei es sogar hier durchaus Glücksmomente gab. Sein Freund Leszek Solinski schrieb im Nachwort: „Man warf Bialoszewski eine Banalisierung des Themas vor, eine Entdämonisierung des Krieges, seinen Mangel an persönlichem Engagement, die Position des Antihelden, das Fehlen von jeglichem Pathos und Patriotismus. Der Autor wurde als Feigling bezeichnet“. Eher sollte der verwundete Oberkommandeur im Film „Kanal“ Recht behalten – als er meinte: „Die kommenden Generationen werden uns verehren“ – mindestens seine Meldegängerinnen.
Noch einmal zu den Partisanen:
Das Ziel der Flüchtenden während der zwei Warschauer Aufstände waren die Partisanen in den Wäldern, die inzwischen riesige befreite Zonen erkämpft – und sich ein Unterstützernetz in den umliegenden Dörfern geschaffen hatten. In seiner Studie über den Wald bezeichnete der US-Kulturhistoriker Simon Shama den polnischen Urwald von Bialowieza (Podlasien) als das letzte Rückzugsgebiet der Wisente, aber auch aller echten Männer, sowie der polnischen Outlaws und Partisanen. Ferner Jagdgebiet der Könige, zuletzt das Revier von Göring – und Ausgangspunkt der polnischen Forstwirtschaft, die oft Beziehungen zu den Partisanen unterhielt. So gehörte zum Beispiel zu den Partisanen, die sich nach der Niederschlagung des Warschauer Aufstands Ende 1830 und der Auflösung Polens in die Wälder von Podlasien – der Puszcza – zurückzogen, auch Emilie Plater, „eine Soldatin, aus deren Familie zu Beginn des Jahrhunderts Forstbeamte gekommen waren“. 100 Jahre später erklärte die Pilsudski-Regierung den Urwald zu einem der ersten drei polnischen „Nationalparks“. Im Wald finden die ersten Gefechte zwischen Nationalökonomie und -ökologie statt! Mit dem Einmarsch der Deutschen in Polen flüchteten auch viele Juden als Partisanen in die Wälder – sie kamen „in eine neue Welt“, schreibt Simon Shama, „… die Veteranen, die sich als ,Wölfe‘ bezeichneten, waren von allen Generationen der ,Puszcza‘-Kämpfer die verzweifeltste“. Nach 1945 versteckten sich auch Deutsche in den Wäldern, wo sie sich zu antikommunistischen Partisanengruppen zusammenfanden. Erst in den Fünfzigerjahren gelang der Roten Armee die Liquidierung der letzten „Waldmenschen“, wie die Illegalen in Litauen hießen, ihre Jungen nannte man „Wolfskinder“.
Neuerdings gedenkt man auch immer öfter der antikommunistischen und antisemitischen polnischen Partisanen, die sich ebenfalls in den Wäldern versteckten.
Der Regisseur Kornel Miglus hatte einen Onkel, Pawel, der einer solchen Partisanengruppe angehörte. Zuletzt – nach dem Krieg – sprengten sie Denkmäler von kommunistischen Widerstandshelden in die Luft. Der Onkel wurde verhaftet und kam ein paar Jahre ins Gefängnis. Dabei verfestigte sich sein Partisanentum derart, dass er später immer wieder im Alltag in die Rolle eines Illegalen schlüpfte. Wenn er dann z.B. die Straße entlang ging und sein Neffe Kornel ihn schon von weitem fröhlich mit „Guten Tag Onkel Pawel“ begrüßte, erwiderte er: „Sie müssen mich verwechseln, junger Mann!“ Und ging weiter. Als er starb, wollte seine Frau ob seines lebenslangen Partisanentums eine Zusatzrente beantragen. In diesem Zusammenhang gelang es ihrer Schwester, einen kommunistischen Veteranen zu überreden, die Leichenrede zu halten. Diese erboste dann jedoch einige alte Mitkämpfer von Onkel Pawel derart, dass sie dem Redner auf dem Weg zum Leichenschmaus ins Haus der Witwe auflauerten – und ihn wegen seiner Verunglimpfung des Verstorbenen zusammenschlugen. Der Redner kam ins Krankenhaus – und alle im Haus versammelten beschimpften die Schläger, weil sie mit ihrer unbedachten rohen Tat die arme Witwe um ihre Zusatzrente gebracht hatten. Dem war jedoch nicht so, denn der Zusammengeschlagene nahm auch später nichts von seinem Lob der kämpferischen Tugenden des verstorbenen antikommunistischen Onkels zurück.
1948 setzten die Kommunisten durch, dass nur die Ghettoaufständischen, nicht jedoch die Opfer des Warschauer Aufstands mit einem Denkmal geehrt wurden. Sofern sie nicht ins Londoner Exil geflüchtet waren, wurden nach Kriegsende die Angehörigen der (bürgerlichen) Heimatarmee, die den Aufstand befehligten – und der auch gegen die Rote Armee gerichtet war – noch strafrechtlich verfolgt. Aber schon 1968 wurde dem deutschen Publizisten Sebastian Haffner während seines Warschau-Besuchs vom damaligen Innenminister Moczar, einem ehemaligen „Partisanenführer“, versichert, dass sein Veteranenverband sich „den Überlebenden der Heimatarmee geöffnet“ habe. Ein Denkmal für den Warschauer Aufstand ließ die kommunistische Partei jedoch erst 1984 zu, davor waren bereits etliche „Erinnerungen“ erschienen und es hatte sich für den 1.August ein „Festtagsritual“ entwickelt. 1994 – zum 50.Jahrestag des Aufstands – wurden erstmalig auch westliche Politiker dazu eingeladen. Dafür sagte jedoch der russische Staatspräsident ab. Für einen kleinen Skandal sorgte der deutsche Bundespräsident Roman Herzog, indem er den Warschauer Aufstand 1944 mit dem Ghettoaufstand 1943 verwechselte.
Der bulgarische Philosoph Zvetan Todorow hat in seinem Werk „Angesichts des Äußersten“ diese beiden gescheiterten Aufstände verglichen, wobei er sich u.a. auf die Äußerungen ihrer Führer – Marek Edelman und General Bor-Komorowski sowie auf dessen operativen Leiter Okulicki – bezog. Todorov schlug vor, in bezug auf Okulicki, der nach dem Krieg in sowjetischer Haft starb, „von heroischen Tugenden [zu] reden und bei den von Edelman überlieferten Fällen von Alltagstugenden…Dort wird der Tod zu einem Wert und einem Ziel, weil er das Absolute besser als das Leben verkörpert. Hier ist er das Mittel, nicht der Zweck. Er ist die letzte Zuflucht des Individuums, das seine Würde bewahren will“.
Mit dem Warschauer Aufstand hat sich zuletzt der Historiker Wlodzimierz Borodziej beschäftigt, er kommt am Ende seiner Studie auch auf Tzvetan Todorov zu sprechen, der den Warschauer Aufstand im Gegensatz zum Ghettoaufstand für eine „Entfesselung“ hält, die niemandem geholfen hat: „weder damals noch später, weder vor Ort noch anderswo“. Todorov irrt hier eventuell, schreibt Borodziej, denn „es liegt schließlich im Bereich des Möglichen, daß ohne die Niederlage des – hoffentlich letzten – großen Aufstands die Polen weder 1980 eine legale antikommunistische Gewerkschaft…erfunden hätten, noch den ‚Runden Tisch‘ neun Jahre später, mit dem die friedliche Entmachtung des Regimes eingeleitet und der Weg in die Freiheit beschritten wurde“.
Aber etwas unterscheidet die beiden Warschauer Aufstände doch: „Das wesentliche Merkmal des Aufstands im Warschauer Ghetto besteht darin“, schreibt der polnische Essayist Jan Josef Szczepanski, daß es hierbei nicht um eine „Vorahnung der unvermeidlichen Niederlage ging, sondern um eine bewusst angenommene Gewißheit“. Nur wenigen Kämpfern gelang die Flucht durch die Kanalisation – in die Wälder. Unter ihnen befand sich damals neben einigen hundert anderen Juden auch wieder Marek Edelman. Einen ersten knappen „Kampf“-Bericht über den „Ghettoaufstand von 1941 – 43“ verfaßte er bereits gleich nach dem Krieg. Weltweit bekannt wurde später ein Interview – „Dem Herrgott zuvorkommen“, das Hanna Krall mit ihm führte. Der letzte Kommandeur der jüdischen Kampforganisation ZOB versuchte darin das Heldentum (der bewaffneten Kämpfer) zu relativieren – im Vergleich zu dem Mut, mit dem viele Menschen im Ghetto nahezu klaglos ihrer Vernichtung entgegengingen: „Schießend stirbt es sich viel leichter“. Noch während des Aufstands schrieb der wenig später getötete erste Kommandeur Mordechai Anielewicz in einem Brief an Marek Edelman: “ Was wir erlebt haben, läßt sich mit Worten nicht beschreiben. Wir hätten es in unseren kühnsten Träumen nicht zu hoffen gewagt. Zwei mal zwangen wie dir Deutschen, das Ghetto fluchtartig zu verlassen…Ich habe das Gefühl, große Dinge geschehen, daß das, was wir wagten, von großer Bedeutung ist“. Den gescheiterten Aufstand betrachtet die israelische Armee heute als ihren eigentlichen Gründungsakt. Der Partisan ist immer eine vorübergehende Erscheinung – als Verlierer wird er wieder Zivilist oder er wird hingerichtet, als Gewinner wird er Politiker oder Offizier. Edelman beteiligte sich an beiden Aufständen – und zwei mal gelang ihm die Flucht – durch die Warschauer Kanalisation.
Die Selbstverbrennung als Widerstand:
Die Selbstverbrennung als „Phänomen“ begann spätestens mit dem „ersten Medienkrieg“ der Geschichte: Am 11.Juni 1963 verbrannte sich in Hué der buddhistische Mönch Thich Quang Duc – aus Protest gegen den „Vietnamkrieg“ der Amerikaner. Seine Tat wurde von einem Fernsehteam gefilmt und hernach weltweit ausgestrahlt. Danach überschütteten sich einige weitere vietnamesische Mönche mit Benzin und zündeten sich an.
In Warschau verbrannte sich am 8. September 1968 der ehemalige Partisan der Heimatarmee (AK) Ryszard Siwiec während des nationalen „Erntedankfestesfestes“ auf einer Tribüne im vollbesetzten Stadion von Praga. Ryszard Siwiec wollte damit gegen die antisemitische Kampagne der Regierung und den Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts in die Tschechoslowakei protestieren. Seine Selbstverbrennung wurde vom staatlichen Fernsehen aufgenommen, jedoch nie gesendet. Erst 1991 fand sich ein Regisseur, Maciej Drygas, der das Material aufstöberte und daraus einen Film machte: „Uslyszcie moj Krzyk“ (Höre meinen Schrei). Drygas suchte darin nach den Gründen für diese außergewöhnliche und extreme Tat. In den Archiven war der Vorfall als „Unfall“ abgelegt worden – Siewiec galt als „Psychopath aus Przemysl“. Den Feuerwehrleuten, die man für ihren Einsatz belohnte, sagte man, es handelte sich um die Tat eines „Unzufriedenen. Eine im Stadion passiv gebliebene Zuschauerin entschuldigt sich fast: „Ich habe erst später von all diesen Ungerechtigkeiten – Katyn und so – erfahren“. Im Film kommen außer Augenzeugen vor allem Leute zu Wort, die ihn näher kannten, u.a. seine Frau und seine fünf Kinder. Sie bezeichnen ihn als schweigsam und bibliophil. „Als die Studenten 1968 von den so genannten Arbeitern verprügelt wurden, fühlte er sich selbst angegriffen. Er hasste das Regime und wollte für die polnische Sache kämpfen“. Einem seiner Söhne hinterließ er „Gegenstände aus dem Warschauer Aufstand“, die Selbstverbrennung seines Vaters nennt dieser „eine große Heldentat“.
Der 1909 geborene Siewiec hatte Philosophie studiert und arbeitete zuletzt als Buchhalter, nebenbei züchtete er Hühner und besaß einen Garten. Am Tag der Tat bat er seine Frau, seinen Anzug zu bügeln, er müsse auf eine Dienstreise. Sie sagt, er war ein Unbedingter, „so aufrecht, dass man es kaum ertragen konnte. Beim letzten gemeinsamen Weihnachtsfest saß er schon wie ein Fremdkörper in der Familie.“ Im Zug nach Warschau schrieb er ihr einen Abschiedsbrief, u.a. hieß es darin: „Ich fühle mich stark“. In seiner Tasche hatte Siwiec Flugblätter dabei, in denen er erklärte, seine Selbstverbrennung geschehe aus Protest gegen die Sowjetunion und ihre verbrecherische Diktatur. Den Text hatte er zwei Tage zuvor auch auf ein Tonband gesprochen, das er hinterließ, es endete mit den Worten: „Hört meinen Schrei!“. Als er brannte, schrie er mehrmals „Weg mit Gomulka!“ Der Priester und Philosoph Jozef Tischner erklärte dazu im Film: „Indem er es den buddhistischen Mönchen nachtat, vollzog er einen Akt der Selbstvernichtung, der gleichzeitig ein schöpferischer Akt war.“ Ein TV-Reporter, der damals das Erntedankfest im Stadion kommentierte und Siwiec brennen sah, meint dagegen im Film: „Das war für mich ein relativ wirkungsloser Protest“ – denn das Fest wurde nicht unterbrochen. Hunderte von Jungen und Mädchen tanzten Krakowiak und Mazurka. Sie hörten auch nicht damit auf, als wenige Meter entfernt von ihnen Siewic brannte und einige ihm nächst stehende Zuschauer versuchten, das Feuer mit ihren Jacken zu löschen. „Die Musik war zu laut, um seine Rufe zu verstehen“. Quälend lang werden diese nun von Drygas gezeigt – mit einem gleichsam Edvard Munch nachempfundenen Schrei ohne Ton endet der Film. Siwiec lag noch vier Tage im Krankenhaus, bis er am 12.September starb. Erst im Mai 1969 verbreitete Radio Free Europa die Nachricht von seiner Selbstverbrennung.
Nachdem Maciej Drygas 1991 den Film darüber gezeigt hatte, dauerte es noch einmal 12 Jahre, bis der gewendete Kommunist Alexander Kwasniewski als Staatspräsident Riyszard Siwiec posthum einen Orden verlieh. Dieser wurde von der Familie des Toten jedoch zurückgewiesen. Inzwischen hat man aber im Stadion von Praga eine Gedenktafel angebracht und am 4. September 2006 wurde Siwiec ein Orden von der Slowakei verliehen, den seine Kinder in Empfang nahmen. Sie bedankten sich außerdem bei Drygas für den Film über ihren Vater.
In Polen erschien 2006 ein Roman „Weder Fisch noch Fleisch“ (Ni pies, ni wydra) von Viktoria Korb – über das Jahr 68. Die Autorin war als aufmüpfige Studentin und Jüdin im „März 1968“ ein Opfer der antisemitischen Kampagne der polnischen Arbeiterpartei geworden – und daraufhin nach Westberlin emigriert. An einer Stelle erwähnt die Autorin kurz, dass davon gesprochen wurde, im Stadion von Praga habe sich angeblich jemand aus Protest gegen die Politik der Regierung und der Invasion in der CSSR verbrannt. Dazu erklärte sie mir jetzt: „Damals war dieses Hinausdrängen der Juden, die wir uns zuvor überhaupt keine Gedanken über unser Juden-Sein gemacht hatten, so erschütternd, dass wir diese Selbstverbrennung nur ganz am Rande als Gerücht oder Nachricht wahrnahmen, und deswegen habe ich es im Roman auch nur so kurz erwähnt.“
Ebenfalls aus Protest gegen den Einmarsch der Roten Armeen in der Tschechoslowakei verbrannte sich im Januar 1969 auf dem Wenzelsplatz in Prag der Philosophiestudent Jan Pallach. In seinem Abschiedsbrief schrieb er: „Meine Tat hat ihren Sinn erfüllt. Aber niemand sollte sie wiederholen.“ Die Regierung versuchte danach – stets vergeblich – zu verhindern, dass man seiner alljährlich am 16.1. öffentlich gedachte und bemühte sich im übrigen, die Mär zu verbreiten, dass hinter seiner Tat eine ganze (konterrevolutionäre) Gruppe stecke, deren Opfer Pallach quasi geworden war. Inzwischen wurde der Platz vor der philosophischen Fakultät der Prager Universität nach ihm benannt und eine Tafel am Gebäude angebracht, dass an ihn und seine Tat erinnert.
Weniger bekannt als Jan Pallach ist der Student Jan Zajic, der sich – ebenfalls aus Protest gegen die sowjetische Besetzung seines Landes – einen Monat später als „Fackel Nr. 2“ auf dem Wenzelsplatz mit Benzin übergoß und verbrannte. Heute erinnert eine Gedenkstätte vor dem Nationalmuseum an ihn. Wieder zwei Monate später, am 4.April 1969, verbrannte sich der Arbeiter Evzen Plocek auf dem Marktplatz von Jihlava – aus den selben Gründen, doch weil diese Tat in der Provinz geschah, blieb Plocek noch unbekannter als Zaciz.
1976 verbrannte sich in Zeitz der Pfarrer Oskar Brüsewitz – gleichfalls aus Protest gegen die kommunistische Staatspolitik. In seinem Abschiedsbrief deutete er an, dass für ihn der „Kampf“ zwischen Christentum und Kommunismus einer zwischen „Licht und Finsternis“ sei. Mit seiner Selbstverbrennung wollte er in dieser Auseinandersetzung Stellung beziehen.
Im März 1980 verbrannte sich in Krakau, an einen Brunnen des Hauptmarkts, gekettet ein älterer Mann namens Walenty Badylak. Mit seiner Tat wollte er gegen die Demoralisierung der Jugend, gegen die Vernichtung der ehrlichen Handarbeit und gegen das Schweigen über „Katyn“ protestieren. Er war in den osteuropäischen Ländern der letzte, der sich aus Protest gegen den Kommunismus das Leben nahm. Aber Mitte der Neunzigerjahre kommt es erneut und immer wieder zu Selbstverbrennungen von zumeist jungen Polen und Tschechen, die das Leben hier und heute nicht aushalten – und gleichzeitig darauf bestehen, nicht verückt zu sein. So zündete sich am 9. März 1995 der in die USA emigrierte ehemalige polnische Förster Zbigniew K. aus Augustow in Manhattan – in den Räumen des Roten Kreuzes – an. Viele Mitglieder seiner Gemeinde, die der Arbeit wegen nach Amerika auswanderten, kämen „in Metallsärgen zurück“, meinte der Pfarrer in Augustow. Diese Selbstverbrennungen in der kapitalistischen „Transformationsperiode“ der Ostblockstaaten sind jedoch fortan gleichsam „privat“.