vonlottmann 03.08.2009

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Aufgrund der heftigen Nachfrage (“Was hat er eigentlich gesagt?”) hier noch einmal Daniel Kehlmanns umstrittene Rede gegen das Regietheater im Originalwortlaut:

„Das bürgerliche Leben“, sagte Max Reinhardt in einer Rede an der Columbia Uni-versity, „ist eng begrenzt und arm an Gefühlsinhalten. Es hat aus seiner Armut lauter Tugenden gemacht, zwischen denen es sich schlecht und recht durchzwängt.“
Im Ungenügen also an dem einen Dasein, das uns gegeben ist, an der Mangelhaftigkeit unserer Gefühle, der Begrenztheit der Wege, die uns offen stehen, sah der Mitgründer dieser Festspiele die Wurzel unserer Faszination für das Theater.
„Wir alle tragen die Möglichkeit zu allen Leidenschaften, zu allen Schicksalen, zu allen Lebensformen in uns.“ Wo aber das Theater die Berührung mit der existentiellen Wahrhaftigkeit verliere, bleibe leeres Spiel und, schlimmer noch, blanke Langeweile. „Das Theater kann, von allen guten Geistern verlassen, das traurigste Gewerbe, die armseligste Prostitution sein.“
Ich hörte diese Rede zum ersten Mal als Kind auf einer Langspielplatte meines Va-ters. Das mit dem traurigsten Gewerbe verstand ich nicht ganz, schon weil ich nicht so recht wußte, was das Wort Prostitution bedeutet, das über die Armut des bür-gerlichen Lebens aber verstand ich sehr wohl: Natürlich sehnte ich mich nach anderen Möglichkeiten und danach, mehr als ein Leben zu führen, alle Kinder tun das, werden sie erwachsen, verdrängen sie es, es sei denn, sie werden Schauspieler, oder sie schreiben. Wenn Reinhardt das Theater „den seligsten Schlupfwinkel derer“ nennt, „die ihre Kindheit heimlich in die Tasche gesteckt und sich damit auf und davon ge-macht haben“, so fand ich genau diesen Schlupfwinkel in den Büchern, im Erfinden, in der kontrollierten Flucht in die Phantasie, die jeder Roman bietet. Vom Theater a-ber hielt ich mich lieber fern.
Das hatte mit meinem Elternhaus zu tun. Mein Vater war Regisseur, und das Theater gehörte nun einmal zu seiner Welt, zum Bereich seiner Zuständigkeit, dem ich als Sohn, der etwas Eigenes sein und tun wollte, lieber nicht zu nahe kam. Gerade als einer, der unter Schauspielern aufgewachsen ist, jenen stets angenehmen und doch so verzweifelt des Zuspruchs bedürftigen Menschen, hatte ich schon früh das Gefühl, daß es gut für mich wäre, mein Leben in anderem Umfeld zu verbringen.
An meinem ersten und größten Theatererlebnis waren übrigens gar keine Schauspieler beteiligt. Ich war vier Jahre alt, mein Vater probte im Wiener Theater an der Jo-sefstadt, meine Mutter und ich waren aus München gekommen, ihn zu besuchen. Eines Morgens nahm er mich mit zur Beleuchtungsprobe. Ich sehe noch den leeren Zuschauerraum vor mir, die leere Bühne bei offenem Vorhang. Mein Vater rief etwas nach oben, und plötzlich begann sich ein riesiger Kristalluster – mir jedenfalls kam er riesig vor – aufleuchtend aus der Dunkelheit herabzusenken. Der gewaltige Raum wurde hell. Mein Vater rief wieder etwas, der Luster stieg auf, die Schatten wurden länger, und schließlich war der Luster im Schwarz der Decke verschwunden. Ich wußte natürlich nicht, daß sich das allabendlich ereignete; ich glaubte wirklich, es wä-re nur für mich und zum ersten Mal geschehen. Ich war erschrocken und glücklich. Keine Theateraufführung kam je an diesen Vormittag heran.
In den nächsten Jahren sah ich viele Inszenierungen meines Vaters, die meisten als Fernsehaufzeichnungen, nur mehr wenige auf der Bühne, bis sein Leben Ende der achtziger Jahre eine traurige Wendung nahm: Lange Zeit war er einer der erfolgrei-chen Regisseure des deutschsprachigen Fernsehens und Theaters gewesen – übrigens arbeitete er auch bei den Salzburger Festspielen – nun aber, mit verblüffender Ge-schwindigkeit, geriet er aus der Mode und in Vergessenheit.
Von seinem Vater zu lernen ist ja immer eine zweischneidige Sache. Man möchte doch eigenständig sein, instinktiv lehnt man Lektionen des Elternhauses ab und sucht seine Lehrer so fern davon wie möglich. Als mich vor kurzem ein Germanist darauf hinwies, daß die Hauptfigur meines ersten Romans vaterlos ist, ein Mann ohne Her-kunft und Abstammung, so verblüffte es mich selbst, wie sehr man das, was ich damals für spielerische Erfindung hielt, als Absichtserklärung des beginnenden Autors lesen kann: niemandem verpflichtet und von keinem überschattet sein, von nirgendwo herkommen. Aber in Wirklichkeit ist es bekanntlich nie so, und Stunden, ja Tage würden nicht ausreichen, um auch nur einen Teil der Schuld zu umreißen, die ich Michael Kehlmann nicht nur als Mensch – das ist selbstverständlich und braucht hier nicht erklärt zu werden –, sondern als Künstler, als Gestalter, als Erzähler in Bildern und Szenen, zurückzuzahlen hätte, gehörte es nicht zum Wesen solcher Schulden, daß sie nicht zurückgezahlt werden können. Dadurch etwa, daß ich ihm zuhören durfte, wenn er seine Drehbücher der Verfilmungen Joseph Roths ins Tonbandgerät diktierte, lernte ich, daß Erzählen weniger eine Frage des Inhaltes als der Atmosphäre ist, eher Haltung als Handwerk, eher Stimme als Technik. Ich lernte von ihm den Wert des Humors, den Wert der Gelassenheit, vor allem auch den Wert des Zorns. Über seine Inszenierungen dachte er wochenlang nach und formte alles noch vor der ersten Leseprobe in seinem Kopf: Er wußte, wie ein Stück aussehen sollte, unter seiner Leitung wurde nicht diskutiert, dafür, so meinte er, habe man ihn ja engagiert. Kunst bestehe aus großen, kleinen und winzigen Entscheidungen, Aberhunderten davon, jeden einzelnen Tag, und man selbst wisse nie, ob man das Richtige tue, man könne nur darauf hoffen und müsse konsequent bleiben; immer an sich zu zweifeln sei ebenso wichtig, wie diese Zweifel dann während der Arbeit mit sich allein abzumachen.
Vor allem aber sah er im Regisseur einen Diener des Autors. Jawohl, Diener – so sagte er, und an dieser Auffassung lag es, daß er auf den deutschsprachigen Bühnen in den letzten zwei Jahrzehnten seines Lebens, trotz zunächst noch guter Gesundheit, nicht mehr arbeiten durfte. In einem Bereich, wo es keinen schlimmeren Vorwurf gibt als das Wort altmodisch, galt er plötzlich als eben dies, und wohl auch deswegen war ich zunehmend entschlossen, mich vom Theater fernzuhalten und lieber Bücher zu schreiben. Was immer einem Romancier zustößt, so dachte ich und denke es immer noch, es kann ihn doch keiner daran hindern, seine Arbeit zu tun. Schlimmstenfalls bleiben seine Werke ungedruckt, aber schreiben darf er sie doch, und niemand hält ihn davon ab, auf eine gewogenere Zukunft zu hoffen. Der Regisseur aber, der sich herrschenden Dogmen verschließt, hat diese Chance nicht. Als mein Vater durch den Wandel der Umstände seine Arbeit nicht mehr ausüben konnte, senkte sich allmählich die Krankheit des Vergessens auf ihn herab, bis ihn ganz zuletzt die Demenz vom Bewußtsein der Enttäuschungen befreite.
Ich bin also, ich leugne es nicht, voreingenommen, aber andere sind es nicht. Spricht man mit Russen, mit Polen, mit Engländern oder Skandinaviern, die deutschsprachige Lande besuchen und hier ins Theater gehen, so sind sie oft ziemlich verwirrt. Was das denn solle, fragen sie, was denn hier los sei, warum das denn auf den Bühnen alles immer so ähnlich aussehe, ständig Videowände und Spaghettiessen, warum sei immer irgendwer mit irgendwas beschmiert, wozu all das Gezucke und routiniert hysterische Geschrei? Ob das denn staatlich vorgeschrieben sei?
Was soll man darauf antworten? Aus rein familiären Gründen – weil ich erlebt habe, daß einer, der es anders machen wollte, es gar nicht mehr machen konnte – und weil es mich außerdem jedesmal mit Melancholie erfüllt, im Ausland grandiose Stücke lebender Dramatiker zu sehen, die bei uns praktisch unaufführbar sind, weil ihre Autoren keine verfremdenden Inszenierungen gestatten, antworte ich diesen Verwunderten dann nicht, daß es nun einmal so sein müsse, daß sie keine Ahnung hätten, wie schlimm verstaubt das Theater in ihren Heimatstädten sei und wir eben mal wieder einen Sonderweg gefunden hätten, zu speziell und verschlungen, um von anderen Völkern verstanden zu werden. Sondern ich sage in etwa folgendes:
Bei uns ist etwas Absonderliches geschehen. Irgendwie ist es in den vergangenen Jahrzehnten dahin gekommen, daß die Frage, ob man Schiller in historischen Kos-tümen oder besser mit den inzwischen schon altbewährten Zutaten der sogenannten Aktualisierung aufführen solle, zur am stärksten mit Ideologie befrachteten Frage überhaupt geworden ist. Eher ist es möglich, unwidersprochen den reinsten Wahnwitz zu behaupten, eher darf man Jörg Haider einen großen Mann oder George W. Bush intelligent nennen, als leise und schüchtern auszusprechen, daß die historisch akkurate Inszenierung eines Theaterstücks einfach nur eine ästhetische Entscheidung ist, nicht besser und nicht schlechter als die Verfremdung, auf keinen Fall aber ein per se reaktionäres Unterfangen. Als vor vier Jahren der Satiriker Joachim Lottmann im SPIEGEL einen spöttischen Artikel über deutsche Regiegebräuche veröffentlichte, ging eine Empörungswelle durch die Redaktionen, als schriebe man das Jahr 1910 und einer hätte Kaiser Wilhelm gekränkt. Es hat wohl mit der folgenreichsten Allianz der vergangenen Jahrzehnte zu tun: dem Bündnis zwischen Kitsch und Avantgarde. Nach wie vor und allezeit schätzt der Philister das Althergebrachte, aber mittlerweile muß sich dieses Althergebrachte auf eine strikt formelhafte Weise als neu geben. Denn wer ein Reihenhaus bewohnen, christlich-konservative Parteien wählen, seine Kinder auf Privatschulen schicken und sich dennoch als aufgeschlossener Bohemien ohne Vorurteil fühlen möchte – was bleibt ihm denn anderes als das Theater? In einer Welt, in der niemand mehr Marx liest und kontroverse Diskussionen sich eigentlich nur noch um Sport drehen, ist das Regietheater zur letzten verbliebenen Schrumpfform linker Ideologie degeneriert.
Wie alt die Fragestellung und auch die Praxis ist, zeigt sich auch darin, daß der scharfsinnigste Text darüber aus dem Jahr 1926 stammt: Karl Kraus’ furioser Aufsatz „Mein Vorurteil gegen Piscator“. Der große Regisseur Erwin Piscator hatte in Berlin eine, das Wort war damals neu, „aktualisierte“ Inszenierung von Schillers „Räubern“ auf die Bühne gebracht, was Kraus dazu veranlaßte, grundsätzlich zu werden. In Wahrheit, so Kraus, sei Aktualisieren das Gegenteil dessen, was die Presse darunter verstehe, nämlich die behutsame Wiederherstellung dessen, was wir nicht mehr von der Vergangenheit wüßten, was uns unwiderruflich von ihr trenne. „’Aktuell’“, schrieb er, „ist die Überwindung des Zeitwiderstands, die Wegräumung des Überzugs, den das Geräusch des Lebens dem Gehör und der Sprache angetan hat. Für aktuell aber halten die Zutreiber der Zeit den Triumph des Geräusches über das Gedicht, die Entstellung seiner Geistigkeit durch ein psychologisches Motiv, das der Journalbildung“ – also der Bildung des Journalismus – „erschlossen ist.“
Man muß Kraus hierin nicht folgen, man kann es auch ganz anders sehen, man darf selbstverständlich auch für die drastischste Verfremdung eintreten, aber man sollte sich deswegen nicht für einen fortschrittlichen Menschen halten. Kraus war in keiner Weise ein Anhänger des großen Ausstattungstheaters, er trat für äußerste Reduktion ein; was ihm vorschwebte, war näher bei dem Minimalismus eines Peter Brook als bei Max Reinhardt. Ein anderer Minimalist, Samuel Beckett verbot regelmäßig Aufführungen seiner Werke, die er als entstellend empfand und die von seinen akribischen Regieanweisungen abwichen – möchte man ihn darum rückständig nennen? Wer gegen das sogenannte Regietheater ist, muß beileibe nicht konservativ sein, aber gerade mancher tiefkonservative Mensch hält die teuren und konventionellen Spektakel des Regietheater für unangreifbar. Ein teuflischer Kreis: Wo Regisseure die Stars sind, dort halten sich die Autoren zurück. Wo sich die Au-toren zurückhalten, beanspruchen die Regisseure wiederum den Status eines Stars, dem kein Urheber, lebend oder tot, dreinzureden habe: „Wir sind die Praktiker!“ rufen sie und haben vom Praktischen oft weniger Ahnung als jeder Beleuchter, der hinter ihrem Rücken die Augen verdreht, wenn ihnen wieder einmal die Einfälle kommen. Und unterdessen bleibt der Großteil der interessierten Menschen, die einstmals Publikum gewesen wären, daheim, liest Romane, geht ins Kino, kauft DVD-Boxen mit den intelligentesten amerikanischen Serien und nimmt Theater nur noch als fernen Lärm wahr, als Anlaß für wirre Artikel im Feuilleton, als Privatvergnügen einer kleinen Gruppe folgsamer Pilger, ohne Relevanz für Leben, Gesellschaft und Gegenwart. „Das traurigste Gewerbe“, sagte Reinhardt – und nicht selten ist man versucht, ihm zuzustimmen, sich abzuwenden und einfach das Fernsehen einzu-schalten.
Aber ich wollte ja von Michael Kehlmann reden und davon, was ihm die Bühne und was er für sie bedeutete, wieso bin ich so abgeschweift? Vielleicht bin ich es gar nicht, ich habe von dem gesprochen, was er neben vielen Gleichgesinnten zu verhindern versuchte und was doch Gestalt annahm. „Ich bin größenwahnsinnig“, schrieb Karl Kraus, „ich weiß, daß meine Zeit nicht kommen wird.“ Auch für meinen Vater zeichnete sich ab, daß seine Zeit nicht mehr kommen würde, daß sie, wenn überhaupt, unwiderruflich hinter ihm lag – und doch paßte er sich nicht an und arbeitete lieber gar nicht als unter Umständen, die ihm nicht die volle Freiheit gelassen hätten. Man kann das durchaus Größenwahn nennen. Früher oder später kommt vielleicht für jeden Künstler der Augenblick, da sein Weg und der Zeitge-schmack sich trennen. Häufig ist Beharren ein Zeichen der Verstocktheit, manchmal aber auch die einzige Möglichkeit.
Und so denke ich oft an jenen Luster damals im leeren Theater. An die wundersamen Widersprüche denke ich, die jedesmal von neuem auf der Bühne zusammenfinden: Etwas, das jeden Abend passiert, passiert gerade in dem Moment zum ersten Mal und nie wieder genau so; es wird Gegenwart und ist doch pure Wiederholung; Figuren stehen vor uns und tun es doch nicht, so daß wir Zeugen sind bei einem Ereignis, das nicht wirklich geschieht, und zwar in einer Spontaneität, wie sie nur nach langem Proben möglich wird. Film ist magisch, Theater aber ist paradox. Und das bleibt es selbst in der albernsten Gestalt, und das wird es noch sein, wenn man sich so mancher hochsubventionierten Absurdität nur noch mit amüsiertem Lächeln erinnert. „Nicht Verstellung ist die Aufgabe des Schauspielers“, so Reinhardt, „sondern Enthüllung.“ Die Wahrheit auszusprechen also über unsere von Konvention und Gewohnheit eingeschnürte Natur, die Wahrheit über das eine kurze Leben, das wir führen. Und über die unzähligen Leben, die wir darüber versäumen und denen wir nirgendwo anders begegnen können als in unserer Phantasie und in der Kunst.
DANIEL KEHLMANN

Soweit also die berühmte Rede! Interessant finde ich, daß sich demnach schon Karl Kraus gegen die Aktualisierung von Stücken aussprach. Auch ich fand schon immer, daß eine Aktualisierung dem Stück genau das nimmt, was an ihm wertvoll ist, nämlich die Differenz zur Gegenwart. Die Aktualisierung behauptet ja unausgesprochen stets, es sei auch früher schon so gewesen wie heute. Die Minna von Barnhelm in eine Bundeswehrkaserne zu verlegen und die Schauspieler Fußballjargon sprechen zu lassen, reißt den Unterschied zu früher ein. Wahrheit ist ohne Geschichtsbewußtsein gar nicht möglich. Wer also immer suggeriert, Geschichte gebe es gar nicht, arbeitet pausenlos gegen die Wahrheit. Einen Lessing so zu zeigen, ist a priori Lüge. Also nicht nur wertlos, sondern richtig schädlich, weil verblödend. Wie gesagt, schon DAS ist also falsch, ganz zu schweigen von all der ‘Verfremdung’, die dann noch draufgesetzt wird (Minna als Transvestit, die Soldaten nackt, die Dialoge gerappt oder ganz gestrichen und so weiter). Nun, dieser Gedanke kam mir eben noch beim Lesen der Kehlmannrede (alles andere ist ja längst gesagt). Doch nun zum definitiven Ende der Debatte noch – ebenfalls nachgereicht – der offene Brief, beziehungsweise die ‘öffentliche Notiz’, die Reinald Goetz dazu verfaßt hatte:

“Notiz zum Kehlmann-Pro und Contra in der taz:
Selbstgefällige Ignoranz gegen kundige Analyse, dumpfes Geblöke gegen unaufgeregtes, sympathisches Abwägen – schwer vorstellbar, dass es einen denkenden Menschen gibt, der nach Lektüre nicht umgehend die Position der Kontrahentin einnehmen will. Überaus wahrscheinlich sogar, dass in den nächsten Tagen hunderte Theaterabos mit der alleinigen Begründung geordert werden, man wolle nicht wie Lottmann sein.
Eine Deutung im Einzelnen lohnt kaum die Mühe – zu wirr, zu herbeigebogen, zu durchschaubar das Ganze: Einzig und allein das Erwähntwordensein in überregional wahrgenommenem Gewäsch lässt ihn dem unerträglich weinerlichen Kehlmann beispringen – und macht ihn taub für die wenig subtile Herabwürdigung seines Werks durch ebendiesen: ein bisschen Satire.
Oder war hier tatsächlich kühne Zuspitzung intendiert? Für diesen Fall regt sich erneut Mitleid für einen, der damit zum guten Schluss unwiderruflich das geworden wäre, was er nie sein wollte: Alt, gestrig, ohne Kontakt zu den Lebenden über Gegenstände faselnd, die er nicht versteht – ja nicht einmal kennen zu müssen glaubt, um über sie zu urteilen nach Maßstäben einer gottlob zum Untergang geweihten Welt.
RAINALD GOETZ”

Aber damit nicht ausgerechnet ER, Rainald Goetz, in dieser Debatte das allerletzte Wort hat – obwohl es dramaturgisch schön wäre – gebe ich mit der Erlaubnis Daniel Kehlmanns den Brief ins Netz, den er, Kehlmann, mir nach der Goetz-Volte geschrieben hatte.
Das vorletzte Wort nun noch von mir, dem Autor des von Goetz so gescholtenen und immer wieder beerdigten Blogs ‘Auf der Borderline nachts um halb eins’: Der oder das Blog endet wirklich, aber erst in knapp acht Wochen, nämlich am 27. September 2009 um 17.59 Uhr. Es ist die Minute vor der Bekanntgabe des Wahlergebnisses der Bundestagswahl. Danach beginnt die Ära Guido Westerwelles, und die will ich definitiv NICHT kommentieren, in keinem Blog der Welt. “Zu Westerwelle fällt mir nichts mehr ein”, hätte Karl Kraus gesagt. Außerdem bin ich dann in Indien, und von dort läßt sich Deutschland schwer kommentieren. Doch nun Daniel Kehlmann mit dem Schlußwort zur Debatte ‘Rainald Goetz und das Regietheater’:

“Lieber Joachim Lottmann,
nun muß ich Ihnen endlich doch schreiben, um Ihnen zu sagen, wie sehr ich mich über Ihren Blogeintrag, den mit dem Titel “Rainald Goetz”, gefreut habe. Es ist genau so bei mir, wie Sie vermuten, und zu erfahren, daß wir beide aus ähnlicher Kindheitsverbundenheit mit dem “richtigen” Theater heraus argumentieren, hat mich bestärkt und glücklich gemacht. Ihr Artikel damals im SPIEGEL war so eine Erleichterung für mich, er kam damals aus dem Nichts, ganz unerwartet und so richtig und brillant und kraftvoll. Eben auch in Erinnerung daran dachte ich, daß es jetzt meine Zeit wäre, etwas zu sagen, so wie Sie es damals getan haben.
Und wieder einmal kann ich Rainald Goetz’ Zorn nicht begreifen. Seitdem ich einmal Maxim Biller in der FAZ verteidigt habe, verfolgt er auch mich mit seiner Wut, und das, obwohl er vorher meine Bücher allen möglichen Leuten zu lesen empfohlen hatte. Wirklich erschrocken hat mich aber seine Behauptung in jener von Ihnen publizierten Note, daß ich Sie mit der Bezeichnung “Satiriker” hätte herabsetzen wollen. Ich habe erst vor kurzem in meiner Rede auf Max Goldt erklärt, daß der Begriff Satiriker für mich Schriftsteller wie Karl Kraus, Swift und Voltaire einschließt und eben nicht die Fernsehblödler und Scherzbolde, und in diesem Sinne, ohne noch einmal groß das Wort zu problematisieren, habe ich es in meiner Rede auf Sie angewandt. Ich hoffe sehr, daß Sie sich dadurch nicht gekränkt fühlen; nicht nur Ihr Theater-Artikel bedeutet mir viel, ich bin auch ein großer Bewunderer Ihrer Bücher und habe besonders das Borderline-Buch oft empfohlen und weitergeschenkt (auch wenn mir die arme Bettina Galvagni ein wenig leidtat ob der Schärfe Ihres porträtierenden Blickes).
Vielleicht können wir uns ja einmal treffen, in Berlin, gerne auch zusammen mit Maxim Biller. Und was das Theater angeht, so habe ich dem SPIEGEL jetzt noch ein Interview zum Thema gegeben und werde erstmal nichts weiteres sagen. Mal sehen, wer als nächstes dran sein wird, in ein paar Jahren, etwas über das Theater zu schreibe und alle angestellten Subventionsfunktionäre zu empören. Sie haben ja recht, wir haben beide das Glück, nach London oder New York fliegen zu können, wenn wir es möchten und dort Theater zu sehen, wie es sein kann und soll. Und das wollen wir auch tun. Gerne und oft.
Ganz herzliche Grüße aus Salzburg,
Ihr Daniel Kehlmann”

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