vondorothea hahn 15.10.2010

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Gladys Scott ist 36. Jamie Scott ist 38. Zusammen haben die beiden Schwestern bereits 32 Jahre Gefängnis auf dem Buckel. Sie sitzen in Jackson hinter Gittern. Im Bundesstaat Mississippi. Im tiefen Süden der USA. Sie sind verurteilt wegen Raub. Die Beute: 11 $. In Worten: elf Dollar.

Jamie und Gladys Scott

Die beiden Frauen haben immer ihre Unschuld beteuert. Aber die Justiz hält sie für die „Masterminds“ – die Vordenkerinnen – eines schweren Verbrechens. Als 19- und 21jährige sollen sie zu Weihnachten 1993 zwei Männer in der Kleinstadt Forest, in Mississippi, in eine Falle gelockt haben. Dort warteten drei Jungen mit einer Pistole und raubten ihnen ihre Portemonnaies. Verletzte gab es nicht.

Die drei Jungen waren zur Tatzeit zwischen 14 und 18 Jahre alt. Alle drei haben die Tat gestanden. Alle sind zu acht Jahren Gefängnis verurteilt worden. Und alle sind nach zwei Jahren frei gelassen worden. Die beiden Mädchen hingegen, von denen keine eine Vorstrafe hatte und die nichts von der Tat gewußt haben wollen, bekamen lebenslänglich.

In ihren ersten Verhören sagten die Jungen, Jamie und Gladys Scott hätten nichts mit dem Raub zu tun. Dann änderten sie ihre Aussagen. Howard Patrick, der zur Tatzeit 14 war, sollte später einem Anwalt erklären, er sei unter Druck gesetzt worden, die Mädchen zu beschuldigen: “Wenn ich nicht mitmachte, wollten sie mich nach Parchman schicken und mich zur Frau machen“. Mit „Parchman“ ist ein berüchtigtes Gefängnis gemeint. „Zur Frau machen“ bedeutet Vergewaltigung.

Ohne ihre Mutter wären die beiden Scott-Schwestern spurlos in der Armee von 2,3 Millionen Gefängnisinsassen in den USA verschwunden. Das Land hat (sowohl in absoluten Zahlen, als auch relativ zur Gesamtbevölkerung) die meisten Gefangenen weltweit. Es gehört zu den zahlreichen Besonderheiten dieses geschlossenen Systems, dass mehr als die Hälfte seiner Insassen wegen nicht gewalttätiger Delikte – darunter Drogenkonsum, Mundraub und andere Bagatellen – sitzt. Dass weit über die Hälfte der Gefangenen aus der afroamerikanischen Bevölkerungsminderheit stammt. Und dass immer wieder Justizirrtümer bekannt werden.

Während die Rezession der vergangenen Jahre fast alle anderen Branchen in den USA in die Krise getrieben hat, ist die Gefängnisindustrie ein Wachstumsgeschäft. Seit den 70er Jahren hat sich die Zahl der Gefangenen versiebenfacht. An ihrer billigen Arbeitskraft bedienen sich neben dem Staat längst auch börsennotierte Unternehmen. Sie betreiben mehr als 100 private Gefängnisse.

Gegenüber dieser boomenden Industrie hat Evelyn Rasco (64) allein für ihre beiden Töchter gekämpft. Sie hat alle Instanzen der Justiz erschöpft, hat an Talk-Shows teilgenommen und hat Bürgerinitiativen aufgerüttelt. Sie hat viel Gleichgültigkeit erlebt. Und viele harte Schläge. Darunter die Erkrankung ihrer jüngeren Tochter im Gefängnis an Nierenversagen.

Doch nach 16 Jahren hat die Mutter in diesem Herbst das Gefühl, nah am Ziel zu sein. Für ihren Optimismus sorgen mehrere Faktoren: Im September haben 300 Demonstranten in Jackson, der Hauptstadt von Mississippi, die Freilassung von Gladys und Jamie Scott verlangt. Auch örtliche Politiker waren dabei. Der Gouverneur des Bundesstaates persönlich hat eine neue Untersuchung des Falls angeordnet. Und selbst der – inzwischen verrentete – Staatsanwalt, der vor 16 Jahren das Verbrechen untersucht hat, spricht sich jetzt für eine Strafreduzierung für die beiden Scott-Schwestern aus. Ken Turner nennt das: „angemessen“.

Für die beiden Schwestern läßt sich „angemessen“ in Zahlen ausdrücken. Sie haben in den letzten 16 Jahren einen anderen Preis des Dollars kennen gelernt. Bis heute hat jede von ihnen für jeden geraubten Dollar mit 17,5 Monaten Gefängnis gebüßt.

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