von 08.12.2010

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Kinder in der Natur - ein seltenes Bild (Foto: www.sxc.hu/photo/1193955/Lizenz: by)

Mit dem Tamagotchi fing es an. Als das virtuelle Haustier 1997 auf den deutschen Markt kam, war schnell ein Hype geboren. Das Spielzeug sollte den Kindern angeblich Verantwortungsbewusstsein beibringen. Mit einem Reset-Knopf zur Wiederbelebung ausgestattet, sahen Kritiker das eher gegenteilig. Den Kindern, die das Plastik-Ei mit seiner primitiven künstlichen Intelligenz massenweise kauften, war das freilich egal. Offenbar auch ihren Eltern: allein das japanische Original verkaufte sich hierzulande zwei Millionen Mal. Dazu kommen die ungreifbaren Verkaufszahlen der zahllosen Nachahmer.

Und was gab’s noch so Ende der Neunziger? Die Grünen wiesen in ihrem Wahlprogramm 1998 auf die Notwendigkeit des Klimaschutzes hin und forderten die Serienproduktion eines „3-Liter-Autos“. In ihrem Wahlprogramm stand auch der Vorwurf, während der Wirtschaftskrise ruhe die Ökologie.

Was 1998 noch als Öko-Fundamentalismus verschrien war, ist 2010 längst Realität. Die Ökosteuer ist politisch zementiert, der Klimaschutz aus dem gesellschaftlichen Mainstream nicht mehr wegzudenken. Und die rege Nachfrage sorgt dafür, dass die Autoindustrie ganz freiwillig 3-Liter-Fahrzeuge produziert. Den Prozess konnte auch die aktuelle Weltwirtschaftskrise nicht lahmlegen, neben der die Turbulenzen von 1997 und 1998 nur ein kleiner Windstoß sind.

Es setzt sich eben langsam die Einsicht durch, dass die Umwelt kein Hindernis, sondern die Grundlage für unser Leben ist. Und dass es tatsächlich Sinn macht, mit ihr zu leben anstatt gegen sie. Eine Rückbesinnung auf die Natur und ihre Bedeutung für unser Leben scheint sich in der Gesellschaft zu etablieren. Schließlich bedeutet „öko“ nicht zuletzt, Umwelt und Tiere als schützenswert zu begreifen, statt sie wie Gegenstände als Mittel zum Zweck zu sehen. Zumindest dachte ich das bisher.

Aber mittlerweile zweifle ich an meiner Annahme. Denn der Inbegriff der entfremdeten Natur, der findet auch in Zeiten von Öko-Abteilungen bei Discountern noch immer großen Anklang. Heute heißt er nicht mehr Tamagotchi, sondern Eye-Pet oder Nintendogs und läuft auf aktuellen Spielekonsolen oder Smartphones. Er ist kein kleiner, schwarz-weißer Pixelhaufen mehr, sondern ein mehr oder weniger realistisch wirkendes, animiertes Wesen. Das Spielprinzip aber bleibt dasselbe. Und es stellt sich mir die Frage, warum viele Eltern in den Supermärkten „bio“ kaufen, ihren Kindern aber virtuelle Haustiere schenken.

Leider werden Zukunftschancen genau da verschlafen, wo am meisten Potenzial liegt. Kinder, die denken, Kühe seien lila und Haustiere könnten mit einem Knopfdruck wiederbelebt werden, sollen später einmal unsere Welt vor dem Klimakollaps bewahren. Wer aber Tiere höchstens von der Playstation kennt, kann keine Beziehung zur Natur aufbauen. Dabei wäre ein Naturbewusstsein bei Kindern gerade vor dem Hintergrund der Urbanisierung Deutschlands bitter nötig. Ansonsten hat der Trend zur Ökologie ein Ablaufdatum – und in 50 Jahren beherrscht diesen Planeten eine Generation von Menschen, für die „Natur“ nur ein abstrakter Begriff aus Lehrbüchern über den Klimawandel ist.

Text: Dennis Hingst

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