vonHelmut Höge 15.06.2010

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Öko-Poller in der Lüneburger Heide. Photo: Peter Grosse

Globales Leiden – Lokale Freuden

Am Wochende zeigte der „Choriner Landsalon e.V.“ im Ökozentrum „Bahnhof Chorin-Kloster“ noch einmal das Dokudrama „Die Zeit der Unvernunft“. Der sehr computerverspielt daherkommende englische Film handelt von der „Klimaerwärmung“. Zuvor war er bereits im Rahmen der „Ökofilmtour2010“ in 69 brandenburgischen Orten gezeigt worden. Obwohl er laut der Lokalpresse „schockierte und nachdenklich machte“, hatte er keinen der sechs Preise dieses aufklärerischen Filmfestivals bekommen. Sie gingen z.T. an TV-Dokumentationen, die das Bienensterben, die Landschaftsvernichtung von oben, die ökologische Landwirtschaft von unten, die „Wildnis“ für Kinder, die „Klugheit“ von Pflanzen und die „Verlogenheit“ der Atomindustrie thematisierten.

Die nochmalige Aufführung des Films „Die Zeit der Unvernunft“ im 2006 privatisierten und für Kultur ausgebauten Bahnhofs von Chorin, inmitten des Biosphärenreservats Schorfheide, war diesmal mit einem Auftritt des Biologen Michael Succow verbunden, der überall in Osteuropa die Einrichtung von Nationalparks initiiert. Über den (ostdeutschen) „Naturschutzpionier“ und Träger des alternativen Nobelpreises lief auf dem „Ökofilmtour-Festival“ bereits ein eigener Film.

Der Abend im Choriner Bahnhof begann mit den die Umweltzerstörung thematisierenden Liedern von Hannelore Gilsenbach. Die Biologin tourte damit bereits in den Achtzigerjahren durch die Kirchen und Umweltbibliotheken der DDR – zusammen mit ihrem Mann Reimar Gilsenbach. Der Natur- und Menschenrechtler half in der Wende mit, seinen Wohnort Brodowin in ein „Ökodorf“ umzuwandeln. Heute kann man dort im LPG-Laden sogar die ökologisch getesteten Upperclass-Kosmetika von Dr. Hauschka kaufen. Der einst in Anarchistenkreisen groß gewordene Raimar Gilsenbach starb 2001 im Alter von 76 Jahren. Die Grüne Liga – Mitorganisatorin des Brandenburger Ökofilmfestivals – benannte wenig später einen Teil ihres „Haus der Natur“ in Potsdam nach ihm. Seine Witwe, Hannelore Gilsenbach, die nach wie vor in Brodowin lebt, aber auch immer wieder an den Amazonas reist, gibt seit einigen Jahren die Zeitschrift für gefährdete Völker, „Bumerang“ – des Naturvölker-Bundes – heraus, u.a. wird darin genau vermeldet, wann sich welche vom Verschwinden bedrohte Kleinstethnie allen Globalisierungstendenzen zum Trotz dennoch vergrößert hat. So heißt es z.B. in der Ausgabe 1/2009: „Die ‚Negrito‘-Ureinwohner der Andamanen vom Volk der Onge freuen sich über die Geburt eines Mädchens. Es kam am 9.Juli 2008 in Dugong Creek gesund auf die Welt. Damit stieg die Zahl der Onge auf 98 Menschen.“

Darüberhinaus veranstaltete Hannelore Gilsenbach auf ihrem Hof jahrelang die einst von Reimar Gilsenbach initiierten „Brodowiner Gespräche“, wo die unterschiedlichsten Themen diskutiert wurden. So lud sie z.B. die zwei Aktivisten gegen die Abbaggerung des Lausitzdorfes Horno, Werner Domain und Michael Gromm, ein, um über deren (gescheiterten) Widerstand zu diskutieren. Bei der Gelegenheit entdeckte ich zum ersten Mal freilebende Laubfrösche – in der Hecke des Anwesens von Hannelore Gilsenbach, außerdem zeigte die Biologin, die auf Insekten spezialisiert ist, mir im Gras eine mit der Klimaerwärmung zugewanderte italienische Grille.

Die jetzigen „Choriner Debatten“ des „Landsalons e.V.“ im ökologisch umgerüsteten und dazu u.a. mit Elektroautos und Fahrrädern ausgerüsteten Choriner Bahnhofs sind eine Fortsetzung der Brodowiner Hofveranstaltungen von Hannelore Gilsenbach. Die beiden Orte liegen etwa sieben Kilometer auseinander. Wir gingen den Weg hin und zurück – durch den Biosphären-Wald, zwischen Seen hindurch und vorbei an einigen Dorfkneipen, begleitet nur von einigen Blaumeisen und Zitronenfaltern, einem roten Milan und vielen Mücken. Der Himmel war blau. Auf einem Ökohof sahen wir müde bei einem Glas Dickmilch den munteren FÖJlerinnen bei der Arbeit zu. FÖJ ist die Abkürzung für Freiwilliges Ökologisches Jahr und die es ableisten sind meistens Mädchen, sie tun das aus naheliegenden Gründen fast nie in der konventionell industrialisierten und giftsprühenden Landwirtschaft, sondern investieren ihre Kräfte lieber in Projekten, die die Welt verbessern (sollen). Eigentlich wollten wir uns auch noch den berühmten, mit einer russischen Wölfin zusammengesperrten dreibeinigen polnischen Wolf „Piotr“ im Wildgehege Schorfheide ansehen, aber so weit trugen unsere Füße nicht.

Zu diesem Event-Text erreichte mich ein Leserbrief, der einiges daran kritisierte:

Sehr geehrter Herr Höge,

kurz zu Ihrer Glosse bzgl. Idiotie des Landlebens:

Weder firmiert noch ist der Bahnhof Chorin-Kloster ein „Ökozentrum“ (eher Nippesladen, Veranstaltungsraum, Fahrradverleih usw.). Es zeigte nicht der Choriner Landsalon „noch einmal“ das Dokudrama (dies tat der Wanderzirkus Ökofilmtour, das zu wissen Sie im folgenden Satz selbst auch kundtun). Außer Einfältigkeiten und Dummheiten wie von Ihnen rekapituliert benennt der von mir aus gerne fragwürdige Film wiederholt in Worten sehr löblich den „Kapitalismus“ als letztliche Ursache der ganzen Malaise. Für Sie nicht erwähnenswert? Herr Succow trat, wiewohl angekündigt, nicht auf. Meint „Klimaerwärmung“ in Anführungszeichen, der Film beschäftige sich mit einer Phantasmorgie? Meint die Beschreibung zu Succow, dass er „… überall …Nationalparks initiiert“, dass dies eine behandlungsbedürftige Manie sei? Wollen die Anführungszeichen rund um „Naturschutzpionier“ nur mitteilen, dass das rechte Wort nicht gefunden wurde, oder höhnisch sein, und wenn zweiteres, warum? (Wenn, was wohl unwahrscheinlich, ersteres: Warum hat ein wortschatzreicherer Redaktör nicht
reinkorrigiert?) Dies alles Fragen eines lesenden Dörflers. Gilsenbach selig hat wohl gewollt, aber nicht erreicht, Brodowin zum „Ökodorf“ zu veredeln. Es heißt der hiesige privatisierte und derweil in Gutsherrenhand befindliche Ex-LPG-Betrieb „Ökodorf Brodowin Gmbh & Co. KG“ – das Dorf selbst wird nur fälschlicherweise so genannt. Die
Brodowiner Kicker (Barnimliga!) z.B. kriegen überwiegend grüne (sic!) Pickel, wenn ein um blumige Sprache ringender Fußballberichterstatter schon wieder über die „Ökodörfler“ statt schlicht Brodowiner fabuliert. Frau Gilsenbach reist nicht „immer wieder“ an den Amazonas. Sie tat dies höchstens sehr wenige Male, ich glaube sogar, nur ein Mal
(Rechercheabteilung! Auftrag!). Frau Gilsenbach mit der Onge-Geburtsstatistik ins Lächerliche zu
ziehen ist mager. Viel besser hätte man sie (die Dame, nicht die Statistik) rund gemacht durch Zitierung, wie sie bevorratete Stasi-Internierungslager als „KZ“ (Zitat) bezeichnete. (Sie will auf der Liste der bei Umsturzgefahr zu Internierenden ganz oben gestanden haben und rechnet sich das als ihre wohl größte Lebensleistung an.)

***

Vielleicht wollen Sie die hiesigen Verhältnisse bei Gelegenheit doch nochmal erkunden. Dringend recherchebedürftig: die Arbeitsbedingungen auf dem Landwirtschaftsbetrieb Ökodorf Brodowin GmbH & Co. KG, die im Widerspruch zum Nimbus stehen, der die Brodowiner Produkte in Berlin und anderswo umnebelt. Heißt Demeter auch artgerechte Menschenhaltung? Hätten Sie Lust, den hiesigen Betrieb mal an der von ihm erstunterzeichneten Charta „Regional & fair“ zu messen? – Nötiger Kaffee und auch Unterkunft (so verfügbar: siehe meine Gästewohnung bei
www.fewo-brodowin.de) werden gerne spendiert.

Mit besten Grüßen,
Klaus Böhm

Brodowiner Dorfstraße 65
16230 Chorin OT Brodowin
03 33 62 / 7 05 75

Öko-Poller im Biosphärenreservat Schorfheide

Statt noch einmal die oben kritisierten „Fakten“ im Biosphärenreservat Schorfheide nachzurecherchieren, ging ich am Wochenende darauf in den „Club der polnischen Versager“ im Soziosphärenreservat Berlin-Mitte, wo ebenfalls ein Film lief:

Es wurde dort die 1966 von Jiri Menzel gedrehte, aber erst 1990 uraufgeführte Verfilmung von Bohumil Hrabals biografischem Roman „Lerchen am Faden“ – über seine Arbeitsbrigade im nordböhmischen Stahlwerk „Poldihütte“ – gezeigt. Sie rührte mich fast zu Tränen. Denn diese Zeit ist so gut wie vollständig verschwunden: Es ist alles zu Ende, was mit Sozialismus, Proletariat, Neuem Menschen und Klassenkampf zu tun hatte.

Im Buch und im Film „Lerchen am Faden“ geht es um eine Gruppe von Intellektuellen, die man zur Produktion verdonnert hat: Sie müssen Schrott sortieren. Als ihre Norm erhöht wird, streiken sie, woraufhin einer nach dem anderen von der Staatssicherheit abgeholt und anschließend ins Kohlebergwerk gesteckt wird. Neben der Schrottsortierbrigade arbeitet eine Gruppe wegen Republikflucht inhaftierter Frauen, die von einem jungen Soldaten bewacht wird. Der Soldat heiratet später eine Zigeunerin, während der Gewerkschaftsvorsitzende des Kladnoer Stahlwerks nach Feierabend ein nacktes Zigeunermädchen „sauber schrubbt“ – und dabei Revolutionslieder singt. Seine Schrottsortierbrigade ist ihm ein Gräuel, einmal sagt er zu ihnen: „Was soll bloß der Autor von ,Rote Glut über Kladno‘ von euch denken?“

Dabei handelt es sich um einen 1955 auch in der DDR veröffentlichten „Erinnerungsroman“ von Antonin Zapotocky, angelehnt an den von der Defa verfilmten Roman „Die Fahne von Kriwoi Rog“ von Otto Gotsche, der wiederum auf den sowjetischen Roman „Rote Sterne über Kriwoi Rog“ von Alexej Gurejew zurückgeht. Dieser gehörte noch in das einst von Maxim Gorki initiierte sozialistische Genre „Fabrikbiografie“. 2009 tauchte er noch mal auf, als eine Gruppe von Ostdeutschen ein Buch über ihren jahrelangen Arbeitseinsatz auf der sozialistischen Großbaustelle in Kriwoi Rog veröffentlichte, wo sie ein neues Stahlwerk errichten sollte.

Diese Erzaufbereitungsanlage wurde nie fertiggestellt. Die DDR-Ingenieure fuhren nach der Wende nach Hause und wurden Frührentner. Die rumänischen Ingenieure harren bis heute untätig in Kriwoi Rog aus; sie hoffen, dass die Preise für Stahl irgendwann wieder so hoch sind, dass sich der Weiterbau der Anlage lohnt (siehe dazu: .http://blogs.taz.de/hausmeisterblog/2009/10/22/das_bergbau_und_aufbereitungskombinat_kriwoi_rog/)

Als der Film zu Ende war, verließ ich den Club der polnischen Versager in Richtung Rosa-Luxemburg-Platz, um mich auf dem Weg nach Hause zügig im Baiz und im Prassnick zu betrinken, aber es schmeckte mir nicht. Zuletzt versuchte ich es noch im Florian am Heinrichplatz. Neben mir saßen zwei Pärchen und diskutierten. Ich starrte vor mich hin und erfreute mich an meinem Unglück: dass ich das Verschwinden von allem, was „uns“ einmal wichtig war, noch miterleben musste.

Plötzlich sprach mich eine der zwei jungen Blondinen vom Nebentisch an: „Ist das deine Ledertasche? Bist du Lehrer oder Rentner? Entschuldige meine Neugier, ich wollte dich nicht beleidigen.“ Ich klärte sie über mein prekäres, aber noch aktives Arbeitsleben auf und sie mich daraufhin über ihres, nachdem sie sich mit dem Stuhl zu mir umgedreht hatte. Sie hatte Informatik studiert und studierte nun Wirtschaftsinformatik, um einen Job an der „Schnittstelle“ von EDV und Management zu finden.

Inzwischen hatte sich auch ihre blonde Freundin mir zugewandt. Einer der zwei jungen Männer an ihrem Tisch stand daraufhin auf und fragte mich: „Was hast du bloß, dass die Frauen sich einfach von uns weg- und dir zuwenden?“ Er sagte das nicht aggressiv, sondern eher ironisch lächelnd. Die Wirtschaftsinformatikerin brach dennoch das Gespräch mit mir ab und wandte sich wieder den beiden Jungs zu. Dafür redete ihre blonde Freundin mit mir.

Sie hatte Germanistik studiert und kürzlich in einem niederrheinischen Lyriksammelband einige Gedichte veröffentlicht. Nun wollte sie von mir wissen, ob sie trotz ihrer Neigung zur Poesie in den Journalismus einsteigen solle. Ich wusste nicht gleich eine Antwort. Sie stellte mir eine andere Frage: Ob ich Lust hätte, ein paar Gedichte von ihr zu lesen. Als ich nickte, holte sie ein Notizbuch aus der Tasche und bat mich, ihr meine E-Mail-Adresse und Postanschrift aufzuschreiben. Dann wendete sie sich wieder ihren Freunden zu.

Ich verabschiedete mich von den vieren und ging nach Hause – nun nicht mehr so erschüttert über das Ende der Nachkriegszeit, das mit meiner Lebensdauer fast identisch war. Dafür war ich voll Mitleid mit diesen ganzen mittlerweile in die Zigmillionen gehenden jungen Blondinen (in allen Haarfarben), die Tag und Nacht und selbst bei ihren Rendezvous nie ihr eigenes kleines, beschissenes Weiterkommen vergessen.

Zu Hause, d.h. bei meinem 24 Stunden offenen Spätkaufladen,  kuckte ich noch schnell ins Internet: Die „Poldihütte“ in Kladno gehörte inzwischen wieder, wie schon während der Nazizeit, den Deutschen, konkret: der Scholz AG – „einer der führenden europäischen Stahl- und Metallschrottentsorger“ laut Wikipedia.

Wandnase im Club der polnischen Versager. Sie verdeutlicht das nietzscheanische Motto der Clubbetreiber: „Ich erst habe die Wahrheit erkannt – indem ich sie roch. Mein Genie liegt in meinen Nüstern.“ (Friedrich Nietzsche war laut eigener Aussage Pole. )

Das mit den zwei Texten hier über das Bio- und das Soziospährenreservat angesprochene Problem hat Jean Baudrillard einmal auf eine Generationenfolge gebracht:

“Die Menschenrechte, die Dissidenz, der Antirassismus, die Ökologie, das sind die weichen Ideologien, easy, post coitum historicum, zum Gebrauch für eine leichtlebige Generation, die weder harte Ideologien noch radikale Philosophien kennt. Die Ideologie einer auch politisch neosentimentalen Generation, die den Altruismus, die Geselligkeit, die internationale Caritas und das individuelle Tremolo wiederentdeckt. Herzlichkeit, Solidarität, kosmopolitische Bewegtheit, pathetisches Multimedia: lauter weiche Werte, die man im Nietzscheanischen, marxistisch-freudianistischen und Situationistischen Zeitalter verwarf. Diese neue Generation ist die der behüteten Kinder der Krise, während die vorangegangene die der verdammten Kinder der Geschichte war. Diese jungen, romantischen, herrischen und sentimentalen Leute finden gleichzeitig den Weg zur poetischen Pose des Herzens und zum Geschäft. Sie sind Zeitgenossen der neuen Unternehmer, sie sind wunderbare Medien-Idioten: transzendentaler Werbeidealismus. Dem Geld, den Modeströmungen, den Leistungskarrieren nahestehend, lauter von den harten Generationen verachtete Dinge. Weiche Immoralität, Sensibilität auf niedrigstem Niveau. Auch softer Ehrgeiz: eine Generation, der alles gelungen ist, die schon alles hat, die spielerisch Solidarität praktiziert, die nicht mehr die Stigmata der Klassenverwünschung an sicht trägt. Das sind die europäischen Yuppies.”

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