Der Anarcho-Kramer-Verlag in Neukölln hat gerade mal wieder eine produktive Phase: Kürzlich veröffentlichte er ein Buch über die bedrohte Kartoffelsorte „Linda“, dann eins von Hakim Bey über „Piraten“ und jetzt eine Aufsatzsammlung über „Heimat, Heimweh und Heimsuchung“, in Vorbereitung ist ferner ein Buch von Bernd Kramer und Clemens de Wroblewsky (Wirt des Raucher-„Café Jenseits“) über bzw. gegen das „Rauchverbot“.
Am „Heimsuchungs“-Reader mußte ich mich mit einem Text beteiligen. Karsten Krampitz hatte über mich vermittelt zwei Texte für die taz geschrieben, die jedoch von den Holz-Redakteuren nicht weggedruckt wurden, daraufhin war ich quasi in seiner Schuld. Er schrieb mir:
Lieber Helmut,
hab ich dir eigentlich erzählt, wie meine Freunde mich nennen? DBK – Daumenbrecherkarsten. Womit wir beim Thema wären: Du wolltest die erste Rate deiner Schuld begleichen, für unsere Anthologie „Heimat, Heimweh, Heimsuchung“, die ich die Freude und große Ehre habe, gemeinsam mit Heiko Werning im Karin Kramer Verlag herauszugeben.
Wann darf ich mit deinem Beitrag rechnen? Die Zeit drängt ein wenig.
Schöne Grüße
dein bester Freund
Karsten
Ich machte mich sofort an die Arbeit – und schickte ihm dann folgenden Text –
Über Heimat und Heimweh
„‚Es stimmt wirklich, Genosse Kommissar‘, sagte der Nachrichtenoffizier Jegorow, ‚in diesem Krieg bin ich ein neuer Mensch geworden. Erst jetzt sehe ich Russland, wie es ist. Man geht, und um jedes Flüsschen, jedes Wäldchen tut es einem so bitter leid, dass sich das Herz zusammenkrampft…Soll tatsächlich, so denke ich, auch dieses kleine Bäumchen den Deutschen zufallen?'“ (Wassili Grossman, „Ein Schriftsteller im Krieg“)
Der Dichter Ronald M. Schernikau wurde während der Kalten Krieges 1960 in Magdeburg geboren. Sein Vater ging kurz darauf in den Westen. 1966 läßt er Frau und Sohn mit Hilfe eines Fluchthilfeunternehmens in den Westen nachkommen. Er selbst hat hier inzwischen geheiratet und seine Frau bekommt gerade ein zweites Kind. Ronald und seine Mutter Ellen ziehen nach Lehrte bei Hannover, wo sie eine Anstellung als Krankenschwester findet. Die Kommunistin ist nicht nur von ihrem Kindsvater enttäuscht, der sie immer seltener besucht, sondern vom Westen insgesamt. Nach Feierabend kuckt sie ausschließlich DDR-Fersehen, im Regal stehen nur DDR-Bücher und laufend läßt sie sich neue schicken. Sie möchte so gerne wieder in den Osten, als Republikflüchtling muß sie jedoch befürchten, dort erst einmal ins Gefängnis zu kommen. Als ein Mitarbeiter der Staatssicherheit, mit dem sie darüber am Grenzübergang Friedrichstraße redet, ihr verspricht, in drei Monaten mitzuteilen, was sie diesbezüglich zu erwarten habe – und sie sogar noch aus Mitleid nach Ostberlin durchschlüpfen läßt, bis Mitternacht, damit sie dort mit ihrer Freundin ein paar Stunden im Café sitzen und reden kann, ist die Angst, in ihrer Heimat verhaftet zu werden, so groß, dass sie nicht wagt, zu dem Treffen mit ihm zu erscheinen.
Erst nach dem Grundlagenvertrag der Regierung Brandt, 1972, darf sie als Westdeutsche wenigstens besuchsweise wieder in die DDR reisen. „Magdeburg hat sich kaum verändert, und Ellen schlüpft in ihr altes Leben wie in einen Lieblingspullover,“ schreibt Matthias Frings. Auch ihrem Sohn gefällt es im Osten. Nach dem Abitur zieht er nach Westberlin, wo er ein Studium an der FU anfängt, vor allem schreibt er jedoch. Der Rotbuchverlag veröffentlicht sein erstes Buch „Kleinstadtnovelle“. Ronald Schernikau verfolgt eine klassische Schriftstellerkarriere – ähnlich der seines Vorbilds Peter Hacks, der 1955 von München in die DDR gezogen war. Wie er wird auch Schernikau Mitglied der Partei, in seinem Fall der SEW (der Sozialistischen Einheitspartei Westberlin). Schernikau ist zunächst jedoch vor allem in der linken Schwulenscene „zu Hause“, aber so oft er kann fährt er nach Ostberlin, mehrmals versucht er in der DDR einen Studienplatz, eine Arbeitsstelle am Theater oder in einem Verlag zu bekommen, nicht zuletzt, um als Schriftsteller bessere Arbeitsmöglichkeiten zu haben. In Westberlin lebt er äußerst bescheiden, zudem werden hier nur ganz gelegentlich kleinere Texte von ihm veröffentlicht.
Während seine Mutter davon überzeugt ist, dass die Menschen in der DDR „anders“ sind als die im Westen: „Sie haben ein Weltgefühl“, geht Ronald Schernikau davon aus, dass die DDR „die besseren Schriftsteller“ hervorbringt. Dies ergibt sich schon allein aus seiner marxistisch-leninistischen Weltsicht. Er trägt stets einen Leninanstecker am Revers.
Beim Lesen seiner Biographie, die sein Freund Matthias Frings, ein Aktivist der Westberliner Schwulenbewegung, 2009 im Aufbau-Verlag veröffentlichte, stellte sich mir die Frage, ob sie nicht ein Schlüssel für die Begriffe „Heimat“ und „Heimweh“ sein könnte. Und prompt fielen mir jede Menge Migranten ein, die ich in den vergangenen 40 Jahren mehr oder weniger näher kennengelernt hatte: All diese maoistischen Kurden, kämpferischen Iraner, Palästinenser und Burmesen wurden gelegentlich von Sehnsucht nach der Heimat überwältigt oder gaben sich diesem Gefühl hin. Vielleicht braucht man überhaupt so ein „Land“ – in das man nicht zurückkehren darf oder kann, um dieses Gefühl (noch) zu empfinden? Bei den o.e. Freunden bzw. Genossen nahm es im übrigen zu, je mehr die Studentenbewegung sich ab Mitte der Siebzigerjahre reinvididualisierte und die „politischen Zusammenhänge“ zerfielen.
Bei mir bewirkte dies Anfälle von Melancholie: Apathie in der Gegenwart und Heimweh nach der Vergangenheit, aber diese war nie mit einem Territorium verbunden, eher galt das für die Gegenwart, in der ich mich jeweils befand, und die als allzu lokal begrenzt empfunden wurde, als zunehmende Einengung. Ansonsten war es bei mir umgekehrt so, dass ich jederzeit in meine norddeutsche Heimat zurückkehren konnte, dies aber nur selten tat, da ich sie herzlich verabscheute. Im Gegenteil versuchte ich mehrere Male in meinem Leben auszuwandern: das erste Mal wegen der Bundeswehr in die USA, woraus dann Schweden wurde (und dann Westberlin), dann vergebliche Anfragen bei den Botschaften der UDSSR und Kuba, um dort arbeiten zu können. Dann während der „Nelkenrevolution“ nach Portugal, dann nach Frankreich zum Studium, dann nach Italien in eine Landkommune, und schließlich noch ein letzter Versuch, abzuhauen: einfach immer weiter – in Richtung Südsüdwest: zu Fuß. In einem Flugblatt kritisierte ich damals – auf dem Tunix-Kongreß 1978, dass die Veranstalter das „Abhauen“ aus diesem Land nur metaphorisch meinten. Im November 1989 machte ich schließlich noch einen Versuch, wenigstens der reinen Schreibtisch-Schriftsteller-Existenz zu entkommen, indem ich auf einer LPG bei Babelsberg als Rinderpfleger anfing. Aber diese Tätigkeit war nach den Märzwahlen 1990 auch schon wieder so gut wie zu Ende, nachdem die DDR-Bürger mehrheitlich die Wiedervereinigung beschlossen hatten – und Erwin, der Brigadier unserer Rindermast in Fahlhorst, meinte: „Nun muß die D-Mark aber auch bald kommen, ich bin schließlich nicht mehr der Jüngste.“
Mit der Wiedervereinigung verschwand für die Deutschen endgültig die Möglichkeit eines existentiellen Systemwechsels. In gewisser Weise entstand damit eine ausweglose Situation! Dies wurde aber nur von einigen wenigen so empfunden. Immerhin kenne ich inzwischen einige Ostler, die geflüchtet, freigekauft oder sonstwie im Westen gelandet waren – und dort dann derart von Heimweh nach der DDR geplagt wurden, dass sie sofort – quasi noch während des „Mauerfalls“ – wieder nach Drüben zogen, geradezu flüchteten. Tschernikau nutzte diesen „Mauerbruch“ im übrigen, um für kurze Zeit und ohne DDR-Paß (er war gerade erst eingebürgert worden) seine alten Freunde in Westberlin zu besuchen. Er schwamm also auch in dieser Situation Ende 1989 noch einmal „gegen den Strom,“ wie Matthias Frings meint.
Erwähnt sei daneben mein Freund Klaus Berger aus Leipzig, der sich illegal über die ungarische Grenze bis zum Notaufnahmelager „Friesland“ durchgekämpft und dann bei einer Westberliner Baufirma eine Anstellung bekommen hatte. Er fand seinen Chef und seine Arbeitskollegen aber so mies, dass er noch in der selben Nacht, als die Grenze geöffnet wurde, wieder nach Drüben ging – zurück zu seiner Mutter, die darüber mehr als glücklich war.
Erwähnenswert ist ferner der Barkeeper Willi Sabelus-Frach, der eine ähnlich enge Beziehung zu seiner Mutter hatte wie Schernikau. Seine betrieb zu DDR-Zeiten eine Gaststätte. Ich lernte ihn als Verkäufer einer Obdachlosenzeitung in der U2 kennen. Er war anders als die meisten – intelligent und charmant. Später sah ich ihn mit zwei Hunden vor dem Sporthaus in der Schönhauser Allee auf einer Bank sitzen und Dosenbier trinken. Er besaß einen 2CV-Anhänger, der auf dem Gehweg parkte. Und dieser war voll mit Exemplaren des Eichborn-Buches „Vogelfrei“, in dem seine Lebensgeschichte stand – aufgeschrieben von einer reichen Wienerin namens Friederun Pleterski. Eines Abends kaufte ich ihm ein Buch ab, was ihn sehr erfreute, weil er Pleite war: Er war gerade dabei, seine neue Wohnung über dem Sporthaus zu renovieren – und zwar sehr aufwändig und teuer. Wie ich dann aus „Vogelfrei“ erfuhr, war das schon immer eine Macke von ihm gewesen.
Der 1952 geborene Will-Frieden wuchs in einer sächsischen Kneipe auf und lernte später Kellner. Er arbeitete in den besten Restaurants und Hotels der DDR. 1975 wurde er fälschlicherweise als Republikflüchtling denunziert und kam für drei Monate in den Knast, anschließend durfte er nur noch in Billiglokalen kellnern. Er landete in der Transitgaststätte am Hermsdorfer Kreuz: „Eine miese Maloche! Aber es gab Westgeld.“ Er verdiente dort 500 Mark Ost plus 1.000 Mark West im Monat – und fuhr bald einen Dacia R12. Während eines Urlaubs in Rumänien schwamm er eines Nachts durch die Donau rüber nach Jugoslawien. In Belgrad meldete er sich bei der BRD-Botschaft. Die schickten ihn nach Gießen. Von dort rief er als Erstes beim Hotel Dornbusch auf Hiddensee an, wo sein Freund, der Oberkellner Lutz, arbeitete. „Ich hab solches Heimweh“, gestand er ihm. Um der DDR näher zu sein, zog Will-Frieden nach Westberlin. Auch hier kellnerte er, aber „ich betrog nicht mehr, ich machte Geschäfte“. Bei einer Gewerkschaftsbossfeier und vielen 100 Sektflaschen machte der Verlust von einer Kiste Sekt „gar nichts aus“. Und dann schaffte es auch sein Freund Lutz in den Westen. Gemeinsam machten sie einen Ausflug nach Hiddensee – über Kopenhagen: und wurden sofort verhaftet. Im Knast meditierte er und beschäftigte sich mit Gott: „Das Zuchthaus war meine göttliche Prüfung.“
Nach 15 Monaten wurde zwar sein Auto als „Fluchtfahrzeug“ einbehalten, er selbst jedoch in den Westen abgeschoben. Dort fasste er dann einen Entschluss: „Mein Leben sollte ein einziger Urlaub werden.“ Mit Fahrrad und Cockerspaniel fuhr er Richtung Frankreich. Unterwegs führte er Tagebuch. Fünf Jahre lang kam er mit fünf Mark am Tag aus. In Spanien nannten sie ihn „Sport-Billi“. Dort hatte er dann nur noch einen Wunsch: „Berlin, mein Berlin“. Irgendwann trampte er dorthin – mit einer Ente unterm Arm. In Westberlin fing er an, sich nach dem Osten zu sehnen, er „vermisste“ als Kommunist „das Gute am System drüben“. Stattdessen fuhr er nach Teneriffa, wo er das Herstellen von Masken aus Marmorat lernte, die er an Touristen verkaufte. Das tat er anschließend auch in Westberlin auf dem Flohmarkt, wo man ihn „Masken-Willi“ nannte. Der Flohmarkt-Chef Wewerka „schloss ihn bald in sein Herz“, aber es zog ihn wieder fort. Diesmal mietete er eine Hütte auf einem Berg in Kärnten, baute Gras an und konstatierte dort schließlich: „Ich habe eine hohe Lebensqualität erreicht.“ Dann fiel jedoch die Mauer – und Willi hielt im Westen nix mehr. In Ostberlin angekommen, fühlte er sich sofort wieder heimisch: „Hier war alles so relaxed und ostisch!“ Beim Kiffen sagte ihm eine Stimme: „Deine DDR braucht dich! Jetzt geht es ans Eingemachte.“ Erst mal beteiligte er sich an einer „Werbefahrt für die SED“ und schrieb einen Artikel für das ND. „Die guten Kommunisten, sie wollten mich“.
Im ZK war allerdings „die Stimmung auf dem Nullpunkt. ,Ihr dürft nicht alles über Bord werfen, Kinder‘, sagte ich zu den Genossen.“ Er bekam von ihnen Geld, einen Wagen mit Chauffeur und fuhr durch die DDR, um sämtliche SED-Kreisleitungen auszuräumen – bevor die Wessis das Zeugs abgriffen. Damit war er eine Weile beschäftigt, dann bekam er als „Verfolgter des SED-Regimes“ eine gute Rente und bezog die o. e. Wohnung in der Schönhauser Allee, wo er oft auf der Bank vor der Tür saß. Das wurde ihm dann jedoch alles zu bunt und westisch dort. Statt wie Schernikau zu resignieren, kaufte Sabelus-Frach sich einen Pferdehof auf der Krim, stellte eine ukrainische Pferdepflegerin ein, in die er sich dann verliebte, und war ab da wieder gut beschäftigt – mindestens fährt er nun mit seinem 2CV regelmäßig zwischen seiner Wohnung in der Schönhauser Allee und seinem Pferdehof auf der Krim hin und her.
„In der nicht mehr existierenden Sowjetunion gibt es noch genügend Ecken und Winkel, wo Sozialismus herrscht“, meinte er einmal. Bestätigt wird das u.a. von Wladimir Kaminer, der regelmäßig die Familie bzw. Verwandtschaft seiner Frau Olga im Nordkaukasus besucht. Daneben fahren er und seine Frau so oft es geht zum Bücher- und Filmeinkauf nach Moskau. Auch viele andere in Deutschland lebende Russen haben anscheinend großes Heimweh nach der nicht mehr existierenden Sowjetunion. „Ubi Lenin ibi Jerusalem,“ hieß es 1929 bei Ernst Bloch. Immer wieder lese ich Texte von exilierten Russen, in denen sie sich liebevoll irgendwelcher Details aus der untergegangenen „Heimat“ erinnern (zuletzt einen von Olga Martynova aus Leningrad – in der Zeitschrift „manuskripte“ Nr. 179). Wladimir Kaminer hat uns auf diese Weise inzwischen bereits ein ganz anderes Bild von der Sowjetunion vermittelt. Wohlmöglich geht es vielen in Deutschland lebenden Sowjetrussen sogar ähnlich wie Ronald Schernikaus Mutter Ellen:
„Ihr Leben im Westen war nur eine Scharade: eine DDR-Bürgerin, die eine BRD-Bürgerin spielt,“ schreibt Matthias Frings. Und obwohl sie hier Karriere machte – als Dozentin, war sie kreuzunglücklich.
Der in Westberlin lebende Biograph Frings besuchte irgendwann auch einmal Ostberlin. Er empfand diesen Ausflug nach Drüben als eine Rückkehr in seine Kindheit – in die Fünfzigerjahre, die er in Aachen verlebt hatte. Genauso empfanden dies auch der Antiquar Gernot Kunze und der Historiker Hans Dieter Heilmann, die ich dazu 1990 in Westberlin interviewte: Mit der DDR verschwand das Land ihrer Kindheit, mithin ihre Heimat: „Wir gehören einer Generation an, deren Welt untergegangen ist,“ so sagte es z.B. Gernot Kunze. Und er meinte damit nicht nur eine „geistige Heimat“, sondern eine vor allem real existierende. Die zerschossenen Gebäude, die Alleen, die Braunkohle-, Kohl- und Putzmittelgerüche, das steife, etwas spießige im Sozialen, die Langsamkeit, die wenigen Autos auf den Straßen usw..Detlef Kuhlbrodt, der Verwandte Drüben hat, und öfter dort war, meint: „Im Osten war die Geschichte noch nicht wegrenoviert worden. Das Zeitgefühl war ein ganz anderes, wenn man auf Gebäude schaute, die die Spuren vieler Jahrzehnte trugen.“ Ähnlich ging es dem in Thüringen aufgewachsenen Jürgen Becker, als er nach langer Zeit wieder dort hinfuhr: Alles sah noch so aus wie früher und war ihm vertraut…“als wären nicht mehr als vier Jahrzehnte, sondern gerade mal vier Wochen vergangen“.
Die Schriftstellerin Emine Sevgi Özdamar lebte in den Siebzigerjahren in Westberlin und arbeitete in Ostberlin, täglich fuhr sie hin und her: „In den zwei Jahren, die ich an der Volksbühne arbeitete, konnte ich die beiden Teile der Stadt nie zusammendenken. Es war, als ob ein großes Meer die beiden Stadthälften trennte. Die Mauer war für mich nicht aus Stein, sondern aus Zeit. Wechselte ich die Seiten, trat ich in eine andere Zeit ein.“
In den ersten Tagen nach dem „Mauerfall“ ging das umgekehrt auch vielen Ostberlinern so. Emine Sevgi Özdamar kam einmal im Bus auf der Fahrt zum Kurfürstendamm neben einer Frau von dort zu sitzen. Sie sah zum Westberliner Himmel hinauf und sagte laut – zu sich selbst: „Und diese wunderschöne Sonne hier.“ Die in Potsdam geborene und immer noch dort lebende Schriftstellerin Antja Ravic Strubel besuchte in jenen Wendetagen mit ihrem Vater ein Kaufhaus in Westberlin. Irgendwann wurde ihr schwindlig: „und während ich verzweifelt versuche, nach draußen zu kommen, wird mir klar: Einen Ausweg gibt es jetzt nicht mehr.“
Die Kindheit ist meist von der Mutter untrennbar – in Russland spricht man von der Mutter Heimat: „Rodina“. Ihr größtes triumphierendes Denkmal steht in Stalingrad (heute Wolgograd), das hiesige befindet sich am sowjetischen Ehrenmal für die im Kampf gegen den Faschismus gefallenen Rotarmisten – in Treptow: Innerhalb und außerhalb des Totenfeldes zugleich positioniert – trauernd. Wenn ich romantisch gestimmt bin, kann auch ich ihr kleines Denkmal als „Heimat“ empfinden. Das geht über etliche linke/intellektuelle Vermittlungsschritte, die aber ebenso sicher sitzen wie eine konkret benennbare „Heimatadresse“. Wahrscheinlich sogar noch unbeirrbarer – als z.B. das „Heimatgefühl“ eines New Yorkers namens Henry Gibson, der nach einer Gen-Analyse seine Verwandtschaft in einem schwarzafrikanischen Dorf 80 Kilometer hinter Dakar lokalisierte – und daraufhin dort persönlich aufkreuzte.
Die „Heimat aller Werktätigen“ (zu der auch die DDR gehörte) hob das Faktum/Fetisch Heimat auf eine höhere Ebene, die gleichzeitig abstrakter und konkreter als die reale Heimat ist, in der man großgezogen wurde und die erst einmal aus Blutsverwandten bestand. Während man im Sozialismus und in den linken Gruppen im Westen, die ihn wie auch immer anstreben, Wahlverwandte hat.
Diese Transformation des Heimatbegriffs stellte sich für die Kommunisten bereits im russischen Bürgerkrieg: Wie kann man aus bäuerlichen „Heimatwehren“ – mit einem Hang zum „Lokalpatriotismus“, wie man das damals in der bolschewistischen Partei schonend nannte – eine schlagkräftige Rote Armee aufbauen, die den Armeen der Weißen und der Interventen gewachsen ist? Der spätere Marschall der Sowjetunion Semjon M. Budjonny berichtet in seinen Erinnerungen „Rote Reiter voran“ sehr schön, wie seine Partisanenkommandeurs-Karriere begann: am Anfang waren sie zu fünft, im Wald nahe seines Heimatdorfes, aber schon am nächsten Tag 50 und am übernächsten bereits – durch Vereinigung mehrerer Partisanen-Einheiten – 500. Seine eigene Entwicklung vom ortsverbundenen Partisanenanführer, der über Angriffe abstimmen läßt, zum kartenkundigen Armeeführer, der Befehle rausgibt – wohlmöglich über Funk, thematisiert er jedoch nicht. Es dauerte eine Weile, bis man die Partisanenhaufen als nicht mehr autonomer Truppenteil an jedem Frontabschnitt – „zwischen Archangelsk und Astrachan“ – einsetzen konnte. Den Anfang dazu machte nicht zufällig das Proletariat – die „vaterlandslosen Gesellen“, die man aus ihren Heimatdörfern vertrieben und nahe den Fabriken zusammengepfercht hatte. Sie bildeten städtisch-proletarische Kampfeinheiten – zusammen mit den mobilisierten Partei- und Komsomol-Mitgliedern, während sich zugleich die zaristische Armee immer mehr desorganisierte. Zunächst wurden die Kommandeure der Roten Armee noch von ihren Leuten selbst gewählt. Und die Rangabzeichen waren abgeschafft. Auf der anderen Seite – bei den Weißen – gab es bald einen „Kommissar-Befehl“! Denn die Kommissare waren für die e.e. Transformation gewissermaßen zuständig.
Lenin hatte noch 1906 in der Zeitschrift „Proletarij“ einen Artikel über „Den Partisanenkampf“ veröffentlicht, in dem er sich u.a. gegen eine vorschnelle Abqualifizierung der Partisanen als Anarchisten, Banditen und Lumpenproletarier wandte. Er schrieb: „Der alte russische Terrorismus war ein Werk von verschwörerischen Intellektuellen; jetzt wird der Partisanenkampf in der Regel von Arbeitern und Arbeitslosen geführt, die Kampfabteilungen angehören“. Und weiter heißt es bei ihm: „Desorganisiert wird die Bewegung nicht durch Partisanenaktionen, sondern durch die Schwäche der Partei, die es nicht versteht, diese Aktionen in ihre Hände zu nehmen“. Aber schon bald nach der Revolution 1917 drang er darauf, sich vom Partisanenkampf unseligen Andenkens endlich zu verabschieden und diese chaotischen Gruppen in die neue disziplinierte Rote Armee einzugliedern.
Nach Ende des Bürgerkriegs wurde das Gros der Kämpfer demobilisiert. Ihre Dörfer waren zerstört, ihre Angehörigen getötet oder geflohen – ihre Zukunft in der alten Heimat mithin mehr als ungewiß. 1922 fuhr Nadeshda Mandelstam mit ihrem Mann nach Suchumi: Auf dem Schiff befanden sich viele demobilisierte Leichtverwundete, die aus dem Bürgerkrieg zurückkehrten – und ständig kam es unter ihnen zu hysterisch-epileptischen „Kampfanfällen“. Nadeshda Mandelstam machte sich nicht weiter Gedanken darüber – im Gegensatz zu dem Schweizer Psychoanalytiker Paul Parin 23 Jahre später: Zusammen mit seiner Frau hatte er sich den Tito-Partisanen im Zweiten Weltkrieg als Arzt zur Verfügung gestellt (sein Buch, das er dann über diese Zeit veröffentlichte, heißt: „Stell Dir vor, es ist Krieg, und wir gehen hin“). Am Ende des Krieges, nachdem dort ebenfalls unter der Führung der Kommunisten aus serbischen, kroatischen usw. Partisanengruppen eine „jugoslawische Volksarmee“ geworden war, traten auch hier bei den Demobilisierten massenhaft „Kampfanfälle“ auf. Viele Psychiater kümmerten sich um diese Kranken, es gab Spezialkliniken, wo man versuchte, diese bald „Partisanenkrankheit“ genannten Anfälle zu heilen. Für Paul Parin war sie das Gegenteil einer (soldatischen) Kriegsneurose: Während diese den davon heimgesuchten vor weiteren Fronteinsätzen quasi schützt, legte jene nahe, dass der oder die an ihr Erkrankte nicht mit dem Kämpfen aufhören kann bzw. will. Das betraf damals über 100.000 zumeist junge, ungebildete vom Land stammende Demobilisierte (1/3 davon waren Frauen).
Parin veröffentlichte 1948 seine erste psychiatrische Arbeit über diese Partisanenkrankheit: „Wir Ärzte waren zunächst ratlos – angesichts der plötzlich massenhaft auftretenden Partisanenkrankheit: ein ‚ansteckende Epilepsie‘? Das gibt es doch gar nicht! Die demobilisierten Partisanen, die schon in der zuvor zusammengestellten Volksbefreiungsarmee gekämpft hatten, waren hiflos – sie drängten in ihre Einheiten zurück, dort wären sie wohl am Liebsten geblieben. 90% des Landes war verwüstet durch den Krieg. Die Häuser ihrer Eltern zerstört und ihre Eltern lebten vielleicht gar nicht mehr. Was sollten sie machen? Ihr Kampfanfall war auch ein Wunsch.“ Parin führte diese Krankheit auf das rigide Sexualverbot der jugoslawischen Partisanen zurück – indem er eine Art Umkehrschluß vornahm: „Die Partisanenkrankheit ist in Slowenien, bei slowenischen Partisanen, nicht aufgetreten – es gab dort kein Sexualverbot.“ Im Nachhinein räumte er jedoch ein: Ich habe in meinem Artikel zu wenig hervorgehoben, dass die Partisanenkrankheit ideologisch vorgebildet war – in Form von Trancezuständen. In Nordbosnien wurden die Töchter verheiratet. Wenn der Braut der Mann nicht gepaßt hat, dann bekam sie ‚Zustände‘, um der Ehe mit ihm auszuweichen – bis ein Mann ausgesucht wurde, der ihr gepasst hat. Das habe ich nicht gewußt damals. Und wahrscheinlich ist die Partisanenkrankheit dort entstanden. Schließlich waren 80.000 – 120.000 junge Leute praktisch geisteskrank.“
Im Sinne unseres Themas kann man vielleicht sagen: Weil sie ihre neue Heimat – die Partisanengruppe, die Armee, mit der sie für eine neue Gesellschaft gekämpft hatten – verlassen und zurück in ihre alte Heimat, die es nicht mehr gab, gehen mußten, dazu noch unbewaffnet, wehrten sie sich dagegen, indem sie mit Schaum vorm Mund zusammenbrachen, um sich schlugen und fortan imaginäre Gegner mit einer Waffe, die sie nicht mehr besaßen, erschossen.
Für den nationalsozialistischen Staatsrechtler Carl Schmitt, aber auch für den einstigen Partisanenbekämpfer, späteren Widerstandsforscher und noch späteren Begründer der Künstlersozialkasse Rolf Schroers kämpfen die Partisanen immer und überall für die Wiederherstellung eines alten Rechts- und Autonomie-Raumes, wohingegen alle die, die für etwas noch nicht Dagewesenes (Neues) Partei ergreifen, bloß Revolutionäre sind. In seiner „Theorie des Partisanen“ prophezeite Carl Schmitt 1932/1963: „Der Partisan wird mindestens noch so lange einen spezifisch terranen Typus des aktiven Kämpfers darstellen, wie antikolonialistische Kriege auf unserem Planeten möglich sind“. Es gibt inzwischen Partisanentheoretiker, wie den BBC-Programmchef Steward Hood, der einst in der Toskana als Partisan auf Seiten der Italiener kämpfte, die meinen, dass nunmehr, mit dem Verschwinden der bäuerlichen Dörfer und Wälder auch kein Partisanenkampf mehr möglich ist – höchstens noch eine „Stadtguerilla“. Ähnliches legen auch die Überlegungen des bayrischen Filmemachers Herbert Achternbusch nahe, den der DDR-Dramatiker Heiner Müller einmal als „Klassiker des antikolonialen Befreiungskampfes auf dem Territorium der BRD“ bezeichnete: „Da, wo früher Pasing und Weilheim waren, ist heute Welt. Ein Mangel an Eigenständigkeit soll durch Weltteilnahme ersetzt werden. Man kann aber an der Welt nicht wie an einem Weltkrieg teilnehmen. Weil die Welt nichts ist. Weil es die Welt gar nicht gibt. Weil Welt eine Lüge ist. Weil es nur Bestandteile gibt, die miteinander gar nichts zu tun haben brauchen. Weil diese Bestandteile durch Eroberungen zwanghaft verbunden, nivelliert wurden. Welt ist ein imperialer Begriff. Auch da, wo ich lebe, ist inzwischen Welt. Früher hat man einen Bachlauf nicht verstanden, heute wird er begradigt, das versteht ein jeder. Ein Bach, der so schlängelt. Karl Valentin sagt: ‚Das machen sie gern, die Bäch’….“
In dieser (kapitalistischen) „Welt“ kann man also keine Heimat (mehr) haben, wie sieht es aber mit der „sozialistischen Welt“ aus? Ronald Schernikaus Mutter Ellen sagte es kurz vor ihrer Rückreise in die DDR in einem taz-interview so: „Ich will als Arbeitende zurückgehen, dann in Ruhe alt werden. Ohne Angst vor Arbeitsplatzverlust oder vor dem Rausschmiß aus der Wohnung wegen Umwandlung in Eigentumswohnungen. Das ist für mich Lebensqualität, die für mich auch den Begriff Heimat prägt. Aber das Wichtigste ist, ich muß mich nicht mehr verstellen.“
Kaum hatte sie jedoch ihre Stelle als Medizinpädagogin in Magdeburg angetreten, wo kurz zuvor die RAF-Terroristin Inge Viett eine neue Heimat gefunden hatte, löste sich ihre alte Heimat DDR auch schon auf. Ähnlich erging es ihrem Sohn, der ab 1986 als erster Westdeutscher am Leipziger Literaturinstitut studierte (das war seine „glücklichste Zeit“, es „grauste ihn davor, nach Westberlin zurück zu müssen“) – und dann 1989 als letzter in der DDR eingebürgert wurde. In seinem Antrag schrieb er: „Die DDR ist der Ort, an dem politische Arbeit, literarische Arbeit und Lohnarbeit nicht mehr auseinanderfallen.“ Wohl wissend, dass man dort – im Gegensatz zur BRD – nur sehr wenig arbeiten mußte, um gut leben zu können – was er immer kritisiert hatte. Schlußendlich ging die DDR auch nicht an der Unfreiheit, sondern an zu viel Freiheit – in der Produktion nämlich – zugrunde. Einige Tage nach dem Mauerfall sagte er in einem SFB-Interview: „In der DDR verhungert keiner – also so wenig arbeiten, dass man in der DDR verhungert, das geht gar nicht…Aber die ökonomischen Probleme werden sich nun grauenhaft verschärfen.“
Ronald Schernikau bekam eine Arbeitsstelle im Henschel-Verlag und eine Wohnung in Hellersdorf zugewiesen, die er mit Ikea-Möbeln einrichtete. „Schernikau ist im Hafen eingelaufen. Lebt gut,“ berichtete Peter Hacks seinem Freund André Müller Ende September 1989. Matthias Frings schreibt: Schernikau empfand es als herrlich, dazuzugehören. Genau das hatte er sich gewünscht: „Die Negation hinter sich lassen, den Versuch wagen, ja zu sagen.“
Aber schon bald, während der Abwicklung des Sozialismus durch den Westen, geht es Schernikau immer schlechter. „Trotzig verkündete er, man könne ein Land auch lieben, wenn es nicht mehr existierte. Verbal konnte er dem Lauf der Geschichte noch die Stirn bieten, emotional gelang ihm das nicht mehr. Trauer und Schmerz hielten ihn im Griff,“ so Matthias Frings. Der ostdeutschen Zeitschrift „Temperamente“ erklärte Schernikau in einem Interview: „In die DDR zu gehen, das ist der Versuch, sich die Welt auszusuchen. Ich hatte zum Westen keine Lust.“ Am 1.März 1990 hält er als neues Mitglied auf dem außerordentlichen Schriftstellerkongreß der DDR noch eine Rede. U.a. bezeichnete er darin die Öffnung der Grenzen der DDR als einen konterrevolutionären Akt. Die taz veröffentlichte daraufhin eine Seite pro und contra Schernikau.
Am 1.April wird in Düsseldorf der Treuhandchef Detlev Rohwedder ermordet – angeblich von der RAF. In einem „Bekennerschreiben“ wird abweichend von allen bisherigen Erklärungen der RAF neue deutsche Literatur zitiert – von Ronald Schernikau: „Ich weiß nicht, was Verelendung sonst sein soll! Eine Maus in einem Rad, die läuft und hat Jeans und Kopfhörer.“ Wenige Monate später wird seinem Biographen klar, was Ronald Schernikau schon lange ahnte oder wußte: Er hat Aids – und nun nicht mehr lange zu leben. „Keiner stirbt, wenn er nicht will,“ so lautete einst einer seiner Lieblingssätze. Er stirbt am 20.Oktober 1991 und wird auf dem Friedhof der St. Georgen-Gemeinde in Berlin-Friedrichshain begraben. Der Verlust seiner neuen Heimat hat ihn umgebracht. Damit bewahrheitete sich auch noch die (falsche) These des Ostberliner Partisanen und Immunologen Jakob Segal, das der HI-Virus das Ergebnis militärischer Experimente im US-Fort Detrick, Maryland, sei: Mit dieser Biowaffe wolle man gezielt bestimmte Bevölkerungsgruppen bekämpfen. Segal hatte seinen Bericht darüber 1987 in der taz – unter der Überschrift „Aids, die Spur führt ins Pentagon“ – veröffentlicht.
„Die Welt des Ronald Schernikau war immer Möglichkeit, sein Blick ging in die Zukunft,“ schreibt Matthias Frings. Und die „Zukunft“, das war für ihn stets die DDR, in der BRD lebte man dagegen in der Vergangenheit. Bereits seine erste Empfindung im Westen gleich nach der Republikflucht war laut Frings „ein Gefühl des Verlusts“ gewesen. Während seine Mutter das Gefühl hatte, in eine Falle geraten zu sein – und deswegen bis zu ihrer Rückkehr in die DDR von „Heimweh“ geplagt wurde. Seinem Roman über seine Mutter: „Die Frau im Kofferraum“, die ihm dafür 1980 großzügig ihre Geschichte, die sie eigentlich selber aufschreiben wollte, überlassen hatte, stellte er ein Zitat von Dante voran: „Kein größerer Schmerz, als der glücklichen Zeit zu gedenken im Elend.“
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Als ich diesen Text fertig hatte, schickte ich ihn an Karsten Krampitz. Der schrieb mir zurück:
Großartig. War doch ein guter Handel, jedenfalls für mich. Ich bin ja sowas von beeindruckt.
Jetzt muss ich das nur noch dem Werning, seines Zeichens Mitherausgeber, irgendwie klarmachen, dass dein Text viermal so lang ist wie die anderen. Aber das geht schon in Ordnung. Dann haben wir eben zwei längere Beiträge im Buch.
Hab vielen Dank & herzliche Grüße
Karsten