vonBlogwart 09.04.2011

taz Blogs


Willkommen auf der Blogplattform der taz-Community!

Mehr über diesen Blog
Foto: Fiona Krakenbürger
Foto: Fiona Krakenbürger

Um 15 Uhr nachmittags steht auf einmal eine Handvoll Menschen vor dem Haus der Kulturen der Welt: Sie haben Transparente dabei. Auf einem steht: „Heller: ‚Niemand wurde erschossen, niemand wurde gefoltert’“ Auf einem anderen: „Respekt für Ungarn“. Die ungarische Philosophin Ágnes Heller ist beim taz-Medienkongress, um über das ungarische Mediengesetz zu sprechen – um was geht es bei dem Protest?

Heller ist es gewohnt, verfolgt und verunglimpft zu werden: In ihrer Heimat erhält sie Drohanrufe und Hassbriefe, weil sie die Regierung kritisiert und vor allem den neuen Verfassungsentwurf anprangert, durch den sie demokratische Prinzipien verletzt sieht. Aber was hat die „Union für den Deutsch-Ungarischen Dialog“ (UDUD), die vor dem Kongressgebäude in ihren Flyern die deutsch-ungarische kulturelle Zusammenarbeit preist, damit zu tun? Welchen Grund hat sie, gegen Heller zu protestieren? Warum sind auf einmal Polizisten im Haus, angefordert von den Veranstaltern, wie einer der Polizisten erklärt, um „Präsenz zu zeigen“? Ein ungarischer Fotograf, der für die Zeitung Magyar Nemzet hier ist, erklärt, es gehe hier um politische Debatten in Ungarn, er für seinen Teil sei völlig unpolitisch und wolle dazu nicht Stellung beziehen.

Tatsächlich hat diese Auseinandersetzung nichts mit der Diskussion um die ungarische Pressefreiheit zu tun; es geht um Jahre zurückliegende Ereignisse – zumindest vordergründig: Als Heller vor einigen Wochen vor der EU-Kommission über das Mediengesetz sprach, wurde sie von einer ungarischen Abgeordneten auf Ereignisse im Jahr 2006 angesprochen: Damals, im Oktober vor fünf Jahren, hatte es in Ungarn heftige Proteste gegen die damalige sozialistische Regierung gegeben. Die Polizei war mit brutaler Gewalt auf die Demonstranten losgegangen, sie feuerte Gummigeschosse ab, prügelte auf friedliche Demonstranten ein und versuchte, die Menge mit Wasserwerfern auseinander zu treiben. Heller äußerte sich vor der Kommission in nur einem Satz zu diesen Ereignissen: „Niemand wurde erschossen, niemand wurde gefoltert.“

Agnes Heller (Mitte). Foto: Fiona Krakenbürger
Agnes Heller (Mitte). Foto: Fiona Krakenbürger

Das nimmt ihr die UDUD übel: „Sie versucht, damit die damalige sozialistische Regierungspartei MSZP zu schützen, der sie nahe steht. Sie leugnet diese Ereignisse, obwohl es Berichte von Amnesty International darüber gibt“, sagt Robert Soyka, einer der Mitglieder der UDUD. Und er geht noch weiter: Er wirft ihr vor, staatliche Gelder für die Übersetzung von Büchern erhalten zu haben, die schon längst auf ungarisch erschienen waren. Sie habe ein persönliches Interesse daran, dass die MSZP nicht in schlechtem Licht dastehe. Deswegen betreibe sie Hetze gegen den jetzigen Regierungschef Victor Orbán und seine nationalistische Partei Fidesz: Heller versuche, Fidesz in der Öffentlichkeit als faschistisch darzustellen, um sie in der europäischen Öffentlichkeit zu diskreditieren.

Diese Vorwürfe erinnern stark an eine Hetzkampagne, die im Januar gegen Ágnes Heller und andere ungarische Akademiker gestartet worden war: Ihnen wurde vorgeworfen, staatliche Forschungsgelder zweckentfremdet zu haben. Initiiert wurde das Ganze von einer regierungsnahen Zeitung – der Magyar Nemzet. Ausgerechnet von dieser Zeitung stammt auch der Fotograf, der sich vorhin noch als unpolitisch bezeichnete.

Konservative Ungarin diskutiert mit Agnes Heller. Foto: Fiona Krakenbürger
Konservative Ungarin im Publikum diskutiert mit Agnes Heller. Foto: Fiona Krakenbürger

Doch was hat es mit der Aussage Hellers zu den Demonstrationen von 2006 auf sich? „Als mich die ungarische Abgeordnete vor der EU-Kommission mit der Frage nach den Ereignissen von 2006 provozieren wollte, war ich nicht bereit, mich auf diese Diskussion einzulassen. Ich war da, um über das Mediengesetz zu sprechen. Und außerdem bin ich im Oktober 2006 gar nicht in Budapest, sondern in den USA gewesen. Ich habe nicht mit eigenen Augen gesehen, was passierte.“ Sie leugnet die brutale Gewalt gegen die Demonstranten nicht, sie will nur nicht Dinge kommentieren, die sie nicht beurteilen kann. Ihre Objektivität hatte fatale Konsequenzen, denn in der ungarischen Presse wurde jener Satz falsch übersetzt. Aus ihrer Aussage, es sei niemand erschossen worden, machten die Zeitungen: Auf niemanden wurde geschossen. Aus ihrer Aussage, dass niemand gefoltert wurde, machten die Zeitungen: Niemand wurde verprügelt. Ihre Aussage wurde also verfälscht, so dass sie als Lügnerin dastand.

Das kann kein bloßer Übersetzungsfehler sein. Nicht nur, dass Orbán und seine Anhänger sie einmal mehr als Verräterin darstellen: Eine rechtsradikale Website veröffentlichte außerdem ihre Handynummer und nun erhält sie regelmäßig Drohnachrichten und -anrufe. Die Handynummer zu wechseln ist für sie aber keine Option: „Ich lasse mich von denen nicht beeinflussen.“

Welchen Grund hat nun aber die UDUD, beim Medienkongress von taz und Freitag gegen Heller zu protestieren? Heller sagt: „Vermutlich sind es ein paar Irre; rechte Emigranten, die Orbán unterstützen.“ Welchen Hintergrund die UDUD auch immer hat: Ihre Anwesenheit und die der regimetreuen Zeitung Magyar Nemzet verdeutlichen mehr als jede Diskussionrunde, wie tief gespalten Ungarn ist – und welch wertvolles Gut die Meinungsfreiheit.

Anzeige

Wenn dir der Artikel gefallen hat, dann teile ihn über Facebook oder Twitter. Falls du was zu sagen hast, freuen wir uns über Kommentare

https://blogs.taz.de/niemand_wurde_erschossen_niemand_wurde_gefoltert/

aktuell auf taz.de

kommentare