No piss
Wir fahren mit dem Auto von Berlin nach Lissabon, A., W. und ich, drei Männer. Das Haus an der Küste in der Nähe von Lissabon, ist für drei Wochen gemietet, und der Weg dorthin länger als wir dachten, trotzt geräumigen und schnellen Mercedes haben wir uns in der langen Entfernung, die durch vier Länder führt, und der Zeit, die wir dafür benötigen, total verschätzt, so dass wir einen Tage später als erwartet im Haus des malerischen Ortes ankommen. Dort werden Frau und Kinder schon ungeduldig, ihre Flugzeit von Berlin Lissabon beträgt nur knapp vier Stunden und der Pilot hatte sich nicht verflogen. Insgesamt wohnen jetzt für drei Wochen zehn Personen im Haus, alle finden ein Bett, Tagesregeln werden aufgestellt und Aufgaben verteilt, die ersten Sonnenbrände verarztet. Fast jeder meckert über das Wetter, aber die Atlantikküste ist nicht das Mittelmeer und spätestens am Abend kommt immer mehr Wind auf und es wird kühl.
Am nächsten Tag strahlt die Sonne. Alle gehen zum Strand, der nur einige hundert Meter vom Haus entfernt liegt. W. sitzt neben mir auf einem grünen Badetuch. Er raucht eine Zigarette nach der anderen, die Packung kostet nur halb so viel wie in Deutschland, ein guter Grund, mehr zu rauchen.
Ich merke, W. möchte mir etwas Wichtiges sagen, findet jedoch keinen vernünftigen Anfang.
„Ich hab ja kein Führerschein und kein Auto,“ damit eröffnet er seinen Dialog. Ich antworte nicht.
„In drei Stunden muss ich in Lissabon am Flughafen sein,“ fährt er fort, dann entsteht eine Pause. Nach der Länge einer Zigarette, setzt W. erneut an, steckt die nächste Zigarette zwischen die Lippen und lässt dabei einen schwachen schmatzenden Laut hören.
„Du rauchst ja nicht, D. kommt, ich hole sie vom Flughafen ab, kannst du mich zum Flughafen fahren?“
„Das Haus ist voll, ich will keinen Ärger“, antworte ich.
Mir war nicht bekannt, dass D. auch nach Portugal kommen wollte und schon gar nicht in unser Haus. W. hatte mit D. eine kurze Liäson, das war mir bekannt, aber ich dachte, die Sache sei ausgestanden. Ich bin überrascht, und fühle mich etwas überrumpelt.
„Tut mir Leid, ich habe auch nicht gewusst, dass sie kommen wollte, aber in diesem Augenblick besteigt sie den Flieger,“ setzt W. nach und schaut auf seine Uhr.
Ich bin der einzige im Haus, der ein Auto besitzt. Wir räumen den herrlichen Strand, setzen uns ins Auto und fahren fünfzig Kilometer zum Flughafen, um D. abzuholen.
Zurück im Haus, verschwinden beide im Zimmer von W. für vierundzwanzig Stunden. Gegen Abend klopft ein mir unbekannter Mann an die Tür. Ich erfahre, es ist der langjährige Freund von D., der ihr nachgereist war. Auch dieser verschwindet in W.‘ s Zimmer und wird vorerst nicht mehr gesehen. Kinder und Frauen staunen über diesen Vorgang. A. hält sich aus allem raus. Da W. wie die anderen, sein Beitrag für die Kosten eines Zimmers bezahlt hat, ist es schwierig für mich, die allmählich anschwellende Empörung der anderen drei Frauen im Haus zu überhören.
„Was machen die drei da oben? Und wieso ist sie und der Neue eigentlich da drin?, werde ich immer wieder gefragt. Ich kann keine Antwort geben. Das kann nur W., der heimlich ab und zu das Zimmer verlässt, um Wasser und Essbares zu besorgen. W. schweigt. Da niemand der Anwesenden mit W. verheiratet ist oder verschwägert, entscheidet der Rest des Hauses, sich nicht mehr um die drei in ihrem Zimmer zu kümmern und den Urlaub zu genießen, der sich in diesen Tagen mit herrlichem Sonnenschein von seiner besten Seite zeigt.
Nach einem weiteren Tag steigt W. die Treppe herunter und fragt mich, ob ich einen Arzt besorgen könne, D. habe wahrscheinlich Verdauungsstörungen, könne kaum laufen und benötige einen Arzt.
Im Ort selbst arbeitete kein Arzt, mir gelingt es, aus dem nächst grösseren Ort, zwanzig Kilometer entfernt, eine Urlaubsvertretung aufzutreiben. Ich höre von W., dass der Arzt die notwendige Untersuchung des Intimbereichs von D. unter einer Decke absolvierte, die er über D’s unteren Körperbereich legte, ein altes orientalische Verfahren, wie ich wenig später von Einheimischen erfahre.
Die Diagnose besteht in der Auskunft, D. habe einen Harnverschluss und Blasenentzündung, noch nicht gefährlich, aber wenn sie nicht am nächsten Tag pinkeln könne, müsse sie ins Krankenhaus.
W. versichert mir, dass alle drei, alles versucht hätten. Mehrere Stunden sei er neben der Dusche gestanden und habe D. am Bauch und zwischen den Beinen abgeduscht, damit durch das Duschwasser Bewegung in den Harnfluss komme und D. Linderung spüre. Ihre Schmerzen seien höllisch. Ihr langjähriger Freund habe ihn abgelöst und auch über Stunden versucht, die Harnverstopfung zu befreien, bisher ohne Erfolg. Jetzt schalten sich die drei anderen Frauen im Haus ein und geben Ratschläge aus Omas Apotheke. W. spielt den Boten durch die verschlossene Tür, D. will niemanden sehen. Ein neues Urlaubsthema ist gefunden, Verdauung, Verstopfung, Durchfall.
Auch in der Nacht stehen beide Männer neben der Duschwanne und besprenkeln den Körper von D.
Am nächsten Tag rufe ich einen Krankenwagen. Dieser fährt langsam durch die enge Straße bis zu unserem Haus. Der Verkehr ist für ein halbe Stunde lahm gelegt. D. wird auf einer Trage liegend mit schmerzverzerrtem Gesicht in den Krankenwagen geschoben und in ein Krankenhaus nach Lissabon gebracht. Alle Bewohner unseres Hauses stehen neben der Trage, muntern auf oder bedauern.
Ich fahre mit W. und dem langjährigen Freund in meinem Mercedes direkt hinter dem Krankenwagen, um zu wissen, in welches Krankenhaus D. gebracht wird. Unterwegs verliere ich
einmal den roten Wagen, der ab und zu die Sirene betätigt, kann aber wieder trotz sehr starken Verkehrs Anschluss finden.
D. wird sofort auf die Notstation gebracht und von zwei Ärzten untersucht. Nach zwanzig Minuten kommt sie strahlend aus dem Behandlungszimmer. Sie darf das Krankenhaus sofort wieder verlassen. Es hat geklappt.
Am nächsten Morgen zieht D. allein mit ihrem langjährigen Freund drei Straßen weiter in ein anderes Haus. W. bleibt bei uns, die Beziehung zu D. ist endgültig beendet. Wir erfahren, woher die akuten gesundheitlichen Probleme von D. Wahrscheinlich kamen. D. stürzte sich unvorsichtiger Weise sofort nach ihrer Ankunft ins kalte Atlantikwasser, obwohl sie erst vor drei Tagen eine Abtreibung hatte.
Auf der Rückreise, zwischen Bilbao und San Sebastian, erzählt mir W. unter dem Mantel größter Verschwiegenheit, dass D. ein paar Minuten, bevor der Krankenwagen zu uns ins Haus kam, plötzlich wunderbar pinkeln konnte, sich aber nicht traute, die Abholungsaktion durch den Krankenwagen nach Lissabon abzublasen. Was die drei in ihrem Zimmer zu besprechen hatten, erfuhr ich nicht, wollte es aber auch nicht wissen.