vonJakob Hein 10.01.2009

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Im Grunde lächerlich

Sehr geehrter Herr Bundesfinanzminister,

Sehr geehrte Damen und Herren,

erlauben Sie mir zunächst, Ihnen alles Gute für das kommende Jahr zu wünschen. Sicherlich haben auch Ihnen die ungeheuer tief schürfenden Analysen der Presse viel Hoffnung gegeben, dass die Finanz- und Wirtschaftskrise überwunden werden kann. Es wird Sie nicht wundern, dass auch ich mich in diesem Zusammenhang heute an Sie wenden möchte, namens der Reformbühne Heim & Welt, die älteste Lesebühne Berlins und damit Deutschlands und damit der Welt.

Um es geradeheraus zu sagen: wir benötigen einen finanziellen Rettungsschirm über unserer Unternehmung, um einen ökonomischen Zusammenbruch und damit nicht absehbare Folgen für das gesamtwirtschaftliche Gefüge abzuwenden. Wir haben in den letzten Jahren sicherlich nicht schlechter gewirtschaftet als die meisten Banken, denen jetzt ein solcher Schutz gewährt wird. Natürlich haben wir schlecht gewirtschaftet, aber während beispielsweise die HypoRealEstate Verluste im dreistelligen Milliardenbereich abschreiben muss, beläuft sich unser Gesamtschaden im niedrigen Millionenbereich. Wenn man davon ausgeht, dass ein Schriftsteller für eine Lesung ein gewerkschaftlich festgelegtes Mindesthonorar von 250 Euro zu erhalten hat, so sind während unserer etwa 700 Lesungen der letzten Jahren 1,2 Millionen an Honorarforderungen aufgelaufen. Von diesen haben wir bereits etwa 80.000 Euro an die Kollegen beglichen, so dass nur noch 1,1 Millionen an Verbindlichkeiten bestehen.

Unsere strategische Ausrichtung sieht vor, mindestens weitere 13 Jahre lang aufzutreten, so dass hier weitere finanzielle Verpflichtungen von 4 Millionen Euro entstehen werden – hier haben wir die Inflationsentwicklung sowie den Umstand eingerechnet, dass wir alle zu festen Größen in der literarischen Welt herangewachsen sind und uns daher nicht weiter mit 250 Euro Honorar zufrieden geben können. Die Begleichung der Kosten aus Eintrittsgeldern hoffen wir von 6 % auf 7,5 % bis zum Jahr 2018 zu steigern, aber von einer Kostendeckung durch Eintrittsgelder sind wir derzeit leider noch zu weit entfernt – diese wird ein strategisches Ziel bleiben.

Um wirtschaftlich auch langfristig unabhängiger zu bleiben, sollten wir eine eigene Lokalität für die Reformbühne kaufen. Ein günstiges Angebot für 2 Millionen Euro liegt uns vor. Dies ermöglicht uns auch eine Steigerung der Einnahmen, da wir so Getränkeeinnahmen selbst erzielen. Weil wir aber nur sonntags auftreten, wird eine gewisse Deckungslücke in den Betriebs- und Personalkosten entstehen, die jedoch mit nochmals 5 Millionen Euro für zehn Jahre kompensiert werden kann. Alles in allem benötigen wir ein Paket über die im Grunde lächerliche Summe von 14 Millionen Euro für die kommenden zehn Jahre, nicht einmal ein Drittel eines Promilles des Bankenpakets! – das sind nach Abzug der Verwaltungskosten nicht einmal zwei Millionen für jeden von uns, soviel wie Herr Ackermann in einem Monat verdient!

Sollten Sie dieser Lösung nicht zustimmen, sind die Folgen absolut unabsehbar. Es handelt sich bei uns um Schriftsteller mit herausragender Bedeutung. Einer der Kollegen ist gerade aus Sofia zurückgekehrt, ein anderer ist von zentraler Bedeutung für die Befriedung des explosiven sozialen Gefüges im Bezirk Neukölln, einer befindet sich im regelmäßigen Zwiegespräch mit Gott usw. usf. Darüber hinaus haben wir überdurchschnittlich talentierte Kinder, die wir alle zu Wirtschaftskapitänen erziehen wollen. Wenn uns aber hierfür die notwendigen Mittel fehlen, können wir sie nur auf eine Karriere beim Sozialamt vorbereiten, wodurch jedes Kind allein Transferzahlungen im Millionenbereich erhielte, anstatt großzügig in das Sozialsystem einzuzahlen.

Es gibt also ohnehin keine Alternative, so dass wir Sie eindringlich bitten, bald die erforderliche Zahlung zu veranlassen. Und wenn Sie in nächster Zeit mal Ihren Kabinettskollegen Jung treffen, bitten Sie ihn doch um ein robustes Mandat für die Reformbühne. Wir wissen zwar nicht so genau, was das bedeutet, aber das weiß der Jung bestimmt auch nicht und wir finden den Klang einfach großartig.

Viele Grüße,

Jakob Hein

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