Das andere Amerika hat Flagge in Washington gezeigt. Jenes, das vor zwei Jahren für einen historischen Ruck gesorgt und den ersten schwarzen und demokratischen Präsidenten an die Spitze der USA gebracht hat.
Hispanics, AfroamerikanerInnen, GewerkschafterInnen, Feministinnen, Homosexuelle und viele andere Gruppen – zahlreiche Bürgerrechtsgruppen, aber nur wenig Parteien – haben an diesem Samstag in die Mall geladen. Zigtausende sind gekommen. Ihr Motto: „One Nation Working Together“.
Mit ihnen ist der Park im Zentrum der US-Haupstadt auf einen Schlag bunt geworden. Es ist ein starker Kontrast zu der Versammlung, die rechte, religiöse und mehrheitlich weiße FundamentalistInnen von Tea Party und Republikanischer Partei im August an derselben Stelle abgehalten haben. Damals hatte der Organisator den RednerInnen verboten, über Politik zu sprechen. Und die DemonstrantInnen mußten auf seine Weisung ganz ohne Transparente auskommen. Viele lehnten sogar Gespräche mit JournalistInnen ab.
An diesem Samstag hingegen kommt alles zur Sprache, was das Amerika von unten bewegt: von den Jobs, über die Zwangsversteigerungen von Häusern, den Rassismus, die Kriege und das nicht geschlossene Lager von Guantánamo bis hin zu der Gesundheitsreform, die vielen DemonstrantInnen nicht weit genug geht.
„So sieht Amerika aus“, ruft ein Redner vom Lincoln Memorial in die Menschenmenge. „Wir haben längst nicht alles bekommen, was wir wollten“, ruft ein anderer, „laßt uns jetzt das verteidigen, was wir gewählt haben.“ Auf den Tag genau einen Monat vor den Halbzeitwahlen appelliert er, zu verhindern, dass die RepublikanerInnen die Mehrheit im Kongress bekommen.
Anne (35) und Bob (73) Wilfong sind 13 Stunden im Auto von Florida nach Washington gefahren, um an der Demonstration teilzunehmen. Die Tochter, arbeitslose Chemieingenieurin, und der Vater, pensionierter Mitarbeiter des Verteidigungsministeriums, wollen ein Zeichen setzen gegen „den Hass, die Lügen und die Propaganda“ von rechten IdeologInnen wie Glenn Beck, Anne Coulter und Rush Limbaugh, die in Radio und Fernsehen die Ideen der Tea Party verbreiten. Den Erfolg der rechten Bewegung erklärt die Tochter so: „Rassismus und Angst vor Veränderung“. Ihr Vater erinnert sich daran, dass während der schwarzen Bürgerrechtsbewegung in den 60er Jahren zahlreiche weiße Mitglieder in den Südstaaten die Demokratische Partei verlassen haben und zu den RepublikanerInnen übergewechselt sind. „Seither haben sie versucht, jedes fortschrittliche Projekt zu verhindern. Und haben jeden demokratischen Präsidenten systematisch blockiert. Neu an der Tea Party ist bloss, dass sie dabei noch unverfrorener vorgeht. Wenn sie z.B. Obama mit Hitlerbärtchen zeigt.“
Bob Allison (37) ist mit mehr als 380 anderen KollegInnen aus der Dienstleistungsgewerkschaft SEIU von Detroit nach Washington gereist. Er ist „extrem wütend – vor allem wegen der Krise auf dem Wohnungsmarkt in Michigan“. 109.000 Häuser sind in dem Bundesstaat in den vergangenen zwei Jahren zwangsgeräumt worden. Wenn es so weiter geht, werden im im nächsten Jahr noch sehr viel mehr Familien auf die Straße gesetzt werden. „Wir haben die Banken mit Trillionen gerettet“, sagt der Gewerkschafter, „die Banken haben die spekulative Blase geschaffen. Jetzt ist es an ihnen, die Hypothekenhöhen den realen Marktwerten der Häuser anzupassen.“ Er sitzt auf der Treppe am Fuß des Lincoln Memorials und schaut zufrieden in die Menschenmenge vor sich. Dabei sinniert er: „Die Tea Party verbreitet Hass. Und es ist wahrscheinlich, dass die Republikaner im November einige Sitze im Kongress dazugewinnen. Aber unserer Aufgabe ist es, Zeichen gegen den Hass und die Angst Hoffnung zu setzen. Wenn wir in unsere Bundesstaaten zurückkehren, müssen wir arbeitenden Menschen zusammen halten, präsent sein und sagen, was wir wollen. Dann können wir eine andere Gesellschaft aufbauen.“
Koch-Oil ist einer der Finanziers der Tea Party. In den 80er Jahren hat David Koch selbst eine politische Karriere versucht. Aber „er war zu rassistisch und zu rechts“, sagt Mary Jo Trumbly, „jetzt versucht er, seine Meinungen über die Tea Party in die Öffentlichkeit zu bringen.“ Zuhause im Bundesstaat Oklahoma hat die Demonstrantin ein Geschäft, in dem sie Schmuck und andere Artikel verkauft. „Ich bin Mittelschicht“, sagt sie, „aber ich fühle mich reich“. Zu der Demonstration in Washington hat sie ein Transparent mit zwei Botschaft mitgebracht. Vorne ist zu lesen: „Koch ist nicht euer Freund“. Auf der Rückseite erinnert sie daran, dass Koch „Öl gestohlen“ habe. Und zwar vom Stammesland der Osage-IndianerInnen, woher auch Mary Jo Trumble kommt: „Er ist Milliardär. Den Widerstand hat er mit Geld gebrochen.“
Mardge Cohen und Jim Racht arbeiten als ÄrztInnen in Boston. Die beiden sind nach Washington gekommen, weil sie mit der Gesundheitsreform von Obama nicht zufrieden sind. „Diese Reform ist halbherzig, nutzt den privaten Versicherern, aber längst nicht all jenen Patienten, die sie brauchen“, stellt Mardge Cohen fest: „für Bedürftige und für die untere Mittelschicht werden die Gesundheitskosten in der Zukunft empfindlich steigen“. Die Ärztin, die in einer Klinik für Obdachlose arbeitet, will bei Wahlen grundsätzlich nur für KandidatInnen stimmen, die eine neue Gesundheitsreform vorhaben. Auch für ihren Kollegen Jim Racht ist eine neue, gründliche Gesundheitsreform oberste Priorität. Aber er sieht auch andere Gründe, die es rechtfertigen, eine Mehrheit der Republikanischen Partei im Kongress zu verhindern: die Einwanderungsgesetzgebung und die Bürgerrechtsfragen zum Beispiel.
Olivia Segura ist in einem Bus voller Hispanics aus Illinois angereist. Als 15jähriges Mädchen hat sie Mexiko-Stadt verlassen, um in die USA zu kommen. Und hat dort längst die Staatsangehörigkeit erhalten. Ihre Tochter ist im Jahr 2007 im Irak-Krieg ums Leben gekommen. Jetzt droht ihrem Mann die Abschiebung nach Mexiko. Der Grund: er ist vor sieben Jahren wegen Trunkenheit am Steuer erwischt worden. „Ich kämpfe dafür, dass er bleiben kann“, sagt die 42jährige, „wir werden wegen unserer Hautfarbe diskriminiert. Wir werden ständig kontrolliert. Wir kommen ins Gefängnis. Und wir werden abgeschoben. Das muss aufhören.“
John L Williams (51) aus Georgia hat drei Jobs: er betreibt einen Kindergarten, er handelt mit Immobilien und er ist Pastor in einer protestantischen Gemeinde. Damit fühlt er sich der „oberen Mittelschicht“ zugehörig. Über Präsident Obama äußert er sich nur positiv. „Die Wirtschaft lag schon am Boden, als er das Amt übernommen hat“, sagt John L Williams, „und jetzt halten die Konzerne das Geld, das sie in dem Konjunkturprogramm „Stimulus“ bekommen haben, zurück, anstatt es zu investieren. Ihr Mangel an Fairness ist offensichtlich.“
Der Veteran aus der Vietnam-Ära, Rich Jarrell, weiss, dass sein Transparent mit dem Slogan „amerikanische Jobs für amerikanische Arbeiter“ nationalistisch klingt. Aber rassistisch sei es nicht im geringsten, sagt er und weist auf die vielen verschiedenen Hautfarben in der Menschenmenge in der Mall. „Ich habe nichts gegen meine indischen Kollegen“, sagt der 60jährige, „aber wir haben hier 15 Millionen Arbeitslose im Land und die großen Konzerne verlangen jedes Jahr neue Visa für ausländische Arbeiter von der Regierung. Sie behaupten, es gebe keine amerikanischen Facharbeiter. Das ist eine Lüge. Sie wollen lediglich billigere Arbeitskräfte.“ Er selbst hat seinen Job vor drei Jahren verloren. Seine Arbeitslosenunterstützung ist schon lange abgelaufen. Eine neuen Job hat er nicht gefunden.
Auf dem T-Shirt von Darrell Bouldin (24) prangt ein Zitat des im vergangenen Jahres gestorbenen us-amerikanischen Historikers Howard Zinn: „Demokratie ist
kein Zuschauersport“. Vor drei Jahren unterstützte der Hotel-Rezeptionist im konservativen Tennessee die Kampagne von Barack Obama. Er putzte Klinken und ging zu Diskussionen in die Universität. Doch die demokratischen KandidatInnen, die bei den bevorstehenden Midterm-Elections im November in Tennessee antreten, gehören zum rechten Parteiflügel. Und Darrell Bouldin ist ein Linker und ein Schwuler. Er wird sein Kreuzchen bei ihnen machen – „weil sie weniger schaden, als die Republikaner“ – aber mehr nicht. Stattdessen konzentriert er seine Energie auf die „Coffee Party Progressives“, die er als fortschrittliche Antwort auf die Tea Party gegründet hat. Und ist nach Washington zu der One Nation-Demonstration gereist. Dialogmöglichkeiten mit der wütenden Basis der Tea Party, für die das Wort „Regierung“ ein Schimpfwort ist, sieht er nicht: „Solange die nicht selber arbeitslos werden und wirtschaftlich leiden, werden sie nicht verstehen, dass eine Regierung Sinn macht.“
Mary Morgan ist seit dem Vietnam-Krieg unzählige Male zum Demonstrieren nach Washington gereist. „Wir haben eine Kriegswirtschaft“, sagt die 85jährige aus Ohio, „in meinem Bundesstaat ist die Luftwaffenbasis Wright Patterson, der größte einzelne Arbeitsgeber“. Sie beobachtet, dass sich vor allem ältere Leute kritisch mit den US-Kriegen befassen. Ihre Erklärung: „Ich habe immerhin ein paar Jahre ohne Krieg erlebt. Aber die Jüngeren kennen gar nichts anderes.“ Jan Griesinger (68), die mit demselben Bus aus Ohio nach Washington gekommen ist, lehnt den Zahlenvergleich mit rechten Demonstrationen gegen Obama ab. „Ich interessiere mich nicht für Duelle“, sagt sie. Diesen Samstag in der Mall beschreibt sie als eine der diversesten Demonstrationen ihres Lebens. Die Wut im Land können die beiden Frauen verstehen. „Es gibt Gründe, wütend zu sein“, sagt Mary Morgan, „der amerikanische Traum ist ins Stocken geraten ist. Aber die Tea Party nennt – mit Immigranten, Muslimen etc – die falschen Verantwortlichen.“