[ß = ss]. Während die humanitären Organsiationen ihren neuen Gassenhauer »Menschenhandel« affichieren lassen und die Wiener Polizei beflissen die Villenviertel von Hietzing bis Döbling sichert, verschwinden aus den Stiegenhäusern in den innerstädtischen Bezirken systematisch Kinderwagen, Rollerskates, Fahrräder und Spielsachen.
Ob da nun alte oder neue Ostbanden Diebsgut in Wien raffen, weiss ich nicht. Jedenfalls kommen die Täter aus Polen, Bulgarien, Rumänien; die Bandenmitglieder stammen von weit her, aus den Gefängnissen der Ukraine und Georgiens, und alle zusammen organisieren sie in der Märchenstadt Wien ein Verbrechen, das sich nicht etwa gegen die Oberschicht richtet, sondern gegen die hiesige Unter- und Mittelschicht.
Denn, sie gesagt, die schönen Villen in Wien, die mit den dicken Vans davor, sind alarmgesichert, die Eingänge werden von Kameraaugen überwacht, Polizei und private Wachdienste fahren Streifen. Das alles gibt es in den Wohnanlagen der Bezirke 1 bis 9 nicht.
Und so funktioniert die organisierte Kriminalität in Wien heute: Zuerst spionieren die für einen Hungerlohn schuftenden Zettelverteiler die Stiegenhäuser und Abstellräume nach Beute aus. Das geht ganz bequem und quasi nebenher. Die österreichische Werbewirtschaft beruft sich nämlich auf die Wettbewerbsfreiheit in der EU, so dass sämtliche Verteiler von Zetteln mit Pizzaservice-Werbung vollkommen selbstverständlich Haustorschlüssel zu Wohnhäusern und Siedlungsanlagen mit sich führen.
Diese ausgebeuteten und häufig illegalen, also ohne gesicherten Aufenthaltsstatus in Österreich arbeitenden Zettelverteiler geben die Informationen über die begehrten Objekte persönlich oder via Handy an Landsleute weiter, die sie im Schatten der Strasse begleiten. Diese Schattenmänner, es sind immer Männer, kehren dann kurze Zeit später mit dem Haustorschlüssel noch einmal zurück, zwicken blitzschnell Spiralschlösser auf und lassen besagte Kinderwagen, Fahrrädern, usw. in kleinen Lieferwagen verschwinden.
Allein in meinem Wiener Wohnbezirk habe ich Kenntnis von drei gestohlenen Kinderwagen in den letzten zwei Monaten, einer davon unmittelbar vor dem Eingang zur Praxis eines Kinderarztes. Viele Kinderärzte, vor deren Türen naturgemäss Buggys und Kinderwagen parken, sind dazu übergangen, Warnschilder für ihre PatientInnen aufzuhängen. Aber auch Stahltüren zu Kinderwagenräumen werden professionell geknackt, um an die begehrten Babykutschen zu kommen.
Die Beute der Raubzüge wird von den Kinderwagen-Banden zunächst bezirksweise in angemieteten Wohungen und Lagerräumen gesammelt, dann teilweise zerlegt und in schwarze Müllsäcke verpackt. Ist ein Lager voll, rollen Kleintransporter mit der Ware Richtung Süden und Osten. Bestimmungsziel: die fernen Märkte für Gebrauchtwaren von Polen bis Albanien.
Sie glauben mir die Geschichte nicht? Na dann stellen Sie sich nur mal ein, zwei Stunden an die ehemalige österreichischen Grenzübergänge auf den Strassen Richtung Bratislava oder Znaim! Ich garantiere Ihnen, dass innerhalb von zwei Stunden mindestens ein Transporter über die Staatsgrenze rollt, chauffiert von zwei missmutigen erwachsenen Männern und bis unters Dach vollgestopft mit Kinderspielzeug. Die Beute rollt dort täglich an den leeren Augen ohnmächtiger Zollbeamten vorbei.
Das Empörende an dieser niederschwelligen organisierten Kriminalität in Österreich ist nicht die generelle Umverteilung des Volksvermögens von West nach Ost. Jeder hat gewusst, dass das mit der Ausweitung der Schengen-Grenze kommen würde. Das Empörende ist zunächst, dass sich die neuen Gangsterein nicht gegen die Wohlhabenden richtet, gegen die mit High-Tech gesicherten Viertel, in denen die Oberschicht residiert, sondern gegen die Habenichtse im eigenen Land.
Der zweite Teil des Skandals ist, dass Politik & Exekutive dem Treiben mit demonstrativ verschränkten Armen zuschauen. Die politische Rechte im Wiener Ratshaus kreischt, wenn afrikanische Asylanten in die Bauten des neuen Musterstadtteils Kabelwerk einziehen, und die politische Linke plaudern auf parlamentarischen Enquetten mit einem Glas Sekt in der Hand über den transkontinentalen Menschenhandel. Schlimm, schlimm, gewiss!
Aber auf der Polizeistation Juchgasse lacht einem der die Diebstahlsanzeige aufnehmende Beamte frech ins Gesicht, wenn man ihm Marke und Farbe des gestohlenen Kinderwagens zur Protokoll geben willst. »Also Sie glauben ja wohl nicht im Ernst«, sagt er frei heraus, »dass wir nach Ihrem Kinderwagen suchen. Das zahlt eh Ihre Haushaltsversicherung«.
© Wolfgang Koch 2008
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