von 27.02.2010

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In den letzten Jahren wird dieser so genannte  „new international style“, wie es aus dem Umfeld diverser Institute klingt, an denen immer Mitarbeiter von Zaha Hadid Architects beteiligt sind, propagiert.

Patrik Schumacher gilt als Stratege und gibt oftmals die Gestaltungslinie vor. Als Gründungsdirektor des Design Research Lab der Architectural Association London und Gastprofessor an renommierten Universitäten wie Columbia, Harvard und der Wiener Angewandten hat Schumacher sich international als Theoretiker einen Namen gemacht. In seinem Manifest zum „Parametricism“, dem neuen großen Stil nach dem Modernismus, definiert Schumacher die Forderung zeitgenössischer Avantgarde-Architektur nach größerer Komplexität im Hinblick auf die Anwendung parametrischer Designsysteme – oder kurz: Stile sind eigentlich Gestaltungsforschungsprogramme.

Kürzlich stellte Schumacher das Konzept des Parametrismus in Berlin im Rahmen einer Ausstellungseröffnung zur „Utopie und Architektur“  der Alfred-Herrhausen-Stiftung im Guggenheimmuseum in der Deutschen Bank, Unter den Linden vor.

Die zahlreich im Publikum auszumachenden Nachwuchsarchitekten staunten nicht schlecht ob der Hightech-Programm gesteuerten Animationen. Doch nach wenigen Minuten des Vortrages: anschwellende Enttäuschung. Dass Patrik Schumacher sich eines rhetorisch lieblosen Vortragsstiles bediente, war dabei weniger die Quelle des Unmutes als vielmehr seine zunehmend haarsträubenden Behauptungen, die er zu Thesen erklären wollte. Den Höhepunkt bildete die Aussage zur Aufgabe der Architektur.

In Abwandlung eines Nietzsche-Zitats wirkt bei ihm die Architektur läuternd auf den Affen, der durch sie (die Architektur) erst als Mensch erkannt wird, um bald zum “Übermensch” zu mutieren. Es gab tatsächlich: Applaus. Manche, offensichtlich theorieerfahrenere, Zuhörer räusperten sich mit einem leidvollen: O je!

Der neue international style, formuliert von Patrik Schumacher, veröffentlicht in: ARCH+ 195, Zeitschrift für Architektur und Städtebau, November 2009 und auf der web-site des Verfassers.

„In der jüngeren Avantgarde-Architektur hat sich mit dem „Parametrismus“ eine global wirksame Tendenz herausgebildet, die in Anlehnung an Philip Johnsons Branding der architektonischen Moderne als der neue „International Style“ der zeitgenössischen Architektur begriffen werden könnte. Seine Protagonisten sehen mit der neuen Hochphase systematischer Innovationen eine wirkliche Nach-Moderne heraufziehen. Der Stil wurzelt in digitalen Animationstechniken; seine neuesten Verfeinerungen basieren auf hoch entwickelten parametrischen Entwurfssystemen und Scripting-Techniken. Nach einer fünfzehnjährigen Inkubationszeit wird nun der Hegemonialanspruch des Parametrismus sichtbar. Der neue Stil beansprucht Anwendbarkeit auf allen Entwurfsebenen, von der Innenarchitektur bis hin zur groß angelegten Stadtplanung.

Dieses stadtplanerische Potential ist in einem dreijährigen Forschungsprojekt namens „Parametric Urbanism“ am AADRL1 erforscht worden und wurde von Zaha Hadid Architects bei einer Reihe von Masterplanentwürfen angewendet, darunter dem für das Viertel Kartal-Pendik in Istanbul.

I. Parametrismus als Stil

Architektur und Stadtplanung erforschen kontinuierlich neue Techniken, die dazu dienen sollen, die architektonische und städtische Umgebung besser an die sozioökonomischen Anforderungen des Postfordismus anzupassen. Die Massengesellschaft, die von einem einheitlichen, nahezu universellen Konsumstandard geprägt war, hat sich zu einer heterogenen, pluralistischen Gesellschaft entwickelt. Der wachsenden gesellschaftlichen Komplexität entspricht eine reiche Palette von parametrischen Entwurfstechniken. Mit diesem architektonischen und stadtplanerischen Repertoire können komplexe, polyzentrische städtische Felder geschaffen werden, die dicht geschichtet und kontinuierlich differenziert sind. Wir stehen jedoch nicht einer Reihe neuer Techniken gegenüber, sondern einem neuen Stil. Die Verwendung von Animation, Simulation und Formfindungstechniken ebenso wie das parametrische Modellieren und Scripten hat eine neue Architekturrichtung mit radikal neuen Zielen und Werten inspiriert.2

Ein Netzwerk von Entwurfsforschern konkurriert um die Lösung zahlreicher neuartiger, systematisch miteinander verbundener Entwurfsprobleme.3 Stärker als die ästhetischen Gemeinsamkeiten berechtigt die weite Verbreitung und langfristige Verpflichtung auf gemeinsame Entwurfsziele und -probleme dazu, einen neuen Stil auszurufen. Diesen Stil sollte man „Parametrismus“ nennen.

Der Parametrismus ist der große neue Stil, der auf die Moderne folgt. Postmoderne und Dekonstruktivismus waren Übergangsepisoden, die diese neue Hochphase von Forschung und Innovation eingeleitet haben; der Parametrismus ist dagegen ein ausgereifter Stil. Als neues Paradigma tritt er bereits seit einiger Zeit im Bereich der zeitgenössischen Architektur und im Design in Erscheinung.

Das grundsätzliche Ziel wurde schon Anfang der 1990er Jahre mit dem Schlüsselbegriff der „kontinuierlichen Differenzierung“4 benannt. Seitdem breitet der Parametrismus sich in umfassender, ja hegemonialer Weise aus. Die kumulative Steigerung an Virtuosität und Verfeinerung wurde durch die Entwicklung von parametrischen Entwurfstools und Scripts ermöglicht, die eine präzise Formulierung und Ausführung von komplexen Korrelationen zwischen Elementen und Subsystemen erlauben. Das gemeinsame Konzept, die Computertechniken, das formale Repertoire und die tektonische Logik kristallisieren und verfestigen sich zu einem neuen hegemonialen Paradigma der Architektur.

Obwohl in der Spätphase der Moderne bereits parametrische Methoden angewendet wurden, verblieb man dabei in der gängigen ästhetischen Formsprache und versuchte, die immanente Komplexität zu verbergen. Erst durch die parametrische Sensibilität wurde diese Tendenz umgekehrt und die maximale Betonung von Differenzierung und die visuelle Verstärkung differenzierender Logiken zum Ziel erhoben. Die Ästhetik5 des Parametrismus ist gekennzeichnet durch die Eleganz6 geordneter Komplexität und den Eindruck nahtloser Fluidität7 – Eigenschaften, die auch in natürlichen Systemen vorkommen.

II. Stile als Entwurfsforschungsprogramm

Avantgarde-Stile bieten, ähnlich wie neue wissenschaftliche Paradigmen, ein neues konzeptuelles Gerüst und formulieren neue Ziele, Methoden und Werte. Dadurch wird eine neue Richtung für eine konzertierte Forschungsarbeit vorgegeben.8 Stile sind Forschungsprogramme,9 in deren Aufeinanderfolgen sich die architektonische Innovation vollzieht. Dabei wechseln stiltreue Perioden kumulativer Fortentwicklung und revolutionäre Übergangsperioden zwischen den Stilen einander ab. Stile sind Innovationszyklen und bündeln die Anstrengungen der Entwurfsforschung zu einem kollektiven Bestreben. Wie in organischen Evolutionsprozessen ist eine stabile Identität hier eine notwendige Voraussetzung. Jeder Stil hat seinen eigenen harten Kern an Prinzipien und seine typische Art, Entwurfsprobleme und -aufgaben anzugehen. Hierin unterscheidet sich der Stil grundlegend von Modephänomenen. Nur durch beharrliches Verteidigen der stilistischen Prinzipien ist Fortschritt und Erfolg möglich. Diese Hartnäckigkeit mag gelegentlich wie dogmatischer Starrsinn wirken. Dennoch ist etwa das sture Bestehen auf Entwurfslösungen, die etwa alles mit einer einzigen, gefalteten Oberfläche zu lösen versuchen, vergleichbar mit Newtons Beharren auf dem einheitlichen Prinzip, das die Bewegung von Planeten, Geschossen und Atomen erklärt. Avantgarde-Architektur produziert Manifeste, paradigmatische Illustrationen des einzigartigen Potentials eines Stils, nicht Gebäude mit vollendet ausgearbeiteten Funktionen. Auf der Grundlage ihrer baulichen Realisierungen lässt sie sich weder verifizieren noch endgültig widerlegen. Der Stil besteht zunächst aus seinen methodologischen Regeln, die festlegen, welche Forschungsansätze verfolgenswert erscheinen und welche zu vermeiden sind.

III. Die Definition einer Heuristik 10 und Zielsetzung

Die in der negativen Heuristik formulierten Regeln sollen den Rückfall in überkommene Muster verhindern, während die positive Heuristik Richtlinien und bevorzugte Techniken bietet, die eine zielführende Entwicklung des Werks ermöglichen. Die gesamte Heuristik des Parametrismus spiegelt sich in den Tabus und Dogmen der zeitgenössischen Avantgarde-Entwurfskultur wider:

Negative Heuristik (Tabus): Zu vermeiden sind strenge geometrische Körper wie Rechteck, Dreieck und Kreis, die bloße Wiederholung von Elementen sowie die Aneinanderreihung unverbundener Elemente oder Systeme.

Positive Heuristik (Dogmas): Alle Formen sind als parametrisch verformbar zu betrachten, sie sind graduell und in variierenden Differenzierungsgraden zu differenzieren, systematisch zu krümmen und in Korrelation zu setzen.

Der Fortschritt des Parametrismus hängt von der kontinuierlichen Weiterentwicklung der „Computation“11 als Entwurfsmethode und der Nutzung ihrer einzigartigen formalen und organisatorischen Möglichkeiten ab. Digital entwickelte Techniken wie Scripting (in Mel-Script oder Rhino-Script) und parametrisches Modellieren (mit Tools wie GC oder DP) werden zunehmend allgegenwärtig. Allerdings sollte deren Beherrschung und Weiterentwicklung Hand in Hand gehen mit der Artikulation neuer programmatischer Zielsetzungen. Die folgenden fünf Ansätze versuchen eine Erweiterung und damit eine Weiterentwicklung des parametrischen Paradigmas.

1. Parametrische Interartikulation von Subsystemen: Es findet ein Übergang von der Differenzierung eines einzelnen Systems – etwa einem Schwarm von Fassadenkomponenten – zur gescripteten Assoziation12 multipler Subsysteme wie Hülle, Struktur, interne Unterteilung und Erschließung statt. Die Differenzierung jedes einzelnen Systems korreliert mit Differenzierungen in den anderen Systemen. Zwischen den Systemen und innerhalb derselben entsteht ein dichtes Netzwerk von Assoziationen und Abhängigkeiten.13

2. Parametrische Akzentuierung: Der allgemeine Eindruck organischer Integration wird verstärkt, indem komplexe Korrelationen Abweichungen unterstreichen, anstatt sie auszugleichen. Wenn etwa generative Komponenten eine Oberfläche mit einer leichten Rundungsmodulation versehen, dann sollte die geregelte Korrelation der Komponenten diese Differenzierung unterstreichen. So lässt sich eine reichere Artikulation und eine verbesserte visuelle Orientierung erreichen.

3. Parametrische Figuration: Komplexe Konfigurationen mit multiplen, latent vorhandenen Lesarten können als parametrisches Modell mit extrem figurationsempfindlichen Variablen konstruiert werden. Parametrische Variationen lösen „Gestalt-Katastrophen“ aus, d.h. die quantitative Modifikation dieser Parameter löst qualitative Verschiebungen in der Wahrnehmung der Konfiguration aus. Außer den üblichen Parametern geometrischer Objekte sind umgebungsbezogene Parameter (variable Lichtverhältnisse) und Beobachtungsparameter (variable „Kamera“-Positionen und Blickwinkel) in das System einzubeziehen.

4. Parametrische Reaktionsfähigkeit: Städtische und architektonische Umgebungen können mit kinetischen Qualitäten ausgestattet werden, die sie befähigen, sich in Reaktion auf die vorherrschenden Wohn- und Nutzungsmuster zu rekonfigurieren und anzupassen. Durch die in Echtzeit erfassten Nutzungsmuster lassen sich Parameter ermitteln, die den kinetischen Anpassungsprozess ebenfalls in Echtzeit steuern. Die gebaute Umgebung erhält somit ein reaktives Handlungspotential.14

5. Parametrische Stadtplanung – Tiefe Relationalität: Die urbane Verdichtung kann als ein Schwarm, bestehend aus zahlreichen Einzelgebäuden, beschrieben werden. Die Gebäude bilden ein sich kontinuierlich veränderndes Feld, in dem durch die Regelhaftigkeit der Kontinuitäten Zusammenhalt entsteht. Parametrische Stadtplanung impliziert, dass die systematische Modulation der Gebäudemorphologien eindrucksvolle Effekte erzeugt und die Orientierung innerhalb des Feldes erleichtert. Die Integration der gesamten baulichen Morphologie bis hin zur detaillierten tektonischen Artikulation und zur Organisation der Innenräume ist das Ziel – mit dem Anspruch auf tiefe Relationalität. Parametrische Stadtplanung kann parametrische Akzentuierung, parametrische Figuration und parametrische Reaktionsfähigkeit als Hilfsmittel nutzen, um diesen Anspruch zu erfüllen.15

IV. Parametrische vs. modernistische Stadtplanung

Le Corbusiers erste theoretische Abhandlung zur Stadtplanung beginnt mit einer Lobrede auf die gerade Linie und den rechten Winkel als ein Mittel, mit dem der Mensch die Natur erobert und über sie hinauswächst. Die berühmten ersten beiden Absätze seines Buches stellen den Menschen und den Packesel gegenüber: „Der Mensch schreitet geradeheraus, weil er ein Ziel hat; er weiß, wohin er geht, er hat sich für eine Richtung entschieden und schreitet in ihr geradeheraus. Der Esel geht im Zickzack, döst ein wenig, blöde vor Hitze und zerstreut, geht im Zickzack, um den großen Steinen auszuweichen, um sich den Anstieg sanfter zu machen, um den Schatten zu suchen. Er strengt sich so wenig wie möglich an.“16 Le Corbusier bewundert die Stadtordnung der Römer und lehnt unsere sentimentale Vorliebe für die pittoreske Unregelmäßigkeit mittelalterlicher Städte ab: „Die Kurve ist verderblich, schwierig und gefährlich. Sie lähmt.“17 Le Corbusier besteht darauf: „Haus, Straße, Stadt. Sie müssen in Ordnung sein […]. Sind sie in Unordnung, so widersetzen sie sich uns.“ 18 Le Corbusiers Beschränkung ist nicht sein Beharren auf Ordnung, sondern sein eingeschränktes Konzept der Ordnung in ihrer Auffassung als klassische Geometrie. Die Komplexitätstheorie19 (oder die Chaostheorie) im Allgemeinen und die Forschungen von Frei Otto20 im Besonderen haben uns seitdem gelehrt, die komplexen Ordnungsmuster, die aus Prozessen der Selbstorganisation hervorgehen, zu erkennen, zu messen und zu simulieren. Phänomene wie der „Eselsweg“ und die städtebaulichen Muster, die aus ungeplanten Siedlungsprozessen hervorgehen, können jetzt in der ihnen zugrunde liegenden Logik analysiert und in ihrem performativen Potential beurteilt werden.

„Die Natur bietet sich unseren Augen unter chaotischer Form“, so Le Corbusier, und dennoch war ihm klar: „Der Geist, der die Natur beseelt, ist ein Geist der Ordnung.“21 Allerdings war sein Verständnis der Ordnung der Natur durch die Wissenschaft seiner Zeit beschränkt. Ihm fehlten die Konzepte und die Computertools, die jetzt durch Simulationen regelbestimmter, „materieller Computation“ die komplexe Ordnung dieser scheinbar chaotischen Muster offenbaren können. Die parametrische Sensibilität traut dem „Pfad des Packesels“ als einer Form rekursiver materieller Computation eher als der Einfachheit klarer Geometrien, die sich in einer schnellen, klaren Geste aufoktroyieren lassen.

Frei Ottos bahnbrechende Arbeit über natürliche Strukturen behandelt auch Siedlungsmuster. Sein Ausgangspunkt ist die Distinktion/Relation von Besetzen und Verknüpfen als den beiden grundlegenden Prozessen der Urbanisierung.22 Parallel zu Untersuchungen existierender Muster nutzte er physikalische Experimente, um entscheidende Merkmale von Siedlungsprozessen analog nachzustellen. Im Hinblick auf die Besetzung unterschied er zwischen distanzierender und attraktiver Besetzung. Für die distanzierende Besetzung benutzte er im Wasser schwimmende Magneten und für die attraktive Besetzung verwendete er schwimmende Styroporkügelchen. Ein komplexeres Modell integriert distanzierende und attraktive Besetzung: Die Styroporkugeln sammeln sich um die schwimmenden magnetisierten Nadeln, die wechselseitig voneinander Distanz halten.23 Das Ergebnis ist den typischen Siedlungsmustern in unseren realen Stadtlandschaften sehr ähnlich. 24

Hinsichtlich der Prozesse des Verknüpfens unterscheidet Frei Otto empirisch zwischen drei Arten von Wegenetzen mit einer jeweils typischen Figuration: dem Siedlungswegenetz, dem Revierwegenetz und dem Fernwegenetz. Sie alle beginnen als Verzweigungssysteme, die sich zu kontinuierlichen Netzwerken schließen können.

Auf der abstrakten Ebene unterscheidet Frei Otto drei grundsätzliche Arten der Konfiguration: das Direktwegenetz, das Minimalwegenetz und das (optimierte) Netz der minimierten Umwege. Wiederum entwickelte er physikalische Modelle, die sich selbst zu annähernd optimierten Lösungen organisieren können. Für die materielle Computation von Minimalwegenetzen entwickelte Frei Otto das Seifenblasenhaut-Gerät: Eine Glasplatte wird über eine Wasseroberfläche gehalten und das minimale Wegenetz bildet sich ausgehend von Nadeln.25

Zur Erfassung der interessanteren optimierten Umwegenetze wurden die berühmten Wollfadenmodelle entwickelt.26 Sie können Netzwerke zwischen vorgegebenen Punkten berechnen, die das Verhältnis zwischen der Gesamtlänge des Netzwerks und dem durchschnittlichen Umwegsfaktor optimieren. Für jede Gruppe von Punkten und für jede angenommene Überlänge gegenüber dem direkten Weg wird eine optimierende Lösung gefunden. Obwohl es die einzige, optimale Lösung nicht gibt und jede Computation unterschiedlich ausfällt, entwickeln sich in verschiedenen Bereichen des parametrischen Raumes typische Muster.

Frei Ottos physische Modelle selbstorganisierter Formfindung sind deshalb so überzeugend, weil sie eine Vielzahl von Komponenten – Materialpartikel oder Wegkanäle – in ein simultan organisiertes Kräftefeld integrieren. Jede Veränderung des parametrischen Profils von einem der Elemente – Größe und Anziehungskraft eines Partikels oder Endpunkte und Überlänge eines Wegfadens – führt bei allen anderen Elementen des Systems zu regelhaften Reaktionen. Interessanterweise treten durch diese nuancierten quantitativen Anpassungen häufig gänzlich neuartige Qualitäten hervor.

Wenn assoziative Sensibilität sich innerhalb eines Systems durchsetzt, kann man von relationalen Feldern sprechen. Solche relationalen Felder können aus korrelierten Tiefenschichten (Subsystemen) bestehen, etwa der Korrelation von Besetzungsmuster und Verbindungsmuster. Im Wachstumsprozess ungeplanter Siedlungsmuster machen Besetzungspunkte neue Wege erforderlich, während Wege wiederum neue Besetzungen fördern. Die ständige Differenzierung des Wegenetzes – lineare Strecken, Gabelungen, Kreuzungen – korreliert regelhaft mit der kontinuierlichen Differenzierung der Besetzungsstruktur in Bezug auf Dichte, programmatischen Typus und Morphologie. Die Organisations- und Artikulationsfähigkeit solcher relationaler Felder wird besonders deutlich, wenn man sie mit dem reinen Raster der modernen amerikanischen Stadt vergleicht. Dieses moderne Raster ist undifferenziert und daher auch nicht anpassungsfähig. Seine „Freiheit“, jegliche Art von städtischer Struktur und architektonischer Morphologie aufzunehmen, stellt sich jetzt als Einschränkung heraus: Sie führt zu Indifferenz und wahllosen Aneinanderreihungen und kann schnell in einem undurchdringlichen visuellen Chaos enden.

Die Moderne gründete sich auf das Konzept des universalen, leeren Raums. Der Parametrismus dagegen differenziert Felder, deren Inhalt man sich als in Bewegung befindliche Flüssigkeit vorstellen kann, die von kreisförmig ausebbenden Wellen, Randströmungen und sich emporwindenden Strudeln strukturiert wird.

Schwärme27 können ebenfalls als paradigmatische Analogie für das Feldkonzept dienen: Schwärme von Gebäuden, die durch die Landschaft treiben. Es gibt keine platonischen, klar umrissenen Figuren oder Zonen. Innerhalb des Feldes sind nur die globalen und regionalen Feldeigenschaften wichtig: Neigungen, Tendenzen, Gefälle und vielleicht auffällige Eigenheiten wie ausstrahlende Zentren. Deformation drückt nicht mehr den Zusammenbruch der Ordnung aus, sondern wird zur regelhaften Verkörperung von Information. Orientierung in einem komplexen, gesetzmäßig differenzierten Feld geschieht entlang von Vektoren der Transformation.

Parametrische Stadtplanung zielt darauf ab, neue Feldlogiken zu konstruieren, die durch die kumulative Korrelation multipler urbaner Systeme wirken: Strukturmodulation, Straßensysteme, Systeme des Außenraums et cetera. Das Programm der tiefen Relationalität impliziert, dass die Modulation der Struktur nicht allein die Massenverteilung der Struktur betrifft, sondern sich auf die tektonische Artikulation der Gebäudemasse ausweitet. Zum Beispiel könnten sowohl die Massenverteilung als auch die Befensterung sich jeweils am Einfall des Sonnenlichts orientieren, so dass sich die Wirkungen dieser optischen Orientierung gegenseitig unterstützen. Die lokale Wahrnehmung (der Fassade) kann dann Hinweise auf die relative Position innerhalb des globalen Systems geben. Ein weiteres Beispiel: Die Anordnung und Artikulation von Gebäudeeingängen kann mit dem differenzierten urbanen Navigationssystem korrelieren, wie etwa im Singapur-Masterplan. Man könnte die Korrelation sogar auf die Zirkulation im Gebäudeinneren ausweiten. Dieses Konzept der tiefen Relationalität funktioniert auch umgekehrt: die interne Organisation eines wichtigen institutionellen Gebäudes kann zu mehreren Eingängen führen, die wiederum innerhalb des städtischen Navigationssystems Anpassungen wie zusätzliche Straßen oder Gehwege auslösen. Dabei ist wichtig, dass solche Korrelationsregeln auf ausreichend große Stadtgebiete angewandt werden.

V. Kartal-Pendik-Masterplan: Die Implementierung der parametrischen Stadtplanung

Die Anwendung der planerischen Strategien des Parametrismus auf die Stadt steckt noch in den Kinderschuhen. Zaha Hadid Architects konnte jedoch bereits eine Reihe von Masterplan-Wettbewerben mit Plänen, die die Schlüsseleigenschaften des Parametrismus verkörpern, gewinnen. Zu den preisgekrönten Projekten gehören der 200 Hektar große One-North Masterplan für einen Business-Park in Singapur, der auch Wohnraum für 150.000 Menschen enthält, Soho City in Peking, ein 2,5 Millionen Quadratmeter großes Wohn- und Einkaufsviertel, der Bilbao-Masterplan mit gemischter Nutzung, der die Flussinsel mitsamt ihren beiden gegenüberliegenden Ufern umfasst, und der Kartal-Pendik-Masterplan28, ein städtisches Areal von 55 Hektar, das sämtliche programmatischen Komponenten einer Stadt einschließt.

Die Viertel Kartal und Pendik liegen auf der asiatischen Seite von Istanbul. Hier soll ein Subzentrum gebildet werden, das diesen Teil der Stadt neu ordnet und den Druck mindert, der durch den starken Bevölkerungszuwachs auf dem historischen Kern lastet. Das ehemalige Industriegebiet zieht sich von einer Autobahnausfahrt neben einem großen Steinbruch ganz bis zur Küste und wird beidseitig von kleinteiligen, niedrig bebauten Vororten – Kartal und Pendik – begrenzt.

Gemäß parametrischer Methodik diente der benachbarte Kontext – vor allem die zuführenden Verkehrswege – als wichtiger Input für das Generieren einer neuen urbanen Geometrie. Mit Hilfe von Mayas Haardynamik-Tool konnten die vielen eingehenden Wege durch parametrische Bündelung zu größeren Straßen zusammengefasst werden, so dass größere Bauflächen ermöglicht wurden und ein Wegesystem entstand, das die wesentlichen Eigenschaften von Frei Ottos Netz der minimierten Umwege besitzt. Die Nord-Süd-Ausrichtung wurde angesichts der stärker ausgeprägten Ost-West-Verbindungen durch eine Hauptarterie mit parallel verlaufenden Nebenlinien gestärkt. Es entstand ein hybrides System aus einem Netz der minimierten Umwege und einem verformten Raster mit hinsichtlich Form und Größe differenzierten Parzellen. Auf der Ebene der Strukturtypologie wurden zwei Haupttypen gewählt: Türme und Blockbauweise, verstanden als generative Komponenten oder Genotypen, die eine weite Spanne an phänotypischer Variation zulassen. Die Türme sind an den Kreuzungspunkten des Netzwerks vorgesehen und betonen somit das Wegenetzwerk. In der Blockrandbebauung korrelieren Höhe und Parzellenfläche umgekehrt, so dass die Innenhöfe sich zu engen Atrien wandeln, wenn die Bauplätze kleiner und die Blocks höher werden. Außerdem werden die Blocks durch die Linien des sekundären Wegnetzes unterteilt. Diese Unterteilung erlaubt es, den Blocktypus durch entsprechende Höhendifferenzierung örtlich dem Kreuzturm-Typus anzunähern. An bestimmten Kreuzungspunkten entstehen Pseudo-Türme durch das Hochziehen der vier dort zusammentreffenden Blockecken. Obwohl wir von zwei unterschiedlichen städtebaulichen Typologien ausgegangen sind, wird Kontinuität im Gesamtbild erzielt. In der globalen Höhenregulation korrelieren regionale Höhenmassungen innerhalb des urbanen Felds mit dem lokal verfügbaren Raum, der jeweiligen Breitenausdehnung des Feldes an dieser Stelle. Der Rhythmus lokaler Erhöhungen bildet den Rhythmus des Ausweitens und Verengens der städtischen Ausdehnung ab.

Diese Vision einer eleganten, leichte Orientierung bietenden Stadtlandschaft ließe sich möglicherweise mittels strenger Planungsvorschriften, die Gebäudelinien und -höhen regulieren, durchsetzen – dies setzt jedoch eine starke politische Unterstützung und private Investitionen voraus. Dafür würde die Monotonie der älteren Siedlungsplanung und das verwirrende visuelle Chaos, das fast allen unregulierten Stadtexpansionen der Gegenwart eigen ist, durch geordnete Komplexität ersetzt. Um das Konzept der tiefen Relationalität noch tiefgreifender umzusetzen, muss die Beteiligung von ZHA sich neben der Stadtplanung auch auf die Architektur erstrecken. Nur so kann die erwünschte Artikulation der akzentuierenden Korrelation durch die Einbeziehung der systematischen Modulation der Tektonik unterstrichen werden. In den „kalligraphischen Blocks“ – einer dritten Variante der Blockbebauung, die den Innenraum der Parzellen öffnet und zugänglich macht – geht die ursprünglich festgelegte typische Artikulation der Außenfassade mit dem Betreten des Innenhofs kontinuierlich in die typische Gestaltung der Innenfassaden über. Weitere Aspekte der tiefen Artikulation sind die Koordination von Landschaftsgestaltung und öffentlichen Platzanlagen und die Korrelation des sekundären Wegesystems mit dem internen Verteilungssystem der Kreuztürme.

Die Vorstellung, dass ein einziges Team ein städtisches Areal von sechs Millionen Quadratmeter Fläche entwirft, mag Skepsis hervorrufen. Je häufiger wir jedoch vor die Aufgabe der Entwicklung solcher groß angelegten Entwürfe gestellt werden, desto stärker wird die Zuversicht, dass die Tools und Strategien des Parametrismus gegenüber der Alternative der willkürlichen Aneinanderreihungen bar jeder Ästhetik – mag diese auch die Pragmatik des Alltags widerspiegeln – einen entscheidenden Mehrwert bietet. Das zeitgenössische Übermaß an Typologien, Konstruktionsmöglichkeiten und Stilen lässt die zugrundeliegende pragmatische Logik zur unverständlichen Kakophonie werden. Parametrismus kann die Koordination pragmatischer Anliegen fördern und jene mitsamt ihrer reichen Differenzierungen und relevanten Assoziationen artikulieren. Die Fülle des Lebens ist hierbei kaum in Gefahr, denn Vielseitigkeit und Anpassungsfähigkeit sind dem Erbgut des Parametrismus eingeschrieben.“

1 Architectural Association Design Research Laboratory

2 Zaha Hadid Architects und AADRL bilden nur einen Knotenpunkt innerhalb eines schnell wachsenden Netzwerks. Zu allgemeinen Tendenzen und für eine Kartierung der akademischen Landschaft vgl. Stefan Gruber, „Von der Formfindung zur performativen Struktur“, in: ARCH+ 189 (2008) Entwurfsmuster, S. 116ff.

3 Die Faszination von Architekten für natürliche Prozesse ist so alt wie die Architektur selbst. Erkenntnisse aus der Genforschung suggerieren nun jedoch, dass sich Architekten nicht mehr mit konzeptionellen und formalen Metaphern aus der Biologie abzufinden brauchen, sondern biologische Entstehungsprozesse in abstrahierter Form durch das Programmieren von algorithmischen Codes selbst nachbilden können. Vgl. Gruber 2008 (wie Anm. 2), S. 117.

4 Dieser Schlüsselbegriff wurde von Greg Lynn und Jeff Kipnis geprägt.

5 Die Präzision von Algorithmen erzeugt Muster, die in uns eine Resonanz auslösen und die wir mit Schönheit verbinden.“ Cecil Balmond, in: Gruber 2008 (wie Anm. 2), S. 118.

6 Für ein entsprechendes Konzept von Eleganz, das mit der visuellen Auflösung von Komplexität verwandt ist, siehe: Patrik Schumacher, Arguing for Elegance, in: H. Castle u.a. (Hg.), Elegance, Architectural Design 1 (2007). “The elegance being promoted here […] thrives on complexity, and achieves a visual reduction of an underlying complexity that is thereby sublated rather than eliminated.” (S. 30)

7 Fließende Formen lassen sich auf die „Blob“-Architektur zurückführen, die Greg Lynn begrifflich in die Architekturterminologie eingeführt hat. Er sprach unter Berufung auf Husserl von „anexakten“ Geometrien der erzeugten Objekte. Damit wurde im Gegensatz zu exakten, also mathematisch eindeutig definierten und jederzeit wiederholbaren sowie inexakten Formen eine figürliche, jedoch nur im Kontext sinnvoll definierte Form beschrieben. Mit Hilfe der aktuellen algorithmisch definierten Entwurfsprozesse kann Fluidität bewusst konstruiert und beeinflusst werden. Vgl. Tobias Wallisser, Vom Blob zur algorithmisch generierten Form, in: ARCH+ 189 (2008), S. 121.

8 Diese Interpretation von Stilen trifft allein für die Avantgarde-Phase eines Stils zu.

9 Das hier verwendete Konzept der Forschungsprogramme als metawissenschaftliche Konzeption und Begriff der Wissenschaftsphilosophie ist von institutionalisierten Forschungsprogrammen zu unterscheiden. Es bezeichnet grundlegend neue Forschungstraditionen, die von einem neuen theoretischen Rahmenwerk ausgehen. Vgl. Imre Lakatos, The Methodology of Scientific Research Programmes, Cambridge 1978.

10 Heuristik: Erfindungskunst; griech. heuriskein: finden, auffinden. Heuristische Verfahren ziehen nicht direkte, formalisierbare Schlüsse, sondern sind Hilfsmittel, die zur Lösung von Frage- und Problemstellungen führen, für die es keine eindeutige Verfahren gibt oder deren Beantwortung unvertretbar aufwendig erscheinen. Sie dienen nur dem Auffinden, nicht dem Beweisen oder Begründen neuer Erkenntnisse, und arbeiten u.a. mit Analogien, Assoziationen, Vermutungen, Wahrscheinlichkeiten und Generalisierungen. Vgl. Metzler Philosophie Lexikon, Stuttgart 1999.

11 Die „Computation“ bezeichnet im Gegensatz zur „Computerisation“ als computerbasierter Datenverarbeitung einen Prozess der Kalkulation, also der Bestimmung durch mathematische oder logische Methoden. Vgl. Wallisser 2008 (wie Anm. 7), S. 121.

12 Die aktuelle Softwareentwicklung erlaubt es, assoziative Geometriemodelle zu erstellen. Dabei werden Objekte als parametrische Geometrien definiert, die direkt vom Prozess ihres Entstehens abhängig sind. So wird nicht nur die Form bestimmt, sondern darüber hinaus auch mögliche Reaktionen auf Kräfte und Veränderungen. Ebd., S. 122.

13 Im Parametrismus tritt an die Stelle der Relation vom Teil zum Ganzen die Beziehung der Komponente zum System oder die Beziehung von Systemen zueinander und zu ihren Subsystemen. Dabei werden offene Systeme bevorzugt. Wenn sich die Dichte der Assoziationen steigert, können Komponenten sich zu multiplen Subsystemen verbinden. Die Korrelation ursprünglich unabhängiger Systeme impliziert die Formierung eines neuen umfassenden Systems. Vgl. ARCH+ 188 (2008) Form Follows Performance.

14 Die Parametrische Reaktionsfähigkeit stand im Zentrum eines dreijährigen Forschungsprogramms „Responsive Environments“ am AADRL in London von 2001-2004.

15 „Parametric Urbanism“ war der Titel eines Entwurfsforschungszyklus’ am AADRL (2005–2008).

16 Le Corbusier, Städtebau, übersetzt und herausgegeben von Hans Hildebrandt, Stuttgart/Berlin/Leipzig 1929 (frz.: Urbanisme, Paris 1925), S. 5.

17 Ebd., S. 10.

18 Ebd., S. 15.

19 Die Komplexitätstheorie als Teilgebiet der Theoretischen Informatik befasst sich mit der Komplexität von algorithmisch behandelbaren Problemen.

20 Frei Otto könnte man als den einzigen wahren Vorläufer des Parametrismus bezeichnen.

21 Le Corbusier 1929 (wie Anm. 16), S.17

22 Frei Otto, Occupying and Connecting – Thoughts on Territories and Spheres of Influence with Particular Reference to Human Settlement, Edition Axel Menges, Stuttgart/London 2009.

23 Ebd., S. 45.

24 Innerhalb des AADRL-Forschungsprogramms „Parametric Urbanism“ wurde ebenso immer mit materiellen Analogen begonnen, die dann in digital simulierte Selbstorganisation transponiert wurden.

25 Otto 2009 (wie Anm. 22), S. 64

26 SFB 230, Natural Structures – Principles, Strategies, and Models in Architecture and Nature, Proceedings of the II. International Symposium of the Sonderforschungsbereich 230, Stuttgart 1991, S. 139.

27 Vgl. Oliver Fritz, Programmiertes Entwerfen, in: ARCH+ 189 (2008), S. 60.

28 Zaha Hadid Architects, Entwurfsteam: Zaha Hadid, Patrik Schumacher, Saffet Bekiroglu, Daewa Kang, Daniel Widrig, Bozana Komljenovic, Sevil Yazici, Vigneswaran Ramaraju, Brian Dale, Jordan Darnell, Elif Erdine, Melike Altinisik, Ceyhun Baskin, Inanc Eray, Fluvio Wirz, Gonzalo Carbajo, Susanne Lettau, Amit Gupta, Marie-Perrine Placais, Jimena Araiza.


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