Bei der Begrünung der Ränder der Reichsautobahnen waren auch etliche Ökologen am Werk. Sie kamen überein, nur einheimische Pflanzen zu verwenden. Der schleswig-holsteinische Botaniker Reinhold Tüxen wollte gleich die ganze „deutsche Landschaft von unpassenden Fremdkörpern befreien,“ wie Stephen Jay Gould in seinem Aufsatz über den „Begriff ‚einheimische Pflanzen‘ aus Sicht der Evolution“ schreibt. Heute heißt die „Fachgesellschaft für Vegetationskunde“ nach Tüxen – dem „Vater der deutschen Pflanzensoziologie“. Zusammen mit einer Gruppe von Botanikern forderte er 1942 insbesondere Programme zur Ausrottung des angeblichen Eindringlings „Impatiens parviflora“ und zog dabei ausdrücklich den Vergleich: „Wie beim Kampf gegen den Bolschewismus die gesamte abendländische Kultur auf dem Spiel steht, so steht mit dem Kampf gegen diesen mongolischen Eindringling ein wesentliches Element dieser Kultur, nämlich die Schönheit unserer heimatlichen Wälder, auf dem Spiel.“
Dieser mongolische Killer-Baum Impatiens parviflora erwies sich jedoch schon beim ersten Googeln als das harmlose Sibirische Springkraut, auch Kleines Springkraut genannt. Ihr lateinischer Name heißt übersetzt so viel wie „Ungeduldige Kleinblüterin“. Von Wikipedia-Deutschland wird sie immer noch als „Neubürger“ (Neophyt) bezeichnet, obwohl sie doch mindestens schon seit der Machtergreifung der Nazis bei uns heimisch ist. Beim Bundesamt für Naturschutz spricht man ebenfalls von einer „invasiven gebietsfremden Pflanze“ , ein Schweizer Pflanzen-Portal von einer „Problempflanze“ und der belgische Natur- und Vogelschutzverband rät, sie im Garten „durch thermische Behandlung unschädlich zu machen“.
Es geht dem Kleinen Springkraut wie den Flüchtlingen aus dem Osten ab 1945, Übersiedler in der DDR genannt, die im Westen bis heute als unwillkomene „Fremde“ wahrgenommen werden, und eigentlich ja auch selbst lieber heute als morgen wieder in die „verlorene Heimat“ zurückkehren würden, wenn man dem Bund der Heimatvertriebenen glauben darf. Noch etwas hat das Kleine Springkraut mit den Ostflüchtlingen gemeinsam: Es siedelt gerne auf Schutthalden und Trümmerhaufen – und man „findet es zerstreut,“ schreibt die Stadt Langenbach auf ihrer Webpage. Sie zählt dabei den Neophyten jedoch – anders als Wikipedia – großzügig zu den „Einheimischen Pflanzen“, an anderer Stelle spricht sie von einer „eingebürgerten Art“, die es mittlerweile „in ganz Deutschland“ gibt. Ihre „Ausbreitung“ erfolgte und erfolgt epizoochor (durch Anheftung der Samen an Menschen und Tieren), hydrochor (durch das Wasser) oder hemerochor (in Kulturfolge des Menschen, im Falle des Springkrauts meist durch verunreinigtes Wildfutter), hauptsächlich aber autochor (durch die Mutterpflanze – mit einem Schleudermechanismus, daher ihr Name: Springkraut, die Schleuderweite beträgt bis zu 3 Meter 50, insgesamt produziert eine Pflanze zwischen 1.000 und 2.000 Samen, in seltenen Fällen bis zu 10.000). Das Kleine Springkraut ist ein Vertreter der Therophyten, also der einjährigen Pflanzen: Es übersteht den Winter nur als Samen, die Mutterpflanze stirbt ab.
Charles Darwin erforschte einmal, wie widerstandsfähig ihre oder ähnliche Samen sind, wobei er auf ein Experiment zurückgriff, das sein achtjähriger Sohn ihm vorschlug: Er legte einen toten Vogel ins Wasser. Später notierte Darwin: „Eine Taube mit Samen im Kropf schwamm 30 Tage in Salzwasser, anschließend keimten die Samen noch ausgezeichnet.“ Im „Langenbach-Info“ heißt es weiter – über das Kleine Springkraut: „Verwendung fand es wohl auch als Heilpflanze gegen Warzen und Vergiftungen, und auch gegen Würmer. Weiterhin soll man einen gelben Farbstoff aus der Pflanze gewinnen können, ebenso ein Haarwasser und ein pilzabtötendes Mittel. Und natürlich findet man es mancherorts auch noch als Zierpflanze in Gärten.“ Der „Blütentherapeut“ Dr. Bach empfiehlt ungeduldigen und leicht gereizten Menschen, die Einnahme eines Springkraut-Konzentrats. Es gilt ihm sogar als „Notfalltropfen“. Und für den Ethnobotaniker Wolf-Dieter Storl ist das Springkraut eine „Merkurpflanze von großer Vitalität“.
Die Pflanze ist mithin nicht weniger vielseitig verwendbar als die Ost-Flüchtlinge, die wesentlich zum „Wirtschaftswunder“ beitrugen. Dabei waren sie oftmals „konkurrenzstärker“ als die Einheimischen. Dies sagt man auch dem Kleinen Springkraut nach, denn es verdrängt das quasi hierher gehörende Große Springkraut (Impátiens nóli-tángere, zu Deutsch: Empfindliches Rührmichnichtan!), obwohl dieses seine Samen noch weiter wegschnellt, am weitesten schafft es seine südeuropäische Abart Spritzgurke: „mit mehr als 12 Meter Schußweite,“ wie das „Natur-Lexikon“ gemessen hat.
Krisengeflüster
„Karl Marx ist der Dichter unserer Krise,“ dichtete Alexander Kluge. Und Deutschland ist eine Prokrasti-Nation, d.h. eine immer wieder verzögerte und zögernde. Aber in bezug auf die Ausländerfeindlichkeit in Krisenzeiten könnte diese Nation bald, wie schon einmal, vorneweg marschieren. Auch wenn heute eher die Arbeitgeber als die Arbeitnehmer „vaterlandslose Gesellen“ sind.
Nicht nur gewannen in den frühen Achtzigerjahren bereits die Neonazis in der BRD an Boden und danach auch in der DDR – kaum dass die letzten Altnazis gestorben waren („Opa war in Ordnung!“ wie die vorpommerschen Skins tönten), bereits bei der Bebauung des Potsdamer Platzes kam es 1999 zu den ersten Bauarbeiter-Demonstrationen gegen die osteuropäischen Kontingent-Arbeitskräfte: Flaschen und Steine flogen an ihre Container. Schon vorher gab es immer wieder Gewerkschaftsfunktionäre, die sich ausgesprochen „völkisch“ positionierten, weil sie meinten, damit ganz vorne zu liegen.
Nun passiert Ähnliches und Schlimmeres in Großbritannien, Südafrika und Israel. Dazu gehört auch der deutsche Versuch aus den Zwanzigerjahren, eine Volksfront von Rechts bis Links gegen das artfremde Kapital zu schaffen. Gegenüber Wieland Herzfeld spottete Oskar Maria Graf damals: „Na, was sagts du nun? Ich wundre mich nicht, wenn die Kommunisten jetzt ‚Deutschland, Deutschland über alles‘ auf ihren Versammlungen singen, statt der ‚Internationale’…“ Herzfeld entgegnete ihm: „Ach, das ist doch die beste Taktik. Damit fangen wir den Völkischen die besten Leute weg“. Leo Trotzki pfiff damals jedoch die Kommunisten zurück.
Bei der Vorstellung seiner neuerlichen Volksfront-Initiative wähnte Jürgen Elsässer sich kürzlich quasi schon mit Gauweiler, Peter Scholl-Latour und Lafontaine einig. Letzterer hatte zuvor in Chemnitz von „Fremdarbeitern“, gesprochen, die „den Deutschen zu niedrigen Löhnen Arbeitsplätze wegnehmen“ würden. Die FAS unkte nun: „Das wegen der Finanzkrise überall wachsende Elend wird nicht stumm bleiben. Abgesehen von Streiks, Demonstrationen, Unruhen und Plünderungen können wir rassistische Ausschreitungen gegen Migranten und Minderheiten, politische Instabilität, höhere Kriminalität und generell eine um sich greifende Gewaltbereitschaft und Radikalisierung erwarten“. Anders als in Griechenland, Italien, Island oder Frankreich droht hier also kein „heißer“, sondern eher ein „eiskalter Herbst“.
Die Kulturschaffenden versuchen gegenzusteuern: Journalisten interviewen eine Gruppe von Weißrussen, die auf Island arbeiteten, sowie zwei Polen, die einen Job in England hatten und eine von „Manpower“ nach Taiwan geschickte Fabrikarbeiterin: Sie alle hat man wegen der Rezession nach Hause geschickt, wo es keine Arbeit gibt. Ein Fernsehteam, geleitet vom Netzwerk „Clean Clothes Campaign“, filmt Näherinnen in Asien, die für Aldi und Lidl Kleidung nähen – 90 Stunden in der Woche zu einem Hungerlohn. Umgekehrt geben einige Näherinnen von dort Pressekonferenzen in Deutschland. Berliner Linke demonstrieren vor „Kaiser’s“, weil die Supermarktkette der Kassierin Emily nach 30 Jahren „auf Verdacht“ kündigte – sie soll angeblich Pfandbons im Wert von 1 Euro 30 nicht abgerechnet haben. Die Aufzeichnungen der Supermarktkassierin Anna Sam werden in Frankreich zu einem Bestseller. In Deutschland dreht das Staatsfernsehen einen Tatortkrimi im Supermarkt-Milieu. Die „Berlinale“ fängt wieder an, sich zu „politisieren“ – mit Filmen über hungernde Familien in Brasilien, über Antiglobalisierungsdiskurse, unterschiedliche Kooperationsformen von Bauarbeitern (von Harun Farocki: „Zum Vergleich“), über das Waschen von deutscher Schmutzwäsche in Polen usw. Außerdem machten die Beschäftigten des Filmfestivals und des Kinos „Babylon“ auf ihre „schlechten Arbeitsbedingungen“ aufmerksam, letztere demonstrierten sogar vor ihrem Kino.
Das Berlinale-Jurymitglied Henning Mankell sagte, die globale Rezession treffe vor allem die Ärmsten der Armen. Und das Jurymitglied Christoph Schlingensief meinte, die weltweite Krise, von ein paar Leuten verursacht, zeige, „man darf sich nicht dirigieren lassen, sondern muß – auch und gerade beim filmischen Arbeiten – selber gestalten“. Ein engagiertes Onlinemedium fügte dem hinzu: „Aber Zuschauen allein genügt nicht.“