vonEva C. Schweitzer 30.08.2011

taz Blogs

110 Autor*innen | 60 Blogs
Willkommen auf der Blogplattform der taz

Mehr über diesen Blog

Die Berliner Piraten stehen kurz vor dem Durchbruch durch die 5-Prozent-Hürde, da möchte man doch mal nachgucken, was die Jungs eigentlich so wollen. Frauen scheinen die ja nicht zu haben, aber eine Website. Und was für eine! Auf den ersten Blick sieht sie aus, als sei sie mit Atari programmiert worden. Naja, das ist wahrscheinlich dieser Retroschick, über den man immer so viel liest.

Auf der Seite mit dem Berliner Programm guckt mir ein junger Mann entgegen, ist das ein Pirat? Ein Wähler? Ein bezahltes Model? Gleichviel, wir lernen hier, was die Piraten wollen, nämlich: Mehr Demokratie wagen. Wahnsinn! Warum kommt mir das so bekannt vor? Richtig, von meiner Oma, die hat Willy Brandt gewählt.

Und wie wagen wir mehr Demokratie? Dazu mehr bei den Piraten: “Die Möglichkeiten für den Bürger, auf die Gestaltung der Politik Einfluss zu nehmen, sind in Berlin weiterhin viel zu gering. Das betrifft sowohl den Einfluss auf die personelle Zusammensetzung der Vertretungs-körperschaften als auch die bestehenden gesetzlichen Einschränkungen …”

Pünktchen, Pünktchen, Pünkchen? Wo gehts denn da weiter? Ich könnte jetzt was downloaden, aber Leute, die keine benutzerfreundliche Website designen können, haben wahrscheinlich auch Viren. Statt dessen klicke auf diverse Pfeile, nichts. Nach einiger Zeit (mehr Zeit, offengestanden, als ich verbringen wollte, ich gehöre der Generation Instant Gratification an), merke ich, dass mein Lautsprecher ausgeschaltet ist. Ich schalte ihn ein, nun liest mir eine Männerstimme das gleiche nochmal vor. Gaaaanz langsam.

Nachdem ich mir keine Soziologievorlesung von einer Computerstimme anhören wollte, gucke ich weiter. Thema Asyl: “Berlin ist eine Stadt, die von der Vielfalt der verschiedenen Kulturen, Weltanschauungen, Religionen und Lebensmodelle lebt.” Mach Sachen. Nicht zu vergessen der Funkturm und die Weltzeituhr am Alexanderplatz. Und? Nun was? Und hier ist der Anreißer zur Drogenpolitik: “Konsumentenjagd beenden, konsequente Vorsorgepolitik starten Die sozialen und kulturellen Besonderheiten der Großstadt Berlin ermöglichen es, gesellschaftliche Probleme quasi unter der Lupe zu betrachten.”

Was heißt das? Kostenlose Abgabe von Champagner? Und wie groß muss eine Stadt sein, damit sie unter der Lupe betrachtet werden kann, ist das bei einer Kleinstadt nicht einfacher? Oder bei einem Modelldorf?

Oder, Engagement: “Bürgerschaftliches Engagement zeichnet sich durch Freiwilligkeit aus. Als Anreiz dient der Idealismus des Einzelnen und die Fähigkeit andere für eine Mitarbeit zu begeistern. Jedes System, welches bürgerschaftliches Engagement untereinander vergleicht, widerspricht dem Prinzip, dass jeder Anerkennung verdient, der etwas Sinnvolles …”

Ich bin jetzt seit zehn Minuten auf der Website und habe nicht die leisteste Ahnung, was diese Piraten wollen. Berliner zwangsverpflichten, zwei Semester Soziologie zu belegen?  Immerhin, kein Flash. Oder, vielleicht finde ich es bloß nicht, weil man dazu Linux braucht. Oder es ist in der falschen Stelle beim Quellcode eingebaut. Ruft mich an, Jungs, ich kann euch zumindest erklären, wie ihr das Kotzgrün da rauskriegt. Das Leben besteht aus ersten Schritten.

Eva C. Schweitzer, Manhattan  Moments. Geschichten aus New York, erschienen bei Droemer-Knaur, Juni 2009, Taschenbuch, 9,95 €

Anzeige

Wenn dir der Artikel gefallen hat, dann teile ihn über Facebook oder Twitter. Falls du was zu sagen hast, freuen wir uns über Kommentare

https://blogs.taz.de/piraten_das_unendliche_gelaber/

aktuell auf taz.de

kommentare