„Früher standen sich die Menschen näher. Die Schußwaffen trugen nicht weit.“ (St.J.Lec)
„Das Wort hat die Genossin Beretta!“ steht noch immer an der Fassade des einstmals von Rockern besetzten Hauses in der Kreuzberger Waldemarstraße. Die Süddeutsche Zeitung hat diese Pistole heute ganz groß mit Photo ins Blatt gehievt – weil ein Schüler der Realschule von Winnenden im März 2009 mit einer „Beretta 92 FS“ erst fünfzehn Schüler, Lehrer und Autoverkäufer und dann sich selbst erschoß. Der SZ-Autor Philipp Mattheis scheint wie die Kreuzberger Rockergang und der Vater des Schützen, dem die Waffe gehörte, ein Beretta-Fan, wenn nicht ein „Waffennarr“, zu sein – er schreibt:
„Die Beretta 92 FS ist 21 Zentimeter lang, besteht zum größten Teil aus Stahl und wiegt im ungeladenen Zustand 945 Gramm, im geladenen sind es 1100 Gramm. Die Inox-Variante glänzt silbern. 15 Schuss passen in ihr Magazin, dann muss nachgeladen werden. Tim Kretschmer tat dies genau sieben Mal. Die Kugeln verlassen den Lauf mit einer Geschwindigkeit von 365 Metern pro Sekunde und treffen ihr Ziel auf eine Entfernung von 50 Metern. Dies gelingt allerdings nur geübten Schützen.
Berührt man die Beretta zum ersten Mal, kühlt der Stahl angenehm die eigene Hand. Nach einigen Minuten nimmt er die Körperwärme an. Die geriffelten Griffschalen verleihen auch einer schwitzenden Hand Halt. Ein wenig wundert man sich, wie schwer die Waffe ist – so schwer wie ein Liter Milch im Glas. Die letzte Pistole, die man in der Hand hielt, war aus Plastik und dementsprechend leicht. Man spielte damit einen Cowboy, der auf Indianer schoss, manchmal auch einen Piraten oder einen Soldaten.
Die Beretta 92 FS wird geladen mit ‚9mm Parabellum‘-Patronen, eine von dem Österreicher Georg Luger Anfang des 20. Jahrhunderts entwickelte und weltweit am weitesten verbreitete Munition. Diese Geschosse gelten als Großkaliber, die sogar mehrere Zentimeter dicke Wände durchschlagen können.
Die Beretta 92 ist eine vergleichsweise leichte Waffe: Der Rückstoß ist deswegen stark und reißt die Hände eines ungeübten Schützens samt der Pistole gute zehn Zentimeter in die Höhe. Von einer geladenen Waffe geht eine Faszination aus. Sie abzufeuern, ist ein Erlebnis; wer es zum ersten Mal tut, wird es nicht vergessen. Im Kopf explodiert ein Gefühlscocktail aus Angst und Macht.“
Der Schüler rächte sich für alle Demütigungen, die er an dieser Scheißschule jahrelang einstecken mußte (eine Realschule ist an sich schon eine Demütigung – und auch nur deswegen erfunden). So wie es in Amerika schon fast zum guten Ton gehört, dass man irgendwann, wenn man von seinem Chef, Abteilungsleiter, Professor, Lehrer, Vater oder seinen Mitschülern mal wieder besonders übel zusammengestaucht oder gar ausgeschlossen/entlassen/relegiert wurde, durchdreht – sich bewaffnet und so viele wie möglich von dieser Schweinebande erschießt. Und da wir ja jeden Dreck aus den USA übernehmen/kopieren, wäre es seltsam, wenn ausgerechnet das Lehrer-Schüler-Erschießen hier nicht in Mode gekommen wäre – seit der Wende und dem anschließenden Durchmarsch des Neoliberalismus. Verwundern darf eher, dass von all jenen, die im „Kampf gegen“ ihren Krebs oder „gegen“ sonst irgendeine schwere Krankheit nicht als „Sieger“ hervorgingen, kaum einer sich bisher mit einem großen Knall – als Selbstmordattentäter – von dieser Welt verabschiedet hat. Aber das wird wahrscheinlich noch kommen. (1)
Darum geht es hier jedoch gar nicht. Sondern um die unter Soziologen, Biologen, Kulturwissenschaftlern und Bürgerinitiativlern derzeit immer interessanter werdende Akteur-Netzwerk-Theorie, dessen meistgebuchtester Sprecher Bruno Latour im Zusammenhang von Schütze und Pistole bzw. Soldat und Gewehr nicht über die frühkindlichen Beschädigungen bzw. spätkindlichen Demütigungen bzw. einsatzverursachenden Traumata der Täter psychologisiert, und auch nicht wie der SZ-Autor eine Waffen-Biographie zusammenrecherchiert, sondern folgenden Gedanken entwickelt hat: Weder der Amokschütze oder der Soldat noch ihre Pistolen bzw. Gewehre sind in der Realschule von Winnenden bzw. am Hindukusch “Objekte” (sagen wir: der Schulbürokratie bzw. der verrohten Lehrer und Mitschüler oder der US-”Operation ‘Enduring Freedom’”), folglich auch keine „Subjekte“, sondern der “Akteur Schüler bzw. Bürger in Uniform” und der “Akteur Pistole bzw. Gewehr” agieren gemeinsam – wenn es gilt, jemanden oder möglichst viele zu töten. Latour spricht von einem (einzigen) handelnden “Aktant”. Täter und Tatwaffe sind eins – das eine funktioniert nicht ohne das andere.
Die Bundeswehr vermeldet auf ihrer Webseite stolz: “Durch die Ausstattung der afghanischen Sicherungskräfte mit Gewehren G3 ist es gelungen, eine weitere Handlungsoption zu etablieren.”
Eine ganz andere „Handlungsoption etablierte“ dagegen die Hauptfigur Cambara in dem somalischen Bürgerkriegsroman „Netze“ von Nuruudin Farah: Sie ist aus Toronto nach Mogadischu zurückgekehrt und bei einem Verwandten untergekommen, der zu seinem Schutz eine Miliz beschäftigt, eine Gruppe verstörter Jugendlicher, die mit „AK 47-Gewehren“ (Kalaschnikows) bewaffnet ist. Sein Haus ist völlig heruntergekommen, Cambara versucht die Kindermiliz zum Saubermachen einzuspannen. Sie reagieren darauf, indem sie alle erst mal zu ihren Knarren greifen „- denn sie wirken nackt, wie sie da ohne Gewehr und mit nutzlos herabhängenden Händen herumstehen…“ Die junge Frau läßt sich jedoch nicht entmutigen: „Sie scheucht die Jugendlichen an die Arbeit, sie ab und zu leise verfluchend.“- Diese gehorchen schließlich und greifen sich irgendwelche Putzmittel. In dem Moment zeigt sich, das Schütze („Täter“) und Pistole/Gewehr („Tatwaffe“) eine Einheit, einen „Aktanten“ im Sinne Latours, gebildet hatten:
„Du meine Güte, wie unbeholfen sie jetzt ohne ihre Waffen wirken, die im Lauf der Jahre mit ihnen verwachsen zu sein scheinen; sie wirken richtig unglücklich. Ihre Bewegungen sind unkoordiniert und so ungeschickt wie bei Linkshändern, die mit der rechten Hand etwas aufzuheben versuchen.
Die Gewehre sehen ihrerseits verlassen aus, bloße Metallteile, die mit Holzteilen verbunden wurden, nicht bedrohlicher als Kinderspielzeug.“
Auch über solche „verlassenen“ Gewehre bzw. Pistolen hat der SZ-Autor etwas herausgefunden. Und zwar bei Peer Müller – dem Leiter des baden-württembergischen „Kampfmittelbeseitigungsdienstes“. Diese ist in einem schwäbischen Wald in „bunkerähnlichen Gebäuden“ untergebracht. Als der SZ-Autor dort ankommt, sieht er zunächst nur eine Gruppe Rehe: Sie „grast neben einem Grillplatz, auf dem Stühle stehen, die aus den Überresten von Fliegerbomben gebaut sind. Manchmal zeichnet sich ein sarkastisches Lächeln an Müllers Mundwinkeln ab. Zum Beispiel, wenn er die Türen der Halle öffnet, in der sein Lehrmaterial lagert. ‚Der Mensch ist sehr kreativ, wenn es darum geht, sich gegenseitig umzubringen‘, sagt er, grinst und schaltet das Licht an. Seine Arbeit besteht darin, Waffen zu entschärfen und sie anschließend zu vernichten.
Seit vergangenem Juli gilt für Besitzer nicht registrierter Waffen bundesweit eine Amnestie – sie können ihre Waffen noch bis Ende dieses Jahres straffrei abgeben. 200 Schusswaffen werden zurzeit allein in Baden-Württemberg abgegeben – täglich. Sie alle landen hier im Wald beim Kampfmittelbeseitigungsdienst, einer Sondereinheit der Polizei, um vernichtet zu werden. Nur selten ist eine brauchbare Waffe dabei, meistens sind es alte, vergessene Erbstücke aus dem Zweiten Weltkrieg.
Peer Müller und sein bärtiger Kollege entladen die Lieferung des Tages. Mit dem Lauf nach oben stecken sie die Waffen in eine stählerne Tonne, deren Boden offen ist. Dann entzünden die Beamten die Holzscheite am Boden der Tonne. Binnen Sekunden füllt sich der Schuppen mit schwarzem, beißendem Rauch. Das Feuer wird über Nacht brennen. Danach sind alle Holz und Plastikteile verglüht. Das restliche Metall wird zu einem Stahlwerk gebracht und dort recycelt. Auch die Waffe, mit der Tim Kretschmer 16 Menschen einschließlich sich selbst erschoss, wird irgendwann im Laufe des nächsten Jahres hier landen.“
Auch die Menschen, die damit auf Menschen geschossen haben, erfahren, wenn man ihrer heile, lebend, habacht wird, eine solche „Rüstungskonversion“ – unter fachmännischer Leitung (es muß immer qualifiziert betreut werden!). Unter dieser „Konversion“ wird zumeist eine Umwandlung von Kriegs- in Friedensproduktion verstanden – versinnbildlicht in der Pazifisten-Parole „Schwerter zu Pflugscharen“. Mit letzteren töten man zwar auch und erst recht – millionenfach: aber bloß Tiere und Pflanzen, niedere Tiere und Schädlinge sowie Unkraut. Auch der Bauer und sein Traktor, an dem z.B. ein achtschariger Volldrehpflug hängt, ergeben, einmal in Fahrt gekommen, einen „Aktanten“.
Der „social-media-blog.de“ erklärt dazu:
„Bruno Latour versteht im Zusammenhang mit der Akteur-Netzwerk-Theorie auch Gegenstände als handelnde Akteure. Diese bilden gemeinsam mit menschlichen Akteuren im netzwerkartigen Handlungszusammenhängen sogenannte Aktanten. Ein einfaches Beispiel ist der Aktant Mensch – Pistole, der aus dem gemeinsamen agieren von Akteur Mensch und Akteur Pistole entsteht und nicht nur auf einer der beiden Akteure reduziert werden kann. Latour schreibt beiden, egal ob menschlichen oder nicht menschlichen Akteuren eine gleich bedeutende Rolle zu, denn ein Handlungsverlauf besteht nur selten aus Mensch-zu-Mensch oder aus Objekt-zu-Objekt-Verbindungen, sondern meistens finden wir die Handlungsstränge nur verwischt. Auch eine Gesellschaft ist für den Wissenssoziologen mehr als bloß eine Gesamtheit von menschlichen Wesen, eine Gesellschaft ist für ihn eine Vielzahl von Verbindungen zwischen menschlichen und nicht–menschlichen Wesen und diese vielfältigen Verbindungen will Latour weiter untersuchen.“
Im Intelligenzblatt „Freitag“ meint Benjamin Mattausch,
dass die „Verbindungen“ zwischen Mensch und Waffe „persönlich durch Ego-Shooter-Games, vor allem aber auch durch den gesellschaftlichen Diskurs zu Sicherheit, Gewalt und Krieg internalisiert und übernommen werden. Warum sind häufig in Filmen, Helden auch Schützen, ob Cowboy, Gangster, Terrorist oder Soldat? Im Counter Strike bin ich der Held. Mit der Wii-Konsole hab ich die Waffe sogar selbst in der Hand, werde vom virtuellen zum lebensnahen Schützen“.
Um diese breitgetretene Dumpf-These wiederaufzuwärmen – mit den neuesten Theorieversatzstücken – holt der Freitag-Autor kurz weit aus:
„Dem Soziologen Georg Simmel nach findet Gesellschaft durch die Interaktion, durch die Vergesellschaftung, zweier Menschen statt. In einer hochtechnisierten Gesellschaft treten neben den ‚menschlichen‘ Akteuren jedoch zunehmend ’nicht-menschliche‘ Akteure, technische Artefakte, auf. Dies wird besonders deutlich, wenn der Computer ausfällt, somit die Arbeitsplattform weg bricht und ganze Kommunikationsnetzwerke zusammenstürzen.
Mensch und Waffe: Hier wirken zwei Akteure, zwei eigenständige Entitäten, zusammen: der ‚Mensch‘ und die ‚Waffe‘ (noch reines Werkzeug). Der Mensch kann ohne Artefakt, ohne Waffe, nur mit seinen Händen nur schwerlich töten. Die Waffe besitzt nur die Bedeutung, die sie durch den Akteur erhält.
Dem Techniksoziologen Bruno Latour nach wird aus beiden Akteuren eine neue Verbindung geschöpft, die vorher nicht da war und die beide Akteure in bestimmtem Maße modifiziert. Dies passiert, in dem Mensch und Waffe durch Assoziationen verknüpft werden, die durch den gesellschaftlichen Diskurs ausgehandelt werden. Es entstehen somit neue Handlungsmöglichkeiten und Nutzungsweisen, in denen das Ziel von „verletzen“ bis hin zum „töten“ verschoben werden kann. Aus ‚Mensch‘ und ‚Waffe‘ entsteht ein neuer, zusammengesetzter Akteur, ‚der Schütze‘.“
Hier haben wir erneut die „Handlungsoptionen“ – nun nicht mehr nur für Bundeswehrsoldaten in weit entfernten und quasi rückständigen „Krisengebieten“ – wo angeblich noch weitgehend das „Du oder Ich?!“ gilt.
In einem literaturwissenschaftlichen Aufsatz schreibt Dr. Sacha Szabo:
„Im Zentrum dieses Aufsatzes steht die Überlegung wie in der Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) nichtmenschliche Aktanten Einfluss auf die Zeitstruktur von Geschichte nehmen. Diese, von Bruno Latour in ‚Wir sind nie modern gewesen‘ (1998) entwickelte Überlegung, wird anhand des Romans zum Film Terminator 2 – Tag der Abrechnung (1991) aus der Perspektive unterschiedlicher Aktanten verfolgt. Im Mittelpunkt wird dabei der „Terminator“ selbst stehen. Dieses Beispiel ist insofern in besonderer Form geeignet, als Cyborgs mustergültig Hybridität verkörpern; sie sind weder Natur noch Kultur, weder ganz Mensch noch ganz Technik und stehen als solche seit Jahren im Zentrum kulturwissenschaftlicher Überlegungen. Gegenstand dieses Vorgehens ist das Medium Roman. Die Anwendung der ANT stellt einen Versucht dar, sie als Methode der Literaturinterpretation einzusetzen und ihre Anwendbarkeit für diese zu überprüfen.
‚Die Geschichte war neu geboren worden‘ (Frakes 1991: 261) mit diesen Worten endet das finale Kapitel des Romans Terminator 2.“
In Fußnote 27 schreibt Dr. Sacha Szabo:
„Folgende Szene illustriert das negative Menschenbild, das dem Roman zugrunde liegt: „In der Nähe sah John zwei Kinder mit Maschinengewehr-Wasserpistolen spielen. Kichern spritzen sie einander heimtückisch voll. > > Du bist tot! < < > > Bin ich nicht! < < > > Bist du doch! < < “. (Frakes 1991: 175)“
In einem Vorwort erklärt der Autor, dass man seinen Text „Die ‚A-N-T-Wort‘ des ‚Terminators'“ frei verwenden darf, aber man solle bitteschön eine freiwillige Spende an eine gemeinnützige Organisation abführen. „Falls Sie unschlüssig sind, welche Organisation Sie bedenken wollen, so sei Ihnen von mir ‚Kaninchenschutz e.V.‘, in Potsdam (http://www.kaninchenschutz.de) ans Herz gelegt.“
Unter dem Stichwort „Aktant“ heißt es bei Wikipedia:
„Bruno Latour versteht im Kontext einer Akteur-Netzwerk-Theorie auch Dinge als handelnde Akteure, die zusammen mit menschlichen Akteuren in netzwerkartigen Handlungszusammenhängen agieren und so mit diesen zu Aktanten verschmelzen. Ein einfaches Beispiel dafür ist der Aktant ‚Mensch-Pistole‘, der aus dem Zusammenwirken der beiden Einzelakteure Pistole und Mensch entsteht und nicht auf einen dieser beiden Akteure reduziert werden kann.
Aktant ist in der Fachsprache der Soziologie (Akteur-Netzwerk-Theorie) ein Vernetzungszusammenhang, dem „Aktivität“ vom Typ „Vermittlung“ oder „Übersetzung“ zugeschrieben wird. Ein Beispiel wäre die materielle Kultur (das „Parlament der Dinge“). Der Begriff versucht sich von den handelnden Akteuren abzugrenzen, ohne ein sich rein verhaltendes System zu postulieren.
Der Begriff wurde von Bruno Latour vorgeschlagen und nimmt Problemstellungen wieder auf, die z. B. James S. Coleman mit dem ‚kollektiven Akteur‘ oder Ferdinand Tönnies mit der ‚Samtschaft‘ behandelt haben.“
Der „Vernetzungszusammenhang“ Aktant wurde schon früher postuliert, wenn auch nicht so benannt. Der Theater-Szenograf und Schriftsteller Eduard Kotschergin erzählt in seinem Buch „Die Engelspuppe“ eine Geschichte aus dem Jahr 1950: Nach dem Hungerjahr 1949 wurde in den Zirkussen des Landes wieder gelacht: „Die Jongleure arbeiteten in Erinnerung an den Großen Vaterländischen Krieg mit militärischen Requisiten: Bomben, Handgranaten, Pistolen, Gewehren und ähnlichem Spielzeug.“ Der „legendäre Clown“ Hassan Mussin trat in einer Leningrader Manege auf: „Neben dem Clown ist die zweite ‚handelnde Person‘ in einer Szene der Schreckschußrevolver, der mit einer Feder und einem speziellen Aufziehmechanismus ausgestattet ist,“ schreibt Kotschergin.
In einer anderen Geschichte beschreibt der Autor eine Fährfahrt über einen nordrussischen Fluß, wobei erst einmal der betrunkene Fährmann fahrtüchtig gemachen werden mußte. Sein Begleiter erklärte ihm: „Ohne seine Hände läuft der Motor nicht; ist zwar ein deutscher Diesel, aber immerhin schon seit dem ersten Kolchos hier.“ Als sie endlich losfuhren sah Kotschergin:
„Der Diesel und der Fährmann waren ein Ganzes, eine unglaubliche, noch nie und nirgends dagewesene Neuschöpfung, eine Menschmaschine oder ein Menschdiesel – ich weiß gar nicht, wie ich das nennen soll. Die Finger des Mannes ersetzten vielleicht längst verloren gegangene Teile und öffneten und schlossen im Takt des laufenden Motors diverse Ventile oder anderes in dessen Inneren. Der Fährmann arbeitete wie ein Musiker, er zuckte rhythmisch mit den Schultern, schloss die Augen, den Kopf zur Seite geneigt – das rechte Ohr auf das gewaltige Instrument gerichtet, lauschte er der Musik seines betagten Ernährers.“
Zwischen den 107.000 Bildern von „Zeigefingern“ im Internet befinden sich nicht wenige Photos von Pistolen. Und ebensowenig wie man eine geladene Pistole auf jemanden richten soll, wenn man ihn nicht erschießen will, darf man auch nicht mit nacktem Finger auf angezogene Menschen zeigen, wie man so sagt. Bei Wikipedia findet sich unter dem Stichwort „Zeigefinger“ eine Liste mit Bedeutungen von Handzeichen:
Ausgestreckter Zeigefinger nach oben: Aufgemerkt! Drohung (Erhobener oder moralischer Zeigefinger)
Nach oben ausgestreckter Zeigefinger pendelt nach links und rechts: Nein (Dudu-Finger)
Nach vorne ausgestreckter Zeigefinger pendelt nach oben und unten: Belehrung oder Drohung, Das machst du nicht nochmal!
Zu einem V nach oben ausgestreckte und auseinandergespreizte Zeige- und Mittelfinger: Deutschland: Victory-Zeichen (Sieg); Australien, mit dem Handrücken zum Gegenüber: Verzieh Dich!
Mit Daumen und Zeigefinger einen Ring bilden: Deutschland: perfekt!; Frankreich: Null oder wertlos; USA: Arschloch; Südosteuropa: weibliches Genital, in Verbindung mit einer Auf-und Abbewegung: obszöne Geste; Japan: Geld, oder man bettelt mit dieser Geste. Im Tauchsport: Okay/Gut/Alles in Ordnung!
Zeigefinger gestreckt, Daumen gestreckt jedoch am ersten Gelenk eingeknickt: Pistole im Kinderspiel (Peng Peng)
Über die Fingerkuppe der Pistole pusten: Dem hab ich es gegeben!
Gebogener Zeige- und Ringfinger mit Daumen dazwischen: Sex-Pistol (Happiness is a warm gun)
Erwähnt sei schließlich noch eine „story“ von Elisabeth Gollackner, die auf „fm4.orf.at“ veröffentlicht wurde:
„Die Szenerie: Ein strahlend schöner Herbstmorgen.
Die Akteure: Drei Bauarbeiter, die an ihren Kleinlastwagen gelehnt auf irgendetwas oder irgendjemand warten. Und ich, am Weg an ihnen vorbei, mit einer gerade geöffneten Banane in der Hand.
Und da muss ich an Bruno Latour denken, diesen französischen Philosophen. Er geht davon aus, dass nicht nur Menschen Akteure im täglichen Chaos des Miteinanders sind, sondern auch die Dinge. Wie die Pistole zum Beispiel – die bringt schon eine gewisse Aufforderung mit. Und so hängen wir netzwerkartig drin in den Handlungen, die Dinge und wir, und werden gemeinsam zu sogenannten ‚Aktanten“. Genau so fühl ich mich jetzt: Ein ‚Mensch-Banane‘-Aktant.
Als ich an den Bauarbeitern vorbeigehe, bin ich gerade dabei abzubeißen. Vier menschliche Akteure also und einer namens „Banane“, die zig pornografische Assoziationen provoziert. Pin Up, Blow Job, Biegeschwanz.
Alle Anwesenden (inklusive Banane) wissen, dass jetzt etwas geschehen muss. Der Appell, der von diesem frechen gelben Exportschlager ausgeht, ist unüberhörbar. Ich kaue und ich gehe und ich lausche.
Was werden sie sagen?
Noch ein Schritt. (Es kommt nichts.)
Noch einer. (Noch immer nichts.)
Und da schießt es aus einem der drei raus, gequält und halblustig: ‚Darf ich auch mal beißen?‘
Auweh, falsche Richtung, Cowboy.
Aber sowas kann schon mal passieren, wenn man von einer Banane derart unter Druck gesetzt wird.“
Die Pistole (Faustfeuerwaffe) gehört zur Kategorie der Handfeuerwaffen und wird u. a. durch das deutsche Waffenrecht (WaffG) als Kurzwaffe definiert – meine persönliche Erfahrung damit:
Beim US-Militär kann oder konnte man Pistolen im Supermarkt (PX) kaufen, als ich auf einer Radio Relay Station der US Air Force arbeitete, kauften sich eines Tage gleich mehrere Airman (nicht zu verwechseln mit den jüdisch-russischen „Luftmenschen“) eine solche Waffe. Ich weiß nicht mehr, was für welche. Die BRD-Polizei ist mit folgenden Pistolen ausgerüstet:
6090 FN (Browning) 7,65 mm (Frankreich), 400 SAGM 7,65 mm (Frankreich), 731 Mauser 7,65 mm (Deutschland), 271 „Armeepistolen 38“ 9 mm (Deutschland), 1495 Smith & Wesson Trommelrevolver 9 mm (USA), 2149 Webley & Scott brit. Armeerevolver 9 mm und 401 US-Armeepistolen 12 m.
Vielleicht waren es eine oder mehrere von diesen Typen. Auf alle Fälle gingen wir anschließend damit in der Garlstedter Heide auf Kaninchenjagd. Das war zwar verboten, aber in den Sechzigerjahren standen die Amis noch hoch über dem (deutschen) Gesetz. Wenn wir ein Kaninchen erwischten, machten wir daraus abends zusammen mit geklauten Kartoffeln und Mais ein kleines Festessen. Nach drei oder vier Kaninchenbraten ließen wir die Jagd jedoch wieder sein – und die Pistolen verschwanden in irgendwelchen sicheren Schränken.
Anders war es wenig später beim Schießen in einer Müllgrube auf Ratten mit einem Kleinkalibergewehr, das dem Vater eines Freundes gehörte, der ebenso wie seine Nachbarn sehr dafür war, dass wir die Ratten in der Müllgrube dezimierten. Wir waren auch nicht ganz erfolglos dabei, aber in der zweiten Nacht fielen im Traum tausende von Ratten über mich her. Damit war auch dieses „Spiel“ beendet – noch bevor ich mit einer Knarre zu einem „Aktant“ zusammenwuchs. Anders bei meinem Freund, dessen Vater das Kleinkalibergewehr besaß: Er wurde Postbeamter – und gleichzeitig ein Waffennarr und Neonazi. Letzteres hätten wir damals noch zur Not tolerieren können, aber dass er Postbeamter werden wollte – zog seinen Ausschluß aus unserem kleinen Freundeskreis nach sich.
Beim „Waffennarr“ geht es um eine fast platonische Leidenschaft, während das Verschmelzen von Pistole und Schütze zu einem Aktanten praktisch geschieht – immer im Hinblick auf ein Außen, mit der Mündung nach vorne sozusagen. In der autobiographischen Erzählung des slowenisch-schweizerischen Psychoanalytikers Paul Parin über „Die Leidenschaft des Jägers“ kommen dessen Waffen kein einziges Mal vor:
“Die Jagd ist eine Kunst” (Inschrift in der heute musealisierten Jagdhütte von Marschall Tito nahe Belgrad)
Paul Parin war selbst ein leidenschaftlicher Jäger und Angler, der bereits als 13jähriger bei seinem ersten tödlichen Schuß auf ein Haselhuhn einen Orgasmus bekam: “Seither gehören für mich Jagd und Sex zusammen”. Dieser Doppelschuß, wenn man so sagen darf, machte ihn zum “Mann: glücklich und gierig”. Vor dem offiziellen Erwachsenenstatus steht aber noch eine sadistische “englische Erziehung”: Bei einer Jagd mit Hunden beging er als junger Treiber so viele Fehler, dass sein gutsherrschaftlicher Vater ihn von seinem Förster auspeitschen läßt – “auf den blanken Hintern” inmitten der Treiberschar. Die darf ihn sich gleich anschließend noch einmal im Keller des Landschlosses vornehmen, dabei ziehen sie ihn ganz aus. Sein “Papa stand daneben und genoss das Schauspiel”. Anschließend legte sich einer der Burschen nackt neben ihn, “nahm meinen Pimmel in die Hand, steckte ihn in den Mund und fing an zu saugen und mit der Zunge zu streicheln. ‘Er will mich trösten’, dachte ich und drehte mich so, dass ich seinen Pimmel auch zu fassen kriegte, und steckte ihn meinerseits in den Mund. Es war wirklich ein Trost.”
Das war aber noch nicht die eigentliche “Initiation”. Die kam erst mit 17 – als er seinen ersten Bock schoß. Ein Onkel hatte ihn in seine Jagdhütte eingeladen, als Paul Parin oben ankam, bedrängte dieser gerade mit heruntergelassener Hose seine Haushälterin am Kachelofen. “Komm in zehn Minuten wieder,” rief ihm der Onkel zu, “dann sind wir mit Vögeln fertig. Dann sind auch die Mädels da, die ich gemietet hab. Sie sind scharf auf dich, haben sie gesagt”. Abends erzählt der Onkel Jagdgeschichten, danach geht der Bub mit einem der drei Mädchen auf sein Zimmer. Erst läßt sie sich von ihm mehrmals mit der Hand befriedigen, dann holt sie ihm einen runter. Anschließend schläft sie sofort ein, er kann nicht schlafen, stattdessen zieht er sich wieder an, schnappt sich sein Gewehr und geht in den Wald, wo er dann von einem Hochsitz aus einen “starken Bock” mit Blattschuß erlegt. Beim Frühstück muß er alle Einzelheiten erzählen. Auch das gehörte zum “Ritual”.
Seitdem erfaßte ihn “das Jagdfieber immer wieder mit der gleichen Macht wie sexuelles Begehren”. Das ging auch seinem Jugendfreund so: “Dulli war Jude und zeitlebens dem Jagdfieber verfallen. Von seinem liebsten Jagdkumpan an die deutsche Besatzungsmacht verraten, wurde er Widerstandskämpfer und in der titoistischen Republik Slowenien Minister für Jagd und Fischerei”. Ein “aufgeklärter Mensch jagt nicht” und auch ein “Jude jagt nicht” – das sind “gleichermaßen Gesetze abendländischer Ethik. Ich muss mich zu den Ausnahmen zählen”. Aber Paul Parin hat von sich selber und vielen anderen erfahren: “Wenn mein Vater nicht seine Jagd gehabt hätte, wären wir Kinder in der strengen und sterilen Familienatmosphäre erstickt”. Deswegen kann er jetzt eher genuß- als reuevoll z.B. seine Jagd auf eine Gazelle in der Sahara und das Forellenfischen in Alaska – als Sucht – beschreiben.
“Sucht heißt, dass der narzisstische Genuß am Morden mit der Jagd weltweit einen Freibrief hat”. Am Beispiel von Milovan Djilas, leidenschaftlicher Angler, Mitkämpfer und Vertrauter Titos, gibt er jedoch zu bedenken: “Später, als Dichter, wusste Djilas: Keine Ausübung der Macht über das Volk, über die Schwachen bleibt ohne verbrecherische Taten. Wäre es nicht besser gewesen, der eigenen Leidenschaft Raum zu geben und den flinken Forellen nachzustellen…?” Im Russischen gibt es ein volkstümliches Wort für Jagd und Lust: Ochota. Parins eigene “Jagdleidenschaft” erlosch bald nach dem 84. Geburstag seiner Frau Goldy, am 30 Mai 1995: “An diesem Tag habe ich im Fluß Soca in Slowenien die größte Forelle meiner Laufbahn gefangen”. Anschließend erzählte er seiner Frau, daß er am Fluß einen jungen verwilderten Mann, der ihn beklauen wollte, fesselte – dann hätte er ihn ausgepeitscht bis zum “Flash”, woraufhin sie beide zum Orgasmus gekommen wären. Während Paul Parin diese Geschichte schließlich als eine “Phantasie” darstellt, ist die Psychoanalytikerin Goldy sich da “nicht so sicher…Kann sein, dass du nicht nur die Riesenforelle erwischt hast, sondern auch einen Gayboy aus Kärnten”. Sie einigen sich darauf: “Es könnte so sein oder auch nicht…Gehen wir schlafen”.
In einer Art Nachwort rühmt Christa Wolf Paul Parins “Lebenskunst und Schreibkunst”, diese im richtigen Augenblick kennengelernt zu haben, hält sie für eine “glückliche Fügung”. Mich hat sie nun eher verwirrt. Während meiner Arbeit als landwirtschaftlicher Betriebshelfer hatte ich oft mit Bauern zu tun, die Jäger bzw. Treiber waren. Und oftmals kam mir das Dorfleben völlig oversexed vor, voller roher Triebe, die mich erstaunten, aber denen gegenüber ich meine eigenen auch als verzärtelt und allzu harmlos empfand. So erfuhr ich z.B. von einer Melkerin, mit der ich in einer LPG bei Babelsberg arbeitete, dass sie beim letzten Fest mit zwei Kollegen angetrunken aufs Feld gegangen wäre, um mit ihnen zu vögeln. Aber statt über sie, die sich bereits nackt hingelegt hätte, dankbar herzufallen, hätten die beiden Nichtsnutze sie bloß angepisst. Solche Schufte gäbe es. Ich war erstaunt, mit welcher Freimütigkeit sie mir das erzählte. Wollte sie mich schockieren? Nie hätte ich das sündige Dorfleben aber mit der Jagd in Zusammenhang gebracht, obwohl die Männer andauernd und bis ins hohe Alter den Frauen hinterherjagten, wie sie das selber nannten, und ich dabei selbst auch nicht gerade erfolglos war, obwohl mir weder die Jagd auf Wild noch das Angeln Spaß macht: Das eine bereitet mir hernach schlechte Träume oder ein schlechtes Gewissen, das andere langweilt bzw. im Anbissfall ekelt mich. Zudem waren und sind die Jagdgesellschaften meistens Männerrunden, mit deren Geschichten und Ritualen ich nichts anfangen kann. Als unnützen “Sport der Reichen und Mächtigen” lehnten selbst “meine” Bauern die Jagd zunehmend ab.
Paul Parin wurde 1916 auf einem slowenischen Landschloß geboren. Und in seiner Jugend lagen die Worte für Fleisch (viande), Vergewaltigung (viol) und Gewalt (violence) vielleicht noch enger zusammen als es bis heute im Französischen semantisch der Fall ist. Diesen Einbruch der Natur in die Kultur haben wir inzwischen mit der urbanen Trennung des Tieretötens vom Fleischessen vielfach für uns abblockiert, wobei das Morden – Jagen oder Schlachten – ebenfalls hochkultiviert/industrialisiert wurde. Von hier aus stellt sich mir die Lektüre der Jagd-Erzählungen von Paul Parin wie ein gelungener – weil verstörender – Einbruch in meinen psychischen Haushalt dar. Bisher hatte mich die ganze Jägerei – pro und contra – eher kalt gelassen.
In der Zeitschrift “konkret” hat Klaus Theweleit noch einmal den Aspekt des Lustmordens bei den deutschen Vernichtungsfeldzügen in Osteuropa herausgearbeitet, wobei er von Pasolinis Film “Salo oder die 120 Tage von Sodom” ausging und diese “Transgressionen ins gesellschaftlich Unerlaubte” als “Parallelhandlungen zum politischen Ermächtigungsgesetz” bezeichnete. Demnach wäre die Jagd eine “Transgression des Lustmordens ins gesellschaftlich Erlaubte”.
Nun gibt es aber noch eine erregendere Tätigkeit als die des Jägers: das ist die des Wilderers, “der gleichzeitig Jäger und Gejagter ist”, wie der Sozialforscher Norbert Schindler in seiner wunderbaren Studie über das Salzburger Land “Wilderer im Zeitalter der Französischen Revolution” schreibt. Darüberhinaus ist der bäuerliche Wildschütze auch noch in Friedenszeiten das, was der Partisan im Krieg ist. Und der Partisan ist immer auch und zugleich Wilderer, denn alles was er zum Leben braucht, muß er dem Feind abringen, und dazu gehört auch das Wild in den Bergen, das dieser für sich beansprucht. So wie in Friedenszeiten der “rechtmässige Herrscher”, dessen Besitzansprüche an Wald und Wild der bäuerliche Freischütze nicht akzeptieren will und kann. Denn mehr noch als die wechselnden und willkürlichen (adligen) Landbesitzer ist er ein Teil des Territoriums und umgekehrt. Aus dieser genauen Ortskenntnis resultiert dann auch meist seine Überlegenheit über die ihm nachstellenden Jäger und Förster des Landbesitzers – und erst recht seine Überlegenheit gegenüber feindlichen Okkupationsheeren, die ihn auf seinem partisanischen Territorium bekämpfen, ja sogar gegenüber einer möglichen “Anlehnungsmacht”, die bereit und in der Lage ist, ihre Soldaten an seiner Seite kämpfen zu lassen. Paul Parin arbeitete im Zweiten Weltkrieg eine zeitlang als Arzt bei den Tito-Partisanen.
Die Pistole wurde nebenbeibemerkt von solchen Bauern-Partisanen erfunden: von den Hussiten, die damit sowie mit den ebenfalls von ihnen erfundenen „Kampfwagen“ (umgerüstete Bauernwagen) drei Kreuzzugsheere besiegten.
Noch im russischen Bürgerkrieg benutzten die partisanischen Kosaken “Tatschankas”, die sie mit Maschinengewehren bestückten. Nach dem Angriff wandelten diese “Unfaßbaren” sie wieder in harmlose Bauernwagen um.
Zahlreich sind die Schilderungen des Aktanten „Pferd-Steigbügel-Reiter“, der mit den mongolischen Nomaden für kurze Zeit sogar zu Weltgeltung gelangte. Isaak Babel konnte sich in Budjonnys roten Reiterarmee nicht genug darüber wundern, wieviel Zeit die Kosaken mit ihrem Pferd verbrachten. Mit der Eingliederung und Einreihung vormals quasi autonomer Reitereinheiten in die Armee verändert sich dann jedoch ihr „ganzer Eros des Krieges“, wie Deleuze/Guattari das nennen: „Der auf das Tier orientierte Eros des Reiters“ wird dabei durch einen „homosexuellen Gruppeneros ersetzt“. Und schon bald wird in der Armee ihre Waffe Pferd durch die Waffe Panzer ersetzt. Wassili Grossman schrieb 1944 in seinem Kriegstagebuch: “Viele Panzersoldaten kommen aus der Kavallerie. Aber zweitens sind sie auch Artilleristen und drittens müssen sie etwas von Fahrzeugen verstehen. Von der Kavallerie haben sie die Tapferkeit, von der Artillerie die technische Kultur.” (abgedruckt in „Ein Schriftsteller im Krieg“ von Antony Beevor und Luby Vinogradova)
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(1) „Nachdem man uns einmal zu ’selbstverantwortlichen Individuen‘ erklärt hat, sind wir aufgerufen, uns selbst um ‚gesellschaftliche Anerkennung‘ für das zu bemühen, was wir ja per definitionem ganz allein zu verantworten haben: das Leben, das wir – ob freiwillig oder gezwungenermaßen – führen…Die Alternative heißt Verlust der Würde: Demütigung,“ erklärt uns der Soziologe Zygmunt Bauman in seinem neuen Buch „Wir Lebenskünstler“ (d.h. Projektemacher).
In der individualisierten „Shopping-Gesellschaft“ stützen sich die „Erklärungen für Leid und Widerwillen kaum noch oder gar nicht mehr auf gruppen, klassen- oder schichtenspezifische Eigenschaften, sondern überwiegend auf individuelle. Hinzu kommt, dass die betroffenen Individuen ihre Leiden und Probleme nicht mehr auf die Ungerechtigkeiten einer fehlenden Gesellschaftsordnung zurückführen, denen durch soziale Reformen abzuhelfen wäre, sondern sie zunehmend als persönliche Beleidigungen, als Anschläge auf ihre Würde und ihr Selbstwertgefühl begreifen, die nach persönlicher Gegenwehr bzw. Vergeltung rufen.“
Menschen, die permanent aufgefordert werden, individuelle Lösungen für gesellschaftliche Mißstände zu finden, begreifen das Geschehen „aufgrund der Ideologie der Privatisierung als persönliche Brüskierung, als eine und – sei es nur zufällig – auf sie persönlich gezielte Demütigung.“
So weit der Soziologe. Als konkretes Demütigungs-Beispiel sei hier ein Bericht der im havelländischen Jahnberge lebenden schwäbischen Kämpferin Ulrike Rilke erwähnt. Die Bürokauffrau hatte in Stuttgart bei einer 20-Stundenwoche 1400 Euro verdient, im Osten fand sie keinen Job, verheiratete sich aber mit einem Wachschützer, der in seinem Vollzeitjob 800 Euro im Monat verdiente – bis auch er arbeitslos wurde. Frau Rilke fand dann eine Anstellung als Putzfrau/Zimmermädchen in einem märkischen Hotel, wo sie 2 Euro 50 pro Zimmer bekam und rund 600 Euro im Monat verdiente. Ihr wurde gesagt, dafür sei aber im Osten alles billiger. Das prüfte sie genau:
“Es stimmt nicht, die Mietnebenkosten sind hier sogar höher”. Sie schrieb daraufhin einen Brief an den Bundeskanzler. Der wies ihre Milchmädchenrecherchen zurück: “Im Osten werden 93,6% der Westgehälter verdient!“ Punktum. Da war sie erst mal baff – dann ging sie wütend zur Berliner Zeitung: „Hier darf man nicht einfach gehen, hier muss man etwas ändern.“
Ein weiteres Demütigungs-Beispiel sind neuerdings die sogenannten „Bagatell-Kündigungen“ – Rausschmisse wegen Nichtigkeiten: So verlor z.B. eine Supermarktkassiererin ihren Arbeitsplatz, weil sie zwei Pfandbons nicht abgerechnet hatte, eine Altenpflegerin, weil sie einige übrig gebliebene Maultaschen aß und ein Arbeiter, weil er ein paar weggeworfene Pappen mit nach Hause nahm. Und die Arbeitsgerichte gaben den Unternehmern auch noch recht. In der Frankfurter Rundschau schrieb Eva Roth: „Dass die Debatte über diese Bagatell-Kündigungen gerade jetzt so heftig und ausgiebig geführt wird, ist kein Zufall. Viele Menschen haben das Gefühl, dass es ungerecht zugeht in diesem Lande. Politiker haben das gemerkt. Es könne nicht angehen, dass Beschäftigte auf Verdacht wegen Centbeträgen ihren Job verlieren, während Manager, die Milliarden verbaselt haben, mit Millionenabfindungen verabschiedet werden, schimpft etwa der Vize der Links-Partei, Klaus Ernst. Deswegen gehörten Bagatell-Kündigungen abgeschafft. Doch ist das wirklich die Lösung?“
„Zunächst einmal hat das Ungerechtigkeits-Gefühl vieler Menschen einen handfesten Grund: Die Einkommensschere ist in Deutschland in den vergangenen Jahren so kräftig wie in kaum einem anderen Industrieland auseinandergegangen. Die einen haben kaum eine Chance, aus dem Niedriglohnsektor rauszukommen, obwohl sie leistungsbereit und -fähig sind. Andere verdienen satt trotz zweifelhafter Leistung.“ Eva Roth meint, dagegen hülfen u.a. „Mindestlöhne und höhere Steuern für Spitzenverdiener“.