Diesen Sonntag, den 25. Oktober 2020, werden sich die Chilen*innen zu den Wahlurnen begeben und darüber entscheiden, ob sie eine neue Verfassung fordern; und wenn ja, durch welches politische Organ diese ausgearbeitet werden sollte. Dieser historische Volksentscheid ist das Ergebnis der konstanten Proteste der Zivilbevölkerung, die während des vergangenen Jahres das Fundament der politischen Eliten ins Wanken brachte und sich mit der Forderung nach einer grundlegenden Änderung der bestehenden politischen Leitlinien in das sogenannte „Protestjahr 2019“ einreihte. Seit dem vergangenen Monat laufen täglich und zu festgelegten Uhrzeiten die Videoclips der beiden oppositionellen Wahlkampagnen im Fernsehen, die entweder für das Apruebo, also das Ja für eine neue Konstitution und das Rechazo, dem Nein dagegen, werben. Gewinnt das Nein, bleibt alles beim Alten. Gewinnt das Ja, gibt es bei der Ausarbeitung der neuen Verfassung zwei Möglichkeiten: erstens eine verfassungsgebende Versammlung (convención constitucional/ asamblea constituyente) und zweitens die gemischte Versammlung. Die verfassungsgebende Versammlung, für die die Kampagne des Ja wirbt, würde aus insgesamt 155 Mitgliedern bestehen, die allesamt durch die Zivilbevölkerung gewählt werden. Die gemischte Versammlung hingegen besteht zu 50% aus bereits gewählten Abgeordneten und zu 50% aus Zivilpersonen, die durch eine Volksabstimmung neu gewählt werden können. Im letzteren Fall würde die Versammlung aus 172 Personen bestehen, 86 Abgeordnete und 86 gewählte Vertreter*innen der Zivilbevölkerung. Die Proteste erwirkten, dass für beide Versammlungsoptionen die Parität obligatorisch ist: also eine Versammlung, die sich zu 50% aus Männern und zu 50% aus Frauen zusammensetzt. Dabei gilt diese Regel für die Option der gemischten Versammlung allerdings nur für den Teil, der von Zivilpersonen neu gewählt wurde. Zudem sollen Sitze für gewählte indigene Vertreter*innen gestellt werden.
Was bedeutet es nun, wenn das Ja gewinnt? Warum ist eine Reform – oder in diesem Fall, der vollständige Ersatz – der chilenischen Verfassung notwendig? Vor welchen grundlegenden Problemen stehen die chilenische Politik, ihre repräsentativen Instanzen und die Institutionen des Landes?
Die aktuelle Verfassung Chiles wurde im Jahr 1980 durch den damaligen Diktator Augusto Pinochet etabliert, der durch den von der US-amerikanischen Regierung finanzierten Militärputsch im Jahre 1973, gewaltsam an die Macht gekommen war. Die in der Diktatur entstandene Verfassung charakterisierte sich durch ihre extrem neoliberalen Richtlinien, privatisierte grundlegende soziale Dienstleistungen und Bereiche, so wie den Bildungs- und Gesundheitssektor, die Rentenversicherungen und auch grundlegende Elemente der Versorgung, wie den Wasserressourcen. Gleichzeitig erfolgte die radikale Liberalisierung des chilenischen Staates, dessen Möglichkeiten der marktwirtschaftlichen Intervention damit minimiert wurden. Ein Ziel dieser Verfassung war die Konzentration des finanziellen Vermögens und des politischen Einflusses in den Händen eines kleinen Teils der gesellschaftlichen Elite.
Nach dem Ende der Diktatur im Jahre 1989 und dem Übergang zur Demokratie im Jahre 1990, wurde die durch Pinochet etablierte Verfassung übernommen. Obgleich im Zeitraum der vergangenen 30 Jahre zahlreiche Reformen innerhalb dieser Konstitution durchgeführt und Demokratisierungsprozesse vorangetrieben wurden, wie bspw. die Einrichtung von Ministerien, eine Beschränkung und Verkürzung der Amtszeit des Präsidenten nebst anderen, so vermochten diese Reformen nicht, die grundlegenden Strukturen finanzieller, politischer und wirtschaftlicher Macht in Chile zu ändern. Ist die derzeitige chilenische Verfassung also nicht mehr vollständig dieselbe wie jene, die durch Pinochet eingeführt wurde, so ist sie trotzdem ein Vermächtnis der chilenischen Diktaturzeit: denn sie entstand weder innerhalb eines demokratischen Systems, noch durch demokratische Mechanismen wie freien Wahlen und der Zustimmung der gesellschaftlichen Mehrheit. Dabei ist es nicht so, dass eine staatliche Verfassung zwingendermaßen eine gewisse Sozial- oder Wirtschaftspolitik eines Landes festlegen muss. Allerdings ermöglichen die prinzipielle Orientierungsabsicht und die wörtliche Ausarbeitung eines solchen politischen Textes verschiedene Weisen der Interpretation durch staatliche Repräsentant*innen und der nationalen Justiz. In der Vergangenheit wurden bspw. verschiedene Versuche der Reformen innerhalb des Bildungs- und des Gesundheitssektor abgelehnt, weil sie als verfassungswidrig deklariert wurden. Auch die Entscheidung, Wasser als ein grundlegendes, öffentliches Gut anzusehen und es zu verstaatlichen, war Gegenstand einer solchen Diskussion. Trotz der mehrheitlichen Zustimmung von 24 Abgeordneten und nur zwei Gegenstimmen, kam der Vorschlag nicht durch den Kongress, weil er im Hinblick auf die chilenische Verfassung rechtswidrig war. Die grundlegenden wirtschaftlichen – und damit in Chile auch die politischen – Machtverhältnisse wurden durch die Übernahme der erzwungenen Verfassung Pinochets also weder aufgelöst noch grundsätzlich verändert, sondern weitergeführt. Nun steht der gesamte chilenische Staat, seine Vertreter*innen, die Parteien, die Justiz und jegliche weitere Form der institutionalisierten Politik vor dem Problem, dass die Zivilgesellschaft jegliches Vertrauen in sie verloren hat.
In den vergangenen Jahren wurde vermehrt ein Rückgang in der politischen Partizipation der chilenischen Bürger*innen sowie eine vermehrt negative Wahrnehmung der effizienten Repräsentation durch Parteien und Abgeordnete verzeichnet; auch die Wahlbeteiligung während der letzten Wahlen war niedrig. In vielerlei Hinsicht sind die Mobilisierungen und Proteste des vergangenen Jahres das Ergebnis einer Situation der konstanten Prekarität, die die intimsten Lebensbereiche der Zivilgesellschaft durchdrungen hat. Obgleich die Mobilisierungen dezentralisiert erfolgten, eint die Demonstrierenden verschiedenster sozialer Schichten, Altersgruppen und Familienverhältnisse, ähnliche Protestgründe. Die Mobilisierungen sind der Ausdruck eines Protests gegen die politische Elite, die als wohlhabende Minderheit über die gesellschaftliche Mehrheit regiert und dabei jegliche Verbindung zur alltäglichen Lebensrealität der Bürger*innen verloren hat. Auch wenn in Chile eine statistisch signifikante Reduktion der Armut von 45% auf 8% seit der Rückkehr der Demokratie erfolgt ist, so existieren außer der Oberschicht keine real finanziell stabilen und sozial abgesicherten Sozialschicht. Denn jegliche Befriedigung grundlegender Bedürfnisse erfolgt nicht etwa durch effiziente und ausreichende staatliche Leistungen für einkommensschwächere Schichten, sondern durch den Zugang zum freien Markt. Gelangte es der sogenannten Mittelschicht in Chile, aus der Armut herauszukommen, so ist ein Großteil von ihr zutiefst verschuldet. Im Falle eines unvorhergesehenen Ereignisses wie bspw. der schweren Erkrankung eines Verwandten, verlieren viele Familien ihre finanzielle Sicherheit – denn die Qualität der Gesundheitsleistungen ist direkt an die Zahlungsstärke der Individuen gekoppelt.
Im Vordergrund der Proteste stehen folglich vor allem die Forderungen nach wirksamen Änderungen im sozialen und öffentlichen Sektor, die Forderung nach einer effizienten staatlichen Absicherung und Versorgung, der Verbesserung des staatlichen Bildungswesens, die Abschaffung des vollständig privatisierten Rentensystems, höhere Löhne und Arbeitnehmerrechte. Kurz, eine staatliche Unterstützung und Vorsorge hinsichtlich grundlegender sozialer und gesundheitlicher Rechte. Das Plebiszit am 25. Oktober 2020 ist ein historisches Ereignis und Ausdruck des Kampfes gegen die Vorherrschaft der politischen und wirtschaftlichen Elite – gleichzeitig ist der Volksentscheid aber auch eine Lösung, die durch genau diese kritisierte Minderheit gestaltet wurde. Unter Beachtung dieses Umstandes lässt sich auch das weiterhin bestehende Misstrauen der chilenischen Zivilbevölkerung gegenüber dem wirklichen Ausmaß möglicher Veränderungen im chilenischen System erklären. Die institutionalisierte Politik hat jegliche Legitimität verloren, und doch kann es ohne sie keine Lösung geben. Sie steht nun vor der Aufgabe, das Vertrauen der Bevölkerung zurückzugewinnen. Was nun geschehen muss ist, politische Inhalte und Fragestellungen der Zivilgesellschaft auf institutioneller Ebene nahe zu bringen; dies durch eine wirksame und konstante Zusammenarbeit der Öffentlichkeit und der Parteien, somit durch eine effiziente und reale Repräsentation der gesellschaftlichen Mehrheit in Parlament und Kongress. Die politische Partizipation der Bürger*innen darf sich nicht mehr auf den Gang zur Wahlurne beschränken oder nur durch Massenproteste Gehör finden. Vielmehr braucht es Mechanismen, die es den Zivilbürger*innen ermöglichen, konstant an politischen Debatten teilzuhaben und so aktiv in der Entscheidungsfindung mitzuwirken. Im Zentrum steht hier auch die Reduktion des Einflusses von Eigentumsrechten und wirtschaftlichen Privatisierungsmaßnahmen, denn diese kollidieren regelmäßig mit den seit Jahren existierenden Forderungen nach vermehrter sozialer Sicherheit und Versorgung. Die chilenische Politik und die Gesellschaft als Ganzes stehen also vor mehreren grundlegenden und tiefgreifenden Problemen die umfassende Lösungen voraussetzen und welche nur durch die Bereitschaft zum Dialog und des Konsens, durch das Treffen großer Übereinkünfte, entstehen kann. Denn um einen Absatz zur Verfassung hinzufügen zu können, wird eine 2/3 Mehrheit benötigt. Fundamental für die Änderung der chilenischen Gesellschaftsordnung ist die Ausarbeitung einer Verfassung, die grundlegende Umstrukturierungen im Finanz-, Wirtschafts-, Sozial- und Bildungswesen ermöglicht. Ob dies gelingen wird, ist mit dem Gewinnen des Ja zwar noch nicht gesagt – doch es ist ein verdammt guter Punkt, um anzufangen.