Heute vor genau einem Jahr, am 18 Oktober 2019, begannen die massiven Proteste der Zivilbevölkerung in Chile. Die Demonstrationen durchzogen das gesamte Land, wurden immer größer, die repressiven Maßnahmen von Polizei und auch Militärkräften immer brutaler. Die Demonstrationen gehen weiter. Bis heute.
Nach einem Jahr der zivilen Proteste präsentiert das chilenische Institut für Menschenrechte (INDH) nun, am 16. Oktober 2020, den aktualisierten Bericht über die Vorkommnisse während der Demonstrationen. Der Vorsitzende des Instituts Sergio Micco sagt dabei aus, die chilenische Zivilbevölkerung würde der „schwerwiegendsten Verletzung der Menschenrechte seit der Rückkehr zur Demokratie gegenüberstehen“. Allein in dem Zeitabschnitt des 18. Oktobers 2019 bis zum 18. März 2020, verzeichnet das INDH insgesamt 2520 Klagen wegen der Verletzung der Menschenrechte. Die Klagen richten sich mit einer Gesamtzahl von 2340 größtenteils gegen die Carabineros de Chile, die chilenische Polizei. Dazu kommen 97 Klagen gegen Einsatzkräfte des Militärs und 34 Klagen gegen die Policia de Investigaciones de Chile (PDI), einer der wichtigsten Polizeieinrichtungen des Landes, die strafrechtliche Ermittlungen durchführt. Bis zum heutigen Zeitpunkt seien erst 31 Klagen formalisiert worden, auf nationaler Ebene sind im Moment rund 72 Beamte angeklagt. Die Klagen beziehen sich auf insgesamt 30 Handlungsvorgänge, mittels derer die Grundrechte der betroffenen Zivilpersonen verletzt wurden: darunter fallen Schläge, Schussverletzungen, forcierte Entkleidung Festgenommener, Drohungen sowie Androhung von Mord, verweigerte medizinische Behandlung, usw.* Des Weiteren sollen insgesamt etwa 12500 Personen verletzt worden sein, davon wurden bis Ende März ca. 460 Menschen Opfer von irreversiblen okularen Verletzungen. 33 Menschen starben.
Nach einem Jahr des Ausbruchs der Proteste finden sich heute, am 18. Oktober, abermals die Menschen zusammen, um für eine neue Verfassung zu demonstrieren. In der Hauptstadt werden die Demonstrant*innen heute etwa 40.000 der rund 60.000 Polizist*innen in Santiago gegenüberstehen.
Dieser Artikel blickt auf das vergangene Protestjahr in Chile zurück.
In der dritten Woche des Oktobers 2019 kündigte der Präsident der Republik Chile Sebastián Piñera eine Erhöhung der Fahrpreise der Metro um 30 Pesos in der Hauptstadt an. Wenige Tage später riefen Schüler*innen zu massivem Schwarzfahren auf: mit den evasiones masivas („Massives Ausweichen“) unterminierten die Schüler*innen in ganz Santiago de Chile die neue Regelung. Unter vorheriger Ankündigung von Ort, Zeit und Datum auf sozialen Netzwerken organisierten sie sich und riefen zu zivilen Protesten auf, sprangen über die Eingangsschranken der Metro und motivierten jeden Fahrgast, es ihnen gleich zu tun. Dass es dabei um weit mehr ging als um einen Protest gegen die Fahrpreiserhöhung, wurde schnell klar. In den folgenden Tagen und Nächten wurden Barrikaden aufgebaut, Busse und U-Bahnen in Brand gesteckt – der rechte Präsident Sebastián Piñera rief bereits am 19. Oktober, also einen Tag nach den ersten Protesten von Schüler*innen, den Ausnahmezustand aus, verhing eine Ausgangssperre und schickte das chilenische Militär auf die Straßen. Obgleich aufgrund der Proteste die Fahrpreiserhöhung zurückgenommen wurde, nahm die Anzahl der demonstrierenden Personen nicht ab. Die Proteste der Schüler*innen hatten einen Nerv getroffen: denn Plakate und Rufe wie „Es waren nicht 30 Pesos. Es waren 30 Jahre“, „Chile ist aufgewacht“ und „Es war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte“ machten klar: nicht mehr – und nicht mit uns.
Noch eine Woche vor dem Ausbruch der Proteste hatte der chilenische Präsident Chile als „die Oase Lateinamerikas“ bezeichnet. Lange galt das Land auf internationaler Ebene und im Vergleich zu anderen Staaten Lateinamerikas als Vorzeigenation für wirtschaftliches Wachstum in der Region und als Land, in dem wirtschaftliche, politische und soziale Stabilität herrschte. Gleichzeitig präsentierte Chile allerdings auch Daten, die eine extreme soziale Ungleichheit in der Gesellschaft bezeugten. Die umstrittene Verfassung Chiles wurde im Jahr 1980 von dem Diktator Augusto Pinochet verabschiedet – und etablierte ein neoliberales Regime, das Basisleistungen, Bildungs- und Gesundheitswesen, Industrie und Wasser beinahe vollständig privatisierte. Während des Übergangs zur Demokratie in den Jahren 1989-1990 wurde keine neue Verfassung ausgearbeitet, sondern die von Pinochet etablierte übernommen. In den daraufkommenden Jahren folgten zwar Änderungen innerhalb dieser Verfassung, doch ihre ideologischen Grundpfeiler der Privatisierung blieben bestehen. Auf diese Art und Weise gelang es einer kleinen Gruppe von Unternehmer*innen, ohne große Einschränkungen eine Reihe neoliberaler Richtlinien durchzusetzen, die jegliche Bereiche des öffentlichen und persönlichen Lebens der Menschen durchdrangen. Dies begründete die heute herrschende soziale Ungleichheit in Chile. Heute beklagt die chilenische Zivilbevölkerung verschiedene Aspekte des Alltags: ein unzureichender Mindestlohn, sehr lange Arbeitszeiten, eine schlecht geplante Infrastruktur, die alltägliche Wege z.B. zur Arbeit sehr lang und gleichzeitig sehr teuer macht, ein kollabiertes und überfordertes Gesundheitssystem, ein staatliches Bildungswesen von schlechter und unzureichender Qualität, fehlender Wohnraum, der dazu führt, dass ein Großteil der Familien in überfüllten und zu kleinen Wohnungen leben und indigene Bevölkerungen, die absolut keine staatliche Anerkennung erhalten und somit oft Opfer von staatlicher und polizeilicher Repression werden.
Am 25. Oktober entscheiden die Chilen*innen nun in einer verfassungsgebenden Versammlung, ob sie eine neue Verfassung fordern und wenn ja, durch welche institutionellen und zivilen Akteure diese ausgearbeitet werden soll. Im daraufkommenden Jahr 2021 würde dann die neue Verfassung vorgestellt werden und durch einen erneuten Volksentscheid entschlossen werden, ob diese angenommen wird oder nicht. Sollte dies nicht der Fall sein, so tritt die alte Verfassung wieder in Kraft.
Auch, wenn die Möglichkeit der Wahl einer neuen Verfassung das Vollziehen eines demokratischen Rechts darstellt, so ist die Stimmung in Chile weiterhin von starkem Zweifel und Enttäuschung gezeichnet. Ein Großteil der Bevölkerung hat das Vertrauen in jegliche Form der institutionalisierten Politik und ihre staatlichen Apparate verloren. Wählen gehen werden trotzdem deutlich mehr Menschen, als es bei Wahlen in Chile üblich war, denn der Volksentscheid ist hart und schmerzvoll erkämpft worden. Dennoch herrscht weiterhin Misstrauen: auch wenn das Apruebo, also das „Ja“ für eine neue Verfassung gewinnen sollte, glauben viele nicht an einen grundlegenden Wandel: denn das vergangene Jahr ist gezeichnet von Bildern, die aufgrund der brutalen Vorgehensweise der chilenischen Sicherheitskräfte gegen Demonstrant*innen, an die Zeiten der Diktatur (1973-1989) erinnern. „Die ganze Welt stellt das Abkommen als historisch dar. Aber für uns ist es keine echte Veränderung. Die gleichen Politiker, die gleiche Regierung wird diese neue Verfassung unterschreiben. Wo ist da die Veränderung?“, fragt eines der Mitglieder der chilenischen Band Anarkia Tropikal in einem Interview im Rahmen einer ARTE Reportage.** So wie alle Dinge, haben zwar auch die Proteste in Chile zwei Gesichter: einerseits die sich manifestierende Zivilbevölkerung, sei dies friedlich oder nicht, und andererseits Gruppen, die die unübersichtliche Situation ausnutzen, um Geschäfte auszurauben, brandstiften, usw. Doch die systematische Repression Protestierender durch Polizei- und Sicherheitskräfte sowie die strukturelle Legitimierung dieser extremen Gewalt von Seiten politischer Amtsinhaber*innen als auch des chilenischen Präsidenten, zeigen die fehlende Bereitschaft der Regierung und ihrer Befürworter, sich auf konstruktive, produktive Gespräche und Verhandlungen einzulassen. Wenn der Präsident Sebastián Piñera vor diesem Hintergrund auch noch erklärt, „Chile befände sich im Krieg gegen einen mächtigen Feind“, so ist offensichtlich: Schutz von „da oben“ wird es für die Protestierenden wahrscheinlich nur wenig geben. Systematisch ist die Gewalt, weil sie sich bei jeder Demonstration wiederholt. Strukturell ist sie, weil die Polizei- und Sicherheitskräfte beinahe vollständige Straffreiheit und die Unterstützung der einflussreichen Elite genießen. Die Aufnahme von Daten staatlich unabhängiger Institutionen über Verletzte und Opfer von Folter und extremer Gewaltanwendung ist somit essenziell: denn an eine konsequente Dokumentation der Festnahmen und dem Verhalten der Polizist*innen gegenüber festgenommenen Personen, glaubt die chilenische Zivilbevölkerung oft nicht. Desweilen häufen sich bis heute die Vorwürfe gegen die chilenische Polizei. Im Internet und in den sozialen Medien kursieren genügend Videos, die die unangemessene und extreme Gewaltausübung der Sicherheitskräfte bezeugen. Polizeiliche Angriffe richteten sich dabei nicht nur gegen Protestierende oder Personen, die sich in der Nähe einer Demonstration befanden (seien dies Studierende, Schüler*innen, Familien, Senioren…), sondern auch gegen Reporter*innen und die freiwilligen Sanitäter*innen, die Verletzte bei Protesten ambulant versorgten. Letztere sind eigentlich durch die Richtlinien der Genfer Konvention geschützt. Zu dieser Gewalt kommen die Repressionsmittel wie Waffen, Tränengas und Wasserwerfer hinzu. Die Sicherheitskräfte schießen im 90°Grad-Winkel: das bedeutet, dass die Schusslinie sich auf der Höhe von Gesicht und Hals des anvisierten Opfers befindet. Das Wasser der Wasserwerfer ist gefüllt mit giftigen Chemikalien, die starke Verbrennungen auf der Haut auslösen und teilweise zu blasenartigen Geschwüren führen können. Auch das Tränengas wird in unterschiedlicher Form genutzt: bräunlich und gelblich gefärbte Gaswolken weisen z.B. auf ein stärkeres Tränengas hin, das nicht nur die Haut und Augen irritiert, sondern die Atemwege beinahe komplett verschließt und zu Ohnmacht und Erbrechen führen kann. Wenn Demonstrant*innen von Polizeikräften festgenommen und abgeführt werden, rufen die Betroffenen oftmals den Protestierenden um ihnen herum ihren vollständigen Namen sowie ihre RUN, ihre staatliche Identifikationsnummer, zu. Denn es hat bereits zahlreiche Fälle von Menschen gegeben, die von exzessiver Gewalt während der Zeit der Festnahme berichteten; ohne, dass ihre Namen in dem Register des zuständigen Kommissariats auftauchten. Darüber hinaus gibt es Berichte über Einschüchterungsversuche der Polizei gegenüber Personen, die während der Proteste verletzt wurden: so sollen Carabineros in den Krankenzimmern erschienen sein und Druck auf Betroffene ausgeübt haben, damit sie ein Dokument unterschreiben, in dem sie aussagen, sie seien sich unsicher, durch wen die Verletzung zugefügt worden sein. Genauso würden Carabineros teilweise regelmäßig vor der Haustür verletzter Personen erscheinen, um sie zum Unterschreiben solcher Dokumente zu zwingen.
Gustavo Gatica, gebürtiger Chilene und Psychologiestudent in der Hauptstadt Santiago de Chile, ist mittlerweile auch auf internationaler Ebene zu einem Symbol für die Gewalt der chilenischen Polizei geworden. Vor einigen Tagen, am 15. Oktober 2020, erschien in dem Magazin Time eine von ihm verfasste Kolumne, in der er Stellung zu den Protesten, der Gewalt und seinen eigenen erlittenen Verletzungen nimmt: am 8. Oktober 2019 schoss der Polizist Claudio Crespo ihm in beide Augen, woraufhin der junge Student vollständig erblindete. Zu der Situation in Chile schreibt er u.a.: “My life changed completely on Nov. 8 last year. That day, Carabinero officers – members of the Chilean National Police – shot me in both eyes, leaving me completely blind. Why did they shoot me? For exercising my right to protest. (…) But in Chile, demanding your rights always involves a certain level of risk. There’s no guarantee that you will return home safely. When you go out to protest, you go prepared with a helmet and a facemask to protect against tear gas. But there’s no way to protect yourself from the guns fired by the Carabineros. (…)” Nach neun Monaten wurde der schuldige Polizist schließlich verhaftet, der rechtliche Prozess steht noch bevor. Mit dem Blick auf den Volksentscheid kommenden Sonntag, den 25. Oktober zeigt sich Gatica dennoch hoffnungsvoll: “What gives me hope for the future of the country is the upcoming referendum to draft a new constitution. It will not change things overnight, but I think it will be a big step forward. If successful, the new constitution must be based on respect for and guarantee of human rights. We also need a total restructuring of the Carabineros. We can’t allow them to keep hurting us. This tragedy that we’ve experienced should never have happened. All that’s left is for us to keep demanding justice and reparation in all cases of human rights violations. We need to stay alert and follow the legal proceedings so that the perpetrators and the politicians who are responsible face justice. The repression that we’ve experienced in Chile over the last year must never be repeated.”***
In einer Woche begeben sich die Chilen*innen nun zu den Wahlurnen. Der 25. Oktober 2020 wird hoffentlich ein Tag sein, an dem der Grundstein für eine neue Verfassung gelegt wird, die alle Bürger*innen Chiles als Menschen ansieht, die, so wie jede Person, ein Leben in Würde verdient haben.
* Statistik des Instituto Nacional de Derechos Humanos (INDH, Nationales Institut für Menschenrechte), Mapa de violaciones a los derechos humanos https://mapaviolacionesddhh.indh.cl/public/estadisticas
**Die gesamte Reportage finden sie unter folgendem Link: Chile: Aufstand für Würde und Gerechtigkeit ARTE Reportage (24:43 min) https://www.arte.tv/de/videos/093847-000-A/chile-aufstand-fuer-wuerde-und-gerechtigkeit/
(Das in dem Artikel erwähnten Interview finden Sie ab Minute 22)
*** Gustavo Gaticas Artikel finden Sie unter: I was shot and Lost my Sight for Protesting Inequality in Chile. We Need to Keep Demanding Justice, Time https://time.com/5899684/gustavo-gatica-shooting-chile-protests/
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Eine weitere Dokumentation des Geschehens in Chile finden Sie hier: Documental „Estallido Social en Chile“, PiensaPrensa https://www.youtube.com/watch?v=f_gL9XSYi1M Die Dokumentation ist auf Spanisch, ohne Untertitel. Bitte beachten Sie, dass in der Dokumentation sensibles Bildmaterial gezeigt wird, dass nicht für jeden angemessen ist.