vonploetzeblog 22.10.2019

Plötze und Unerwartet

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„Es geht nicht um 30 Pesos. Es war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte“, steht auf dem in die Luft gehobenen Plakat einer Demonstrantin. Santiago de Chile, Chile, 19. Oktober 2019.

Ausnahmezustand in 12 Städten: neben der Hauptstadt Santiago wurde ebenfalls in Orten im Süden (Valparaíso, Concepción, Osorno, Temuco, Talca, Chillán, Valdivia, Punta Arenas) sowie Städten im Norden (Iquique, La Serena, Coquimbo) der Ausnahmezustand ausgerufen.

Bilanz seit dem 18. Oktober: rund 1.333 Festnahmen, darunter 778 in Regionen und 555 in der Hauptstadt Santiago, 88 Verletzte durch den Einsatz von Feuerwaffen, 22 Vorwürfe der Verletzung von Menschenrechten und 17 Tote. Dies sind die aktuellen Zahlen des Nationalen Instituts für Menschenrechte (Dunkelziffern variieren), das seit dem Ausbruch der Proteste und der massiven Gewaltausschreitungen bei Demonstrationen teilnimmt, um Verletzungen der Rechte der Zivilbevölkerung zu dokumentieren.

Ausnahmezustand, Ausgangsperre, Militärpatroullien auf den Straßen – doch von Anfang:

Vergangene Woche kündigte der Präsident der Republik, Sebastián Piñera, die Erhöhung der Fahrpreise der Metro um 30 Pesos in der Hauptstadt an- zur Rush Hour bedeutet dies eine Erhöhung von 800 auf 830 Pesos (ca. 1,05€ pro Fahrt). Zuerst mögen 30 Pesos vielleicht nicht nach viel klingen, doch wenn man bedenkt, dass das Gehalt von rund 70% der chilenischen Bevölkerung nicht einmal die 700€ Marke erreicht, sieht das bereits anders aus.

Die junge Generation, vor allem Schüler*innen und Studierende, antworteten auf die Erhöhung mit dem Aufruf zu sogenannten Evasiones Masivas, auf Deutsch „Massives Ausweichen“: systematisch mobilisierten sich vor allem junge Personen, um unter vorheriger Ankündigung auf sozialen Netzwerken mit Ort, Datum und Zeit, gruppenweise über die Schranken der Eingänge zur Metro zu springen, um nicht zu bezahlen. Dabei motivierten sie weitere Fahrgäste, es ihnen als Form des Protestes gleich zu tun. „Ich finde es gut, dass die jungen Menschen protestieren. Denn, statt die Löhne zu erhöhen, erhöhen sie (die Regierung) die Fahrtkosten“, sagt eine Frau im Interview. Eine Andere meint: „Auf die eine oder andere Art und Weise ist ihr (Schülerschaft und Studierende) Protest repräsentativ, weil sie auch für diejenigen protestieren, die keine Zeit haben, da sie arbeiten müssen.“
Als Reaktion auf die Evasiones Masivas wurden die Zugänge der Metro geschlossen- am hellichten Tage und ohne die Abriegelung vorher anzukündigen (tagtäglich bewegen sich rund 2,8 Millionen Bewohner*innen mit der U-Bahn). Ergebnis: Die Menschen mussten nach Hause laufen, versuchen, in einen völlig überfüllten Bus zu steigen, um stundenlang im Stau zu stehen oder ein Taxi bzw. colectivo zu nehmen, die aufgrund der Abschließung der Metro vollständig überlastet waren. Nicht nur das- die Menschen, die sich bereits in den U-Bahnstationen befanden, durften nicht mehr hinaus. Als Antwort verschafften sich die Protestierenden Zugang, indem sie so lange an den Gittern der Eingänge rüttelten, bis diese nachgaben.

Seit der Einweihung des Systems der öffentlichen Verkehrsmittel in 2007 (Red Metropolitana de Movilidad), ist der Preis um ein vielfaches gestiegen. Kostete eine Fahrt vor 12 Jahren noch 420 Pesos, so sollten nach der Erhöhung 830 Pesos berechnet werden. Zusätzlich: Während der Immobilienpreis in den letzten zehn Jahren um unglaubliche 150 % im Großraum Santiago gestiegen ist, stiegen die Löhne im selben Zeitraum lediglich um 25 %. Chile ist außerdem das Land mit den längsten Arbeitszeiten und der niedrigsten Produktivitätsrate. Beide, der Bildungs- und der Gesundheitssektor sind vollständig privatisiert, 11 Millionen Bewohner*innen der insgesamt knapp 18 Millionen Chilen*innen haben Schulden.

Auch nach der Rücknahme der Fahrpreiserhöhung aufgrund der massiven Proteste gehen diese weiter- Menschen versammeln sich trotz limitierten Versammlungsrechts aufgrund des ausgerufenen Ausnahmezustands zu Demonstrationen: Cacerolazos, Trommeln, Gesang und Parolen dröhnen durch die Straßen Chiles. (Cacerolazos ist eine Form des Protests, der in der Zeit vor Beginn der Diktatur Pinochets erstmals in Chile angewendet wurde: die Menschen schlugen mit Löffeln auf Töpfe, die sie in die Luft hielten, als ein Zeichen für Hunger und eine mangelnde Lebensmittelversorgung.)

Parallel zu diesen Protesten, nehmen die saqueos (Plünderungen) und die Brandstiftung zu. Busse, Autos, Bänke und Gebäude gehen in Flammen auf. Die Polizeikräfte und Militärs, die in großen Zahlen auf den Straßen patroullieren „um die Ordnung wiederherzustellen“, gehen mit massiver Gewalt gegen Protestierende vor. Zahlreiche Videos kursieren durch die sozialen Medien und klagen die extreme Gewaltanwendung an: man sieht Demonstrant*innen, die auf den Boden geworfen werden, denen die Beine mit Schlagstöckern gebrochen werden- aufgrund der Verwendung von Gummigeschossen verwundete Menschen, die stark blutend und mit schmerzverzerrten Gesicht auf dem Boden liegen. In einem weiteren Video sieht man einen kleinen Jungen mit stark blutender Nase, in einem anderen, wie der Fahrer eines Polizeiautos systematisch versucht, Demonstrant*innen zu überfahren. Das chilenische Institut für Menschenrechte berichtet von 22 Fällen, in denen Festgenommene klagten, Opfer von unangemessener Gewalt und Missbrauch geworden zu sein- Beleidigungen, Schläge, Foltervorwürfe und Frauen, die aussagten, zum Entkleiden gezwungen worden zu sein.

Santiago brennt. Von Norden bis in den tiefen Süden brennen Gebäude, werden Läden und Supermärkte ausgeraubt- die Bevölkerung protestiert weiter. Seit der Diktatur Pinochets ist es, mit Ausnahme der Ausrufung des Notstandes durch Michelle Bachelet aufgrund des Chaos nach der Naturkatastrophe des verheerenden Erdbebens in 2010, das erste Mal, dass der Notstand deklariert wird.

Es herrscht eine scheinbar nicht durchschaubare Situation: Orte, die in Gewalt und Zerstörung zu versinken scheinen und in der man nicht weiß, wer für die massive Brandstiftung und saqueos verantwortlich ist. Der Präsident Piñera macht dafür „das organisierte Verbrechen und Kriminelle„ verantwortlich. Unter der Zivilbevölkerung kursieren derweil Gerüchte, die Brandstiftung sei teilweise geplant gewesen- „es ist seltsam, dass die Brände der U-Bahnstationen alle drinnen angefangen haben- nicht von draußen verursacht worden sind“, sagt eine Bewohnerin. Andere Personen berichten, gesehen zu haben, wie die Polizei bei Plünderungen der Märkte mitgemacht habe, während Soldaten, vor Supermärkten stehend, tatenlos bei Plünderungen zugesehen haben sollen. „Es scheint, als wollten sie das Volk gegen sich selbst aufbringen“, sagt eine Frau.

Schon lange geht es bei den Protesten der Zivilbevölkerung nicht mehr um die 30 Pesos. Der Ausbruch der Proteste ist das Ergebnis jahrelanger Frustration, das Ergebnis des Ausbruchs einer kollektiven Wut über die schlechte sozialpolitische Situation Chiles.

“Wir haben es bereits kommen sehen: Santiago ist eine duale Stadt. Es gibt eine begrenzte Zone, in der die politische, journalistische und professionelle Elite wohnt, in der es keine sozialen Probleme gibt. Alles ist Wohlstand und die Straßen gleichen denen Miamis, nur ohne die Strände. Aber es gibt ein anderes, extrem weiträumiges Gebiet, in dem der Großteil der Hauptstadtbewohner lebt, dort, wo alle vom System produzierten Ungerechtigkeiten explodieren: Ungleichheit, die weite Entfernung zum Arbeitsplatz, die langen Arbeitszeiten, die niedrigen Löhne, die miserablen Pensionen, die schlechte soziale Gesundheitsversicherung und, selbstverständlich, die Erhöhung der Fahrpreise“, sagt Raúl Ruiz im Interview mit dem Radiosender der staatlichen Universität Universidad de Chile in Santiago. Der Präsident des Colegio de Profesores*, Mario Aguilar, kritisiert das Handeln des Präsidenten: „Die Handlungsweise der Regierung ist erbärmlich, denn sie versucht, Feuer mit Benzin zu löschen“.

Von Piñeras Äußerung vergangenen Sonntag, „er würde sich im Krieg gegen einen mächtigen Feind befinden“, distanzierte sich der am Samstag zum Chef der Nationalen Verteidigung ernannte Javier Iturriaga kurz darauf: „Yo no estoy en guerra“, sagte er- „Ich befinde mich nicht im Krieg“.

An Schulen sowie Universitäten in zahlreichen Kommunen wurde derweilen der Unterricht eingestellt, Läden schließen früher oder verbleiben geschlossen, Fakultäten, Professionelle und die Regierungsopposition fordern einen Dialog. Aktuell wurde lediglich das „Staatsicherheitsgesetz“ verabschiedet (Ley de Seguridad de Estado), dass das juristische Vorgehen gegen die Schuldigen für die Zerstörung der urbanen Strukturen festlegt.

Weltweit, auch hier in Berlin, mobilisieren sich Chilen*innen, um ihre Solidarität auszudrücken. Die Proteste der Zivilbevölkerung in Chile halten an; der Notstand darf für 15 Tage ausgerufen werden und, sollte es für notwendig gehalten werden, um weitere 15 Tage verlängert werden. Für Mittwoch und Donnerstag dieser Woche, den 23. bis 24. Oktober, wurde ein nationaler Generalstreik angekündigt.

 

*Colegio de Profesores ist eine im Jahr 1974 gegründete chilenische Vereinigung der Lehrkäfte aller Bildungsinstitutionen.

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kommentare

  • Sehr kompetenter Bericht. Gute beleuchtung der Hinetrgründe. man könnte noch anfügen das der finanzille Druck auf unter und mittelklasse immer weiter zunahm in den letzten jahren durch „Reformen“ des Rentensystems, Steuerhöhungen für unten und Steuererleichterungen für oben.

    Leider zeigen die Nachrichten die ihr in Deutschland seht wie die Fersehnachrichten in Chile zeigen nicht die ganze Wahrheit. Tatsächlich führt die Regierung auch wennd er General es verneint im Moment Krieg gegen die Bevölkerung. Ausnahmezustand, Militär im Einsatz gegen Demonstrationen. Nicht gegen Plünderer wie sei es darstellen. Wir haben heute in Videos eine Gruppe von 5 Polizisten gesehen mit einem Gefangenen , lassen ihn los, befehlen lauf, lauf und wenn er 5 Meter weg ist schießen drei der Polizisten, man sieht nicht ob er getroffen wird.
    Ein fahrendes Polizeiauto wirft einen Gefangenen aus der Hintertür auf die Straße, 4 Polizisten kommen aus dem Off, Schüsse, dann kontrolliert einer der Polizisten ob die Person noch lebt.
    Eine Ecke, mehrere gefesselte Menschen auf dem Boden, zwei Polzisten bringen einen Gefangenen, Polizisten stürzen sich auf ihn und knüppeln volle Kanne, bis der nächste angeschleppt wird, dann passiert das gleiche mit ihm.
    Vieles mehr der Art.
    In unserer Stadt wurden zwei Zivilpolizisten gefilmt wie sie Barrikaden bauen und anzünden.
    Ganz sicher nutzen ein paar Kriminelle die Situation zum rauben und Plündern, man kann aber getrost davon ausgehen das ein guter Teil der Brände und Plünderungen direkt vom Militär bzw der polizei veranstaltet werden , auch wenn das für euch in Deutschland sich unglaubwürdig anhört.
    Die Filme sind auf Facebook aber verschwinden wieder und tauchen dann neu auf..
    https://www.facebook.com/watch/?v=1935556176590114&external_log_id=1a73231a3d5c8392e29d6c29adda14b6&q=oposicion%20a%20pi%C3%B1era
    https://www.facebook.com/katy.plaza.376

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