vonLeisz Shernhart 24.01.2022

Poetik des Postfaktischen

Zu viel Form für zu wenig Inhalt: Zur Rolle des Kulturschaffenden in der postfaktischen Gesellschaft. Betrachtungen ohne abschließende Bewertung.

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Nun begab es sich aber wie nahezu alljährlich am ersten Sonnabend des Monats Mai, dass der Kulturreferent zu G. anlässlich der nahenden ersten Strahlen der Frühlingssonne einen Ball zu Ehren des alten Brauchtums veranstaltete. Wie jedes Jahr war geladen, wer ausreichend Rang und Namen auf sich vereinnahmte. Wie üblich befand sich unter den Gästen der Künstler, von dem man sich versprach, dass er durch einige Kuriositäten zur allgemeinen Beheiterung der Gesellschaft beitragen dürfte. Etwas abseitsstehend begutachtete er mit dienstlicher Distanz aus einiger Entfernung das Geschehen. Verstohlen bewunderte er dabei hauptsächlich die Welt, die schönst mögliche unter allen anderen, die neben einem solchen Übermaß an üppiger Schönheit und makelloser Eleganz zwangsläufig verblassen mussten. Wie hypnotisiert war der Künstler von dieser Inszenierung. Schönes schwarzes Haar lockte sich auf nicht unnatürliche Weise über ihrer glatten lebensfarbenen Stirn. Strahlend weiße wohl geformte Zähne blitzten auf unter einem leuchtenden prachtvollen Lippenkorall. Mit gierigen Blicken nahm der Künstler die Feinheit der Welt, der anmutigsten aller weiblichen Erscheinungen, wahr. Er atmete die Kleinheit ihrer Hände, die Zartheit ihrer Züge, die Einzigartigkeit, mit der sie sich zum Takt der Musik zu bewegen verstand. Derart gebannt entging es ihm zu seinem Unvorteil, wie seine tranceartige Betrachtung der Schönheit der Welt vom Rest der Veranstaltung unschwer unbemerkt bleiben konnte. Man begann bereits zu gackern und die ersten Kecken sahen sich um. Schließlich begab es sich, dass die Musik verstummte und die Welt ihn empört anrief, in sicherer Absicht, den kauzigen Künstler gehörig vor allen Anwesenden zu kompromittieren. Denn einzig und allein dieses war sein Zweck für die Welt. Das Philistervolk verstummt. Alle Augen auf den Künstler. Dieser errötet und seine Augen sagen: „Wie wäre es wohl, wenn wir ein Tänzchen wagten“?

 Was bilde er sich wohl eigentlich ein? Wie könne er sie nur so anmaßend auffällig anstarren, will die Welt vom Künstler wissen. Wie ungeniert das sei!  Förmlich entkleide er sie mit seinen Augen. Was falle ihm eigentlich ein? So etwas gehöre sich schließlich nicht. Schon gar nicht in solchen Kreisen! Wo sei er denn aufgewachsen? Das habe man nun davon, wenn man sich mit seinesgleichen gemein mache. Usw.

 Wenn es denn tatsächlich so gewesen sei, was er nicht sehr vehement bestreiten wolle, so sei es doch, wenn überhaupt, dann ausschließlich geschehen, da sie, die Welt, wohl wahrhaftig mit einigem Abstand das Schönste sei, was der Künstler jemals wahrzunehmen gewagt habe. Dies war die Replik des Künstlers, bevor er des Saales verwiesen wurde, gänzlich ohne Protest. Wie zu erwarten war, verließ die Welt den Ball indessen mit einem Gimpel…

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