vonLeisz Shernhart 06.10.2021

Poetik des Postfaktischen

Zu viel Form für zu wenig Inhalt: Zur Rolle des Kulturschaffenden in der postfaktischen Gesellschaft. Betrachtungen ohne abschließende Bewertung.

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Wie hat man sich den Kulturschaffenden vor postfaktischer Kulisse konkret vorzustellen? Wie sieht er aus, der natürliche Fressfeind des Zugvogels? Wer ist er, der Schwärmer, der Dränger, der Bilderstürmer bourgeoiser Ikonographie, der sich selbstverliebt in seinen Traktaten suhlt?

Man sagt, er trage eine flache Schirmmütze, deren barettähnliches Oberteil nach vorne über einen meist flexibel durchnähten Schirm rage. Eine dieser Mützen, die sich zusammengelegt in der Tasche transportieren ließen.  Über die viel zu hohe Stirn getragen, verleihe sie ihm das Antlitz eines Vorarbeiters, würdevoll und weinerlich. Die Mütze sehe abgetragen aus. Augenscheinlich befinde sie sich bereits einige Jahre in seinem Besitz. Einen Hut könne er sich wohl nicht leisten. Passend zum Schuhwerk, ziere ein kariertes Flickenmuster die rechte Flanke über dem Ohr. Bei diesem Modell sei der Augenschutz durch einen speziellen Kälteschutz im Nacken und um die Ohren ergänzt. Wüsste man es nicht besser, könnte man die Kopfbedeckung ohne Weiteres für Jagd- oder Sportbekleidung halten. Angesichts des übrigen Erscheinungsbilds jedoch liege die Vermutung nahe, dass es sich wohl eher um eine Art Berufsbekleidung handeln könnte. Würdevoll bewege er sich in Richtung Gebetsnische. Er rezitiere einige Verse, während die übrigen Beter gebannt seinen Verbeugungen und Niederwerfungen folgen. Wenngleich er kein ausgebildeter Gelehrter zu sein scheint, beherrsche er doch den Ritus des Vortrags perfekt. Ob er seine Funktion nur einmalig oder amtsmäßig ausführe, bleibe unklar. Sicher sei nur, dass er ein geheimes Wissen und Verständnis der Wahrheit sowie eine exklusive Autorität in deren Interpretation zu besitzen scheine. Er sei der perfekte, einzige, unfehlbare Interpret und Richtungsweisende zur wahren Utopie.

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