vonDilek Zaptcioglu 22.08.2010

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Istanbul im August 2010: 

Nach einer sehr langen Hitzewelle kehrt mit dem starken Poyraz-Wind aus Nord-Ost das Leben in die Stadt zurück. Es regnet. Die Tanker und Containerschiffe parken vor der Bosporuseinfahrt, bis der Sturm vorbeizieht. Der Himmel bietet die schönsten Wolkenkulissen, die Bäume biegen sich, die Wellen schlagen übers Ufer und bespritzen die Stühle der Kaffeehäuser am Kai von Büyükada, unserer Insel. Es riecht nach Meer. Wir können endlich wieder atmen.

Am 1. September endet wieder einmal das sommerliche Fischereiverbot, das verhängt wird, um die natürlichen Lebenszyklen zu schonen. Bald werden die ersten Thunfische des Mittelmeer, die Palamut, aus dem Bosporus geholt und auf den Grill gelegt. Dazu ein Glas Bier, Raki, Wein. Der Staatliche Rundfunkrat RTÜK “benebelt” nun nach den Glimmstengeln auf dem Bildschirm auch alle Alkoholgläser und -flaschen, das heißt, er schreibt vor, daß diese Bildstellen vom Produzenten milchig unsichtbar macht und zensiert werden.

Es sieht wirklich interessant aus, wenn eine Frau oder ein Mann statt der linken Hand eine milchige Fläche aufweisen, aus der Rauch emporsteigt und statt der rechten eine zweite milchige Fläche, der natürlich kein Anason(Anis)geruch entweicht, an der aber regelmäßig genippt wird.    

Irgendeinmal in vielleicht gar nicht so ferner Zukunft werden sich die Istanbuler Zuschauer fragen, wie raki eigentlich roch und wie Zigaretten schmeckten. “Was”, werden die Alten sagen, “habt ihr in eurem Leben nicht einmal Wasserpfeife geraucht?” – “Nein, sie wurde verboten, als wir fünf Jahre alt waren.” – “Und hat euer Vater sich nicht heimlich im Keller einen Schnaps genehmigt?” – “Nein, da gab es schon diese Anis-Detektoren, die die Stadtverwaltung jedem Haushalt vorschrieb, ohne die man die Wohnung hat gar nicht mehr mieten können.”

Was passiert, wenn keiner mehr sündigen kann? Wenn alle Möglichkeiten zu sündigen abgeschafft sind. Ein absolut sündenfreies Leben, für jeden und jede. Das Paradies völlig – nein, hoffnungslos – überfüllt. Die Hölle, absolut leer. Ist das der Zweck? Was ist das? Fanatismus? Glaube? Recht? Unrecht? Oder einfach nur der blanke Wahnsinn?

Säkular ohne militant atheistisch zu sein, internationalistisch und unverbesserlich links. Ganz im Sinne Blochs, hoffend, immer noch und bis zum bitteren Ende hoffend. Vielleicht sogar etwas mutig. So geht dieser Blog nun nach einer langen Pause weiter, weil es viel zu schreiben gibt.

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