Die Enthüllungen von Wikileaks mögen in vielen Punkten das bestätigen, was informierte LeserInnen längst gewußt – oder zumindest geahnt – haben. Doch in den USA haben sie gereicht, um wütendes, grobes Jagdgeheul auszulösen, das jetzt quer durch das Land hallt.
Eine offenbar nur hauchdünne Schicht von Zivilisation ist weg geplatzt. An ihrer Stelle liegen Rachegelüste bloß. Es ist, als würden die Scheiterhaufen bereits lodern.
Die Kommentare reichen von: warum verfolgen wir den „antiamerikanischen Agenten mit Blut an den Händen (gemeint ist Julian Assange)“ nicht wie die Führer von Al Kaida?“ (die mutmaßliche künftige Präsidentschaftskandidatin Sarah Palin), über: „ich bin gegen die Todesstrafe: man sollte den Hurensohn illegal erschiessen“ (Bob Beckel, einst Vize-Staatssekretär unter dem demokratischen Präsidenten Jimmy Carter) , über: „wenn unsere Gesetze kein hartes Durchgreifen gegen den High-Tech-Terroristen erlauben, müssen wir eben neue Gesetze machen“ (der Chef der RepublikanerInnen im Senat, Mitch McDonnell) bis hin zu: „wir müssen die US-Medien zensieren, die es veröffentlicht haben“ (der neu in den Kongress gewählte Tea-Partier Allen West aus Florida ).
Das Fernsehen bringt das Jagdgeheul ohne Distanz und im O-Ton. Fox-Nex überblendet das Stichwort „Hurensohn“ mit dem in den US-Medien für unanständige Worte vorgesehenen Pfeifton, aber den Mordaufruf darf Beckel ungehindert in die Welt hinausposaunen. Inklusive dem Vorschlag, wer die Exekution erledigen sollte: Die Special Forces, „die machen das schließlich jede Nacht in Afghanistan mit den Feinden der Vereinigten Staaten“. Beckel: „Dieser Mann ist ein Feind der Vereinigten Staaten“. Und als der frisch gewählte Abgeordnete aus Florida in einem Radiosender die Meinungsfreiheit attackiert, widerspricht ihm niemand. KeinE JournalistIn erinnert an die Verfassung, die Tea Partier sonst wie eine Bibel benutzen.
An der patriotischen Front kämpfen auch große US-Unternehmen (wie Master Card und Visa, die die Zusammenarbeit mit Wikileaks eingestellt haben), sowie Universitäten (wie Columbia, wo die StudentInnen den inzwischen zurückgenommenen Rat erhielten, gar nicht erst über Wikileaks zu diskutieren) mit Zensur und Verboten. Die US-Airforce blockiert den Zugang zu mindestens 25 Webseiten, darunter Zeitungen wie die New York Times. Und die Behörde für internationale Zusammenarbeit, USAID, hat ein Rundschreiben an Tausende von Beschäftigten geschickt und sie aufgefordert, keine Informationen bei Wikileaks einzuholen: weder mit ihren Dienstcomputern, noch zuhause auf ihren privaten Computern.
Auch JournalistInnen beteiligen sich in vorauseilendem Gehorsam. Heute war das Nachrichtenmagazin Time an der Reihe. Anstatt Julian Assange zur „Person des Jahres“ zu machen, wie es knapp 400.000 InternautInnen gewollt hatten, optierte das Magazin für Mark Zuckerberg (18.000 Clicks) . Das letzte Wort hatte der Chefredakteur. Er optierte für den netten 26jährigen Geschäftsmann, der Facebook gegründet hat und in diesem Jahr auch schon der Held eines Kinofilms ist, statt für den „ausländischen High-Tech-Terroristen und -Verräter“ (O-Ton McDonnell).
Während Assange weit weg von den USA auf der britischen Insel sitzt, bekommt ein anderer junger Mann die Rache der Supermacht bereits seit sieben Monaten rund um die Uhr am eigenen Leib zu spüren. Bradley Manning, der 22jährige US-Soldat, der beschuldigt wird, die geheimen Informationen an Wikileaks weitergegeben zu haben, sitzt in Isolierhaft auf der Marine Corps Basis von Quantico in Virginia. Der Journalist Glenn Greenwald beschreibt die Haftbedingungen von Manning in dem Online-Medium Salon (23 Stunden täglich in der Zelle, kein Kontakt, kein Bettuch, kein Kissen) als: „grausam, unmenschlich und nach den Kriterien vieler Nationen sogar Folter“.