Ich bitte meine Leser um Verständnis. Zum einen, daß ich noch nicht über Indien berichte. Ich schreibe darüber ein Buch und muß mich in der Anfangsphase darauf konzentrieren. Zum anderen, daß ich trotzdem blogge. Es ist leider außerplanmäßig nötig geworden, weil die Regietheaterdebatte am Wochenende so sehr hochkochte, daß mir sogar Rainald Goetz einen offenen Brief geschickt hat, auf den ich nun – Indien hin oder her – eingehen muß (im Taj Mahal Hotel Mumbay nicht schwer).
Warum MUSS? Habe ich zu dem Thema nicht schon viel zuviel gesagt? Nun, nicht zu Kehlmann selbst und seiner Rede. Das Gemeinsame zu ihm ist die persönliche, familiäre Einbindung in das Thema (heute würde man sagen ‚Betroffenheit‘). Er spricht von seinem Vater, der ein werktreuer Theaterregisseur gewesen ist. Durch ihn hat der junge Daniel Kehlmann noch einmal das erlebt, was seine Generation praktisch nicht mehr kennt, was es aber vorher Jahrhunderte lang gegeben hat, nämlich Theateraufführungen. Also das glaubwürdige Vorführen eines anderen Lebens, so ‚echt‘ wie möglich, sodaß das Publikum mitgeht, mitfiebert, mitleidet, und erfüllt (‚gereinigt‘, inspiriert) das Theater wieder verläßt. So etwas gab es einmal, und wer es gekannt und geliebt hat, wird es ebenso verteidigen wollen wie Opernfreunde die Oper. Es war wie ein richtig guter Kinofilm, nur besser und intensiver. Die Erregung, in die man geriet, und zwar dadurch, daß echte Menschen vor einem standen und keine Zelluloidprojektionen, ist heute nicht mehr wiederzugeben. Man konnte es nicht erwarten herauszukriegen, wie es ausging mit den Protagonisten und saß auf der vordersten Stuhlkante. Ja, es war sogar oft unmöglich, bei einer gelungenen Inszenierung die Tränen zurückzuhalten. Ich weiß, wie unmöglich und daneben das heute klingt. Auch Kehlmann wußte das, und gerade deswegen kann ich seinen Mut, seinem Vater zuliebe diese Rede zu schreiben, nur bewundern. Prompt wurden diese auf den Vater bezogenen Teile als weinerliches Gewinsel bespottet. Wenn jetzt auch noch ich komme und erzähle, daß meine Mutter Theaterkritikerin war, wird das Buhai groß sein.
Aber ich bin Schriftsteller. Kann etwas, was man ganz intensiv selbst mit Haut und Haaren erlebt hat, reaktionär sein und zu schreiben unerlaubt? Darf man nicht alles sagen, was man erlebt hat? Und ich habe es nun einmal erlebt, als junger Mensch. Ich saß bei jedem Strindberg, Ibsen, Tschechow, Horvath, Lessing, Hauptmann in der sichtbehinderten Proszeniumsloge für zwei Mark, den Hals verrenkt aber ganz nah am Geschehen, und verfolgte hingerissen das Schicksal der agierenden Personen. Natürlich verliebte ich mich unsterblich in jede zweite Hauptdarstellerin und stürmte nicht selten mit Blumen und rotem Kopf in den Bühneneingang. Ich sage das nur, um zu bebildern, wie stark die innere Anteilnahme gewesen ist, und wie ganz und gar undenkbar so ein Gefühl heute wäre, bei einem ‚Theater‘, das nicht mehr die Illusion von Echtheit nutzt, um dramatische Lebensläufe und –konflikte zu erzählen. Sondern das von vornherein etwas ganz anderes will. Etwas, das mit Theater nichts zu tun hat, sondern eher mit concept art. Jedenfalls – der Verlust war groß, als das Theater verschwand. Viele, viele Generationen hatten durch das Theater ihre Kultur, ihre wertvollsten Regungen ausgebildet. Der Resonanzraum dieses unvergleichlichen Bereichs klingt bis tief in die Jahrtausende, selbst bei Kehlmanns verzweifelten Erinnerungen an seine Kindheit spürt man noch etwas davon. Dies alles ist in den Orkus gegangen, ist aufgelöst worden. Wer heute ins Theater geht, kriegt: nichts. Ich prüfe es immer wieder nach, und bin immer wieder verblüfft, das es so gekommen ist.
Meine Mutter hat bis eine Woche vor ihrem Tod ihre Texte über das Theater geschrieben. Sie war alles andere als eine profilierte Kritikerin des Regietheaters. Sie wollte sich ja nicht die Finger verbrennen. Aber ich erinnere die Enttäuschung, die sie, von Jahr zu Jahr mehr, bei den Vorführungen erlebte. Ihre Verunsicherung, Ratlosigkeit. Diese zunehmende Geknicktheit, mit der sie aus den absurd-öden Quälveranstaltungen der deutschen Häuser kam. Kehlmanns Vater ist schließlich daran gestorben. Und auch sie lebte noch, hätte es weiter das Theater gegeben. Oder hätte sie das Geld gehabt, jedes Wochenende nach London zu fliegen und richtige Stücke zu sehen, zum Beispiel Jeremy Irons in Arcadia letzte Woche…
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