Anläßlich der aktuellen Debatte um die Rede Daniel Kehlmanns gegen das Regietheater (siehe morgige taz, Meinungsseite) kann es nicht schaden, den berühmten SPIEGEL-Artikel über selbiges Thema, auf den Kehlmann sich in seiner Rede beruft, noch einmal im Original zu lesen. Ich selbst war dabei erstaunt, daß es sich auch um ein heimliches Portrait, ja eine Liebeserklärung an den geächteten Großkritiker Stadelmaier (FAZ) handelte. Auch er steht heute erneut im Fokus des wiederentfachten Skandals. Lest nun selbst, liebe Blogger- und Theaterfreunde:
„Wer hat Recht: Stadelmaier oder das moderne Regietheater?
Ein Selbstversuch von SPIEGEL-Autor Joachim Lottmann
DÜSSELDORF, SCHAUSPIELHAUS
Draußen lungern diese seltsamen jungen Schüler herum, diese Art mit der Leseschwäche, aus der „die Milch macht’s“-Werbung. Sie kicken mit Bierdosen, spielen sich Handytöne vor, gucken unsicher und kalbsköpfig. Innen dann aber wieder zu hunderten jene Frauen, die ich zuletzt vor 20 Jahren in Hamburg als Helga Schuchardt identifizierte. Bloß gut, daß ich zwei Sitze habe. Zwei erstaunlich unbequeme Holzsitze, dünn überspannt mit Samt. Jemand von links liest alles mit, was ich in meinen gefährlichen Stadelmaier-Spiralblock schreibe. Genau so einen hat er gehabt, von der hochpreisigen Markenfirma ‚Comfort‘, ich habe ihn mir zeigen lassen. Lappig, biegsam, trotzdem unhandlich, und an der Seite die berüchtigte geringelte Stahlfeder, mit der man sich so leicht verletzen kann (wenn man um das Blöckchen kämpft). Eine gute Woche schon ist der Zwischenfall her, und noch immer bebt die Theaterwelt, ja das Beben nimmt noch zu. Wie bei den Mohammed-Karikaturen braucht die Empörung ihre Zeit, bis sie zum vernichtenden Sturm wird.
Was ist das für ein Theater, das unseren letzten lebenden Großkritiker Dr. Gerhard Stadelmaier körperlich angegriffen hat und das von der Bild Zeitung als versaut bezeichnet wird? Da das Wort ‚Schmuddeltheater‘ von derselben Zeitung schon vor zehn, 20, 30 Jahren verwendet wurde und somit nicht mehr trennscharf ist, mußte ich mir selbst ein Bild vor Ort machen. Als erstes Shakespeares ‚Macbeth‘ in Düsseldorf, von Gosch, das auch zum Theatertreffen in Berlin eingeladen wurde.
MACBETH UND DAS SCHMUDDELTHEATER
Es ist Ekeltheater von Anfang an. Die minderjährigen Kalbsköpfe haben sich noch nicht richtig hingesetzt, als ihnen schon meterhoch die Scheiße entgegenspritzt. Was mag in ihnen nun vorgehen? Der Lehrer hat ihnen etwas anderes versprochen. Auch die Mädchen hatten eigentlich Shakespeare erwartet. Nun sehen sie Blut und Schlimmeres. Aber sie kotzen nicht, das tun ja schon die Schauspieler.
Von der ersten Sekunde an stehen alle Schauspieler nackt auf der Bühne. Nur der König trägt etwas, nämlich eine verrutschte Papierkrone auf dem Kopf, damit man ihn erkennen kann. Der Zuschauerraum ist hell ausgeleuchtet, damit niemand unbemerkt fliehen kann. Die Pause fällt aus, aus demselben Grund. Gäbe es eine, wäre anschließend das Haus leer – bestimmt hat man das schon oft ausprobiert.
Quälendes Nichtstun wechselt sich ab mit kreischender action. Schwule ficken minutenlang miteinander, und dann gleich nochmal, weil’s so schön war, jeder geht jedem an die Hose, alles ist Karneval. Dieses Anfassen, aggressive Anpatschen, wir kennen es aus der Bierwerbung („Kumpels“). Marlon Brando und Lee Strasberg haben mit dieser unnatürlichen ‚Natürlichkeit‘ angefangen, Bhagwan hat es zur heutigen Reife gebracht. Soviel pisswarme Körperlichkeit gibt es im wahren Leben nicht einmal unter der Gemeinschaftsdusche des FC Bayern nach dem Champions-League-Sieg.
Müll, Scheiße, Papierfetzen, totaler Dreck liegt auf der Bühne, und alle Akteure sind Proleten, keinesfalls Adlige. Nach einer Stunde bildet sich ein dünner Schweißfilm auf meiner Gesichtshaut. Ich gehe mit dem Taschentuch drüber, aber er bildet sich immer wieder neu, was ich mir gar nicht erklären kann, denn es ist kalt. Meine oberen Nackenwirbel und die Schulterblätter verspannen, dass es mir bewußt weh tut. Ich verstehe nichts von Theater, aber mein Körper lügt nicht. Ich will wissen, wie es ist. Ich will die Wahrheit rauskriegen.
Bei einem Stück von über drei Stunden Länge ist die fehlende Pause mehr als nur eine Frechheit. Um das dem mehrheitlich uralten und blasenschwachen Publikum aufzuzwingen, braucht man schon kriminelle Energie. Von da aus ist es nicht mehr weit, dem letzten deutschen Großkritiker mitten in der Vorstellung das Blöckchen zu entreißen und mit derben Worten wie „Verpiß dich, du Arsch!“ einzuschüchtern.
Aber der westliche Mensch ist liberal. Gott sei Dank. Er relativiert gern. Könnte nicht auch die andere Seite recht haben? Mußte Stadelmaier unbedingt ein Blöckchen mitbringen? Hätte er seine Eindrücke nicht auch nach der Vorstellung aufschreiben können? Hätte er nicht weiter hinten und unbemerkt sitzen können? Und überhaupt: Warum kritisierte er soviel? Und tat er es zu recht? Während ich darüber meditiere, wird minutenlang auf der Bühne gepinkelt. Erst der eine, dann der andere, dann noch einer, dann furzen sie (Tonband aus dem Off), dann scheißen sie einen halben Akt lang, und so weiter. Im Publikum ist nun echtes Unbehagen. Kopfschütteln, Frauen verziehen das Gesicht. Einer Schülerin ist schlecht, sie will raus. Auch andere wollen raus, trotz der gnadenlosen Scheinwerfer. Ein Rinnsal von Flüchtenden bildet sich, Vertriebene aus dem Theaterland, Alte, Gebrechliche, Enttäuschte, manche weinen. Etwa ein Drittel des zahlenden Publikums verläßt das Haus in den ersten zwei Stunden, trotz der Schikane. Der Regisseur sieht es mit sardonischem Lächeln. Für ihn ist das Publikum Verfügungsmasse,Teil seiner Inszenierung, Teil seiner Pläne. Das Publikum hat zu parieren, hat entsetzt zu sein, hat den Schock zu dokumentieren. Und den letzten Kritiker beißen die Hunde, so soll es sein. Der heutige Rgie-Guru verachtet sogar seine Schauspieler. Sie sollen nichts mehr ‚können‘, sondern biegsam sein. Das sagt jedenfalls der nämliche Dr. Gerhard Stadelmaier, als ich ihn in seinem Büro bei der F.A.Z. in Frankfurt treffe.
DER GROßKRITIKER IN SEINER BURG
Sein Raum besteht fast nur aus Büchern, manche hat der gutaussehende Herr selbst geschrieben. Buschige dunkle Augenbrauen, ein bohrender, aufmerksamer, bald freundlicher Blick. Ein atypisch aussehender Kritiker, nicht klein und bebrillt, sondern wuchtig, kolossal, ernstzunehmen. Der ist auf dem Pausenhof nie verprügelt worden, der mußte sich nicht in die Bücher flüchten, vor dem hatte selbst der Lehrer Angst. Schon als Teenager die ersten Theaterkritiken, brilliant natürlich, und wenige Jahre später die Dissertation nachgeschoben, eine bahnbrechende Spezialarbeit über Theater. Da wurde der große Hensel auf ihn aufmerksam, kurz darauf Marcel Reich-Ranicki. Ich nehme mein Herz in die Hände und frage ihn etwas.
„Herr Stadelmaier, ich will mir nun selbst ein Bild über das moderne Regietheater machen. Wie konnte dieser lächerliche Happening-Stil aus den 70ern so lange überleben?“
„Dieses Phänomen gibt es nur in Deutschland, wegen der Subventionen, und es wird auch verschwinden. Das Publikum wird wegbleiben.“
Wird? Ist es nicht längst weg. Wer geht heute noch ins Theater? Ich nicht. Es gibt kein Theater mehr. Ich frage, warum ER noch immer hingeht. Sich das antut. Seit 15 Jahren schon leidet er darunter, hört man doch.
Er ignoriert die Frage, ganz Pflichtmensch alter Schule, spricht ein paar Minuten über seine Kinder, denen er SEIN Theater in Erzählungen und sogar Kinderbüchern nahegebracht hat. Seine Kohleaugen glühen, und ich spüre, was ihn noch aufrecht hält.
Dann redet er vom ‚Rübenrauschtheater‘: Alles, was dem Regisseur während der Proben durch die Rübe rauscht, wird umgesetzt. Ohne daß es durch den Text überprüft werden könnte. Es handelt sich folglich um völlige Beliebigkeit. So beliebig wie das Zeug, daß Menschen normalerweise nachts träumen.
„Genau, deswegen langweilt es immer so, wenn einem die Freundin ihre Träume erzählt beim Frühstück!“, sage ich begeistert.
Nun kommt er doch noch so richtig in Fahrt. Je erhabener und schöner eine Textstelle sei, desto größer sei heute die Neigung, sie zu unterspielen, sie klein zu machen. Die Schönheit und Ferne sei ihnen peinlich. Da lege man dann sofort ein Wurstbrot und ein Kondom daneben. Er richtet sich auf:
„Dieses Blut-und-Hoden-Theater will immer offene Hosentüren einrennen mit blutendem Arsch und gezogenem Penis. Die kippen das über den Text wie eine szenische Soße. Die Dramen werden gar nicht mehr entfaltet. Das ist das reaktionärste Theater überhaupt. Erwartbar, beliebig, einfach nur so.“
Die Nachwuchsautoren schrieben auch keine Stücke mehr. Denn die würden ja doch im Reißwolf der Regie-Phantasie verhackstückt. Sie lieferten konsequenterweise nur noch monologische Textflächen ab, das so genannte und beliebte ‚Material‘.
Dann wird es richtig heikel, und das soll ich auch nicht schreiben. Über die Regie-Stars, ihre ‚eigenen‘ Schauspieler, die sie überallhin mitnähmen, ihre ‚eigenen‘ Journalisten, Seilschaften, Medienfunktionäre…
DEKONSTRUIERTER GOETHE
Nächster Versuch: Goethes ‚Egmont‘ in der Goethestadt Frankfurt. Das dortige Theater hat die Sprachverhunzung schon im Namen, wie ein Programm: ’schauspielfrankfurt‘, kleingeschrieben und zusammen. Da ahnt man die offene Bühne, das Weglassen der Pause, den Verzicht auf Kostüme und Bühnenbild schon beim Kauf der Karte. Tradition? Bäh! Vergangenheit? Niemals! Historisches Bewußtsein? Verpiß dich, du Arsch!
Von außen sieht das Haus aber wunderschön aus, elegant, mit absolutem Stilempfinden erdacht und realisiert. Dieses zukunftsfrohe Leuchten und Glitzern der echten Moderne, die noch keine Postmoderne ahnte. Glas, Stahl, ein langgezogenes Gleichgewicht aller Formen und Proportionen. Von diesem Tempel inmitten der Stadt wird der Theaterbesucher bestimmt angezogen. Und umso schrecklicher enttäuscht.
Denn wieder sehe ich diese ganz und gar selbstgeschnitzten Blödmannszenen, dieses Punk- und Rock-Zeug, alles vom Regisseur geschrieben, von Goethe nur die Stichworte, das sogenannte ‚Material‘. Jeder blöde Regie- und Probeneinfall wird intuitiv und nicht überprüfbar umgesetzt, genau wie Stadelmaier es gesagt hatte. Männer- und Frauenrollen werden zusammengefaßt, oder Männer von Frauen gespielt oder Frauen von Tunten, oder das Klärchen von von einer Hure in Sex-Pistols-Klamotten, oder der Egmont von einem, der wie Campino aussieht. IST es Campino? Er soll ja inzwischen Theater spielen. IST es Egmont, oder ist das der andere Schauspieler, der Penner mit den Plastiktüten, der Minuten später als spanischer Konquistador hereinstelzt?
Der Regisseur hat das Wort ‚Vaterland‘ im Goethe-Text entdeckt. Hey, Mann, ‚Vaterland‘! Das heißt natürlich: Pflichtprogramm. Nämlich 35 Minuten lang ‚patriotische‘ Stellen von allen deutschen Klassikern und Nichtklassikern ins Publikum schreien. Die circa 40 Schauspieler bilden einen Chor und brüllen los. Am deutschen Wesen soll die Welt genesen oder so ähnlich. Deutsch sein heißt eine Sache um ihrer selbst Willen zu tun, und so weiter. Brüll! Kreisch! Donner, schepper! Mein lieber Herr Gesangsverein, heil Hitler aber auch, denke ich. Da hat der Regisseur den verlogenen Goethe mal wieder so richtig schön ‚dekonstruiert‘. Als latenten Nazi? Den Geheimrat, echt? All die häßlichen deutschtümelnden Sätze waren doch von anderen. In mir wachsen Zweifel. Aber ich will unvoreingenommen bleiben.
DAS KRITIKERBLÖCKCHEN IM EINSATZ
Daß auch wieder ‚die Sau rausgelassen‘ wird, interessiert mich nun kaum noch. Ich nehme es, ehrlich gesagt, gar nicht mehr wahr. Der Schock hat sich durch den Macbeth am Vorabend verbraucht. Nachdem ich sechs alten nackten Männern beim Kacken auf dem Donnerbalken zugeschaut habe, endlos lange und im Dienste Shakespeares, kann mich jetzt das wilde Ficken des Campino-Lookalikes mit dem Punk-Klärchen im nassen Schlamm nicht mehr erreichen. Ich langweile mich. Ich spüre meine Wirbelsäule, vor allem die mittleren Wirbel. Das Klärchen zieht sich aus, der Egmont zieht sich aus, aber Klärchen ist häßlich und Egmont ein Mann. Einmal las ich, daß sich im Theater immer die Falsche auszieht. Und tatsächlich: die wunderbare Georgia Stahl, phantastisch gebaut und einziger Lichtblick der Aufführung, zieht sich NICHT aus. Als wenn ich es nicht geahnt hätte! Maßlose Wut steigt in mir auf. Ich möchte lauthals „Schiebung!“ rufen, wie beim nicht gegebenen Elfmeter im Fußballstadion.
Mich wundert, daß auch andere Schauspieler angezogen bleiben. Und warum ißt Wilhelm von Oranien einen Yoghurt von Ehrmanns? Und wozu die ewigen laut-leise-Kontraste? Wieso wird immer nur geflüstert oder geschrien? Warum stecken die Beine vom Prinz von Gaure in einem Teddysack? Er köpft ein Beck’s Bier und liest die Produktangaben; gut, das verstehe ich noch, das hätte Goethe auch so gemacht, lebte er noch. Aber wozu muß er Philipp II mit einem Klebeband vom Baumarkt zutapen, und die Kalashnikov fällt aus dem Koffer, und Pink Floyd spielt dazu, und die Mutter ist jünger als die Tochter, und ein Eimer kracht von der Decke und ein gewaltiger Knallkörper explodiert dabei in seinem Innern, und einer brüllt „Halt doch endlich einmal dein Maul!“ – oder war das schon in der nächsten Aufführung am Tag danach, in Hamburg? Sicher in beiden, denn der Satz „Halt doch endlich einmal dein Maul!“ fällt heute in jedem Stück, wie das Amen in der Kirche. Was übrigens der Unterschied zum Schmuddeltheater früherer Jahrzehnte wäre: Damals wurde auf der Bühne gevögelt und so weiter, aber der Text war sakrosankt. Der wurde nicht verändert.
Ich schreibe diesen entscheidenden Gedanken gerade in mein Blöckchen, als eine Schauspielerin auf mich zutritt und mich ins Stück miteinbeziehen will. Natürlich, jetzt fällt es mir ein: ich sitze ja absichtlich genau auf dem Platz, in dem Stadelmaier, der mit Abstand größte und letzte deutsche Theaterkritiker, ich sagte es schon, körperlich angegriffen wurde. Was wird sie jetzt tun? Wie in einem Reflex halten meine beiden Hände mit größter möglicher Kraftentfaltung das geliebte Blöckchen fest. Wenn die Frau jetzt trotzdem STÄRKER ist, reißt es mir die Innenhaut der Hand auf! Also, wenn sie zugreift. Aber sie tut es nicht, sondern hält mir einen Luftballon hin. Ich ergreife ihn. Dann fordert sie mich und die Zuschauer auf, in der Pause mit den Schauspielern zu diskutieren. Über Stadelmaier, denke ich sofort. Aber dann höre ich, es solle über das Stück gehen, über die Möglichkeit einer Revolution im heutigen Deutschland.
Daraus wird dann nichts, denn die Zuschauer denken nicht daran. Ich halte mich aber strikt an meine Schauspielerin, wir lernen uns kennen und treffen uns nach dem Stück in der Theaterkantine.
DIE GEMÜTLICHE THEATERKANTINE
Hier geht es natürlich gemütlich zu, in so einer typischen Kantine eines deutschen Subventionstheaters. Hier sind die Theaterleute unter sich, und auch sonst sind sie ja immer unter sich. Sie haben den schönsten Beruf der Welt. Sie sind sich selbst eine große Familie. Sie agieren sich aus, bei den Proben, auf der Bühne, aber auch sonst, und paaren sich untereinander und trennen sich untereinander und haben ganz, ganz viele ganz, ganz liebe Freunde überall untereinander, auch Seilschaften genannt. Außerhalb des Theaters kennen sie niemanden, aber dafür geht ihr Guru und Regie-Star in den Privathäusern der zuständigen Politiker ein und aus.
Eine Unterschriftenliste wird von Tisch zu Tisch gereicht. Genervt unterschreiben die Leute. Irgendeine Petition. Sicher wichtig, denke ich, und frage die Frau, die damit herumläuft. Sicher eine politische Resolution gegen Stadelmaier. Immerhin soll am nächsten Abend ein öffentliches Tribunal im Großen Haus gegen ihn stattfinden, direkt nach der Vorstellung jenes Stückes, in dem er angegriffen wurde. Er ist jetzt der große Feind. Er bedroht irgendwie durch seinen ‚Fall‘ das ganze staatlich geschütztes Biotop, und das ‚wehrt‘ sich jetzt bestimmt. Ich frage:
„Politische Sache, wie?“
„Ja, es geht um die neue Raucherordnung.“
Nichtraucher und Raucher sollen besser oder anders voneinander getrennt werden. Die Intendantin, denn das ist die Frau, fordert irgend einen besseren Schutz vor Rauchern oder so, auch im Namen… ich lese den Zettel:
„…seither in Gesprächen mit dem Betriebsrat, der Frauenbeauftragten, der Schwerbehindertenvertretung sowie auch im Arbeitskreis Betriebliche Gesundheitsförderung immer wieder nach Wegen gesucht wurde…“
Gesundheitsförderung? Die Leute werden doch alle über 100. Die tanzen, lachen, spielen, springen und singen doch jeden Tag, keine Sorge bleibt zurück! Dagegen war Bhagwans Poona ein Siechenhaus.
So sieht Sektentum aus, wird mir klar.
Später kommt sie wütend an meinen Tisch und fragt, was ich in der Kantine zu suchen hätte. Hier kämen grundsätzlich keine theaterfremden Leute rein!
„Kann ich mir denken…“ murmele ich. Zum Glück bin ich auf ausdrücklicher Einladung meiner kleinen Schauspielerin da. Die bekommt natürlich jetzt Angst und verzieht sich. Ich denke: wenn ich das später alles schreibe, hagelt es Gerichtstermine. Solche Leute schießen immer mit Kanonen auf jegliche Art von Spatzen. Im Namen der Raucherordnung.
HAMBURG, DEUTSCHES SCHAUSPIELHAUS
Bloß schnell weg. Auf nach Hamburg, hoffentlich zu keinem weiteren Blut- und Hoden-Gig, sondern dem Horvath-Klassiker „Zur schönen Aussicht“. Horvath war ja nun wirklich ein ganz besonders lieber, klarer, einfacher Mensch, ein kindliches Genie – dem wird man keine Ferkeleien andichten können! Nicht in diesem schönsten aller deutschen Theaterhäuser. Das Lessing ehrte, indem der jetzige Prachtbau vor 100 Jahren im Stil des Hochbarock konstruiert und mit furioser Phantasie ausgeschmückt wurde. Selbst das Rokoko kannte nicht so viele Feinheiten und Goldtöne und nutzlose aber herrliche Details wie das Deutsche Schauspielhaus. Lessing hatte das Theater vor einem Vierteljahrtausend gegründet. Die Hamburger Bürger kommen auch heute in tadelloser Garderobe und füllen die Plätze. Ja, sie kommen immer noch. Ich atme tief durch. Das Bildungsbürgertum lebt. Und ist ‚Bildung‘ respektive ‚Bildungsbürgertum‘ nicht immer noch die wahre, die heimliche Religion des Westens? Wer sie schändet, malt Mohammed-Karikaturen in die andere Richtung…
Zu früh gefreut. Ein dicker Mann zieht sich aus, stellt sich nackt und breitbeinig mit gezogenem Glieg vor den Kopf einer liegenden jungen Frau, schreit sie an, sie solle seinen Pimmel in den Mund nehmen und so weiter, steigert sich dabei in einen Schreikrampf, und das als ‚verklemmt‘ bekannte Hamburger Publikum buht. Skandal, Skandal. Gewagt, gewagt. Theater muß ‚gewagt‘ sein. Grenzen überschreiten, bla bla. Leider ist dieses Stück noch viel schlechter als die anderen beiden. Die Schauspieler berserkern. Wieder stelle ich mir den letzten deutschen Kritiker von Rang vor, Stadelmaier, einsam gewordener Erbe von Hensel, Henrichs, Karasek, Lessing und Ihering, wie er in seinem unbequemen Stühlchen sitzt, und der Schauspieler ihn triumphal gönnerhaft angeht: „Na, Sie sehen doch noch ganz intelligent aus!“ Und der Angesprochene leise, mit gesenktem Kopf, mehr für sich, wie ein Angeklagter Freislers, murmelt: „Sie leider nicht.“ Woraufhin der Mime ausrastet. Denn so ist es gewesen. Die naive Schauspielerin hat es mir in der Kantine erzählt. Sie war dabei.
Jetzt fällt mir ein Vergleich ein. Ich denke, es müßte bestürzend, oder komisch sein, wenn man plötzlich keine Popmusik mehr hören könnte. Wenn sie einfach nie mehr gespielt würde. Und alle lebenden Berufsmusiker so täten, als habe sie es nie gegeben. Und als sei es peinlich, sie je wieder im Radio zu bringen. Oder in einem Rockkonzert. Und stattdessen gäbe es nur noch falsch imitierte Zwölftonmusik. Nicht die echte von Hindemuth und so weiter, sondern beliebiges, selbstgebasteltes Dröhnen, Ächzen und Klingeln. Und man würde zehn, 20, 30 Jahre nur noch diesen kranken Lärm hören. Und wer sich noch an die Strokes, die Beatles oder Tokio Hotel erinnerte, wäre ein Spießer, ja der Feind! Und Joachim Kaiser würden sie das Blöckchen zerreißen…
Ich wachte auf. Immer noch war ich in dem so häßlichen wie faden Stück. Wie schön es wäre, die von Horvath angelegten Konflikte nicht von völlig verrohten, entstellten, karikierten Menschen ausgetragen zu sehen, sondern von echten! Wenn nicht alle Männer Schweine und Proleten, nicht alle Frauen Schlampen wären. Überhaupt diese doppelte Lüge: moderne Regisseure ‚arbeiten‘ aus den männlichen Rollenvorgaben immer das spezifisch deutsche und das spezifisch männlich-gewalttätige ‚heraus‘ und gerieren sich dadurch als aktuell. In Wirklichkeit sind die aktuellen deutschen Männer so weich, weibisch und unbrutal wie nie zuvor und wie kein anderer Menschenschlag sonst auf der Welt. Nazi-Landser mögen noch so gewesen sein – nicht mal das glaube ich – heutige alleinerzogene Weichei-Kids passen eher in ein Mädchenpensionat als in eine Vergewaltigungsorgie. Somit ist nichts so weit von der Wahrheit und der Realität entfernt wie das aktuelle moderne Theater. Mit den letzten Weißhaar-Mumien, die das Publikum der Häuser inzwischen bilden, kann man diesen Schindluder treiben; sie wissen es halt nicht besser. Alle Jüngeren gehen da wie selbstverständlich nicht hin.
BOCHUM, SCHAUSPIELHAUS
Doch dann kam Armin Holz. Das Wunderkind. Er inszenierte ‚Ein idealer Gatte‘ von Oscar Wilde im Bochumer Schauspielhaus. Ich sitze in einem 1953 gebauten feinen Bau, der genau so aussieht, wie frühe 50er Jahre und Gelsenkirchener Barock nur aussehen können, wenn man sie kombiniert. Ganz viele gelbe kerzenförmige Lampen, eine runde Bühne, ein abgerundeter Zuschauerraum, ein nierenförmiges, wie eine Zunge vorgeschobenes Parkett. Rührend. Und wie gasagt ganz fein. In einer Zeit mit viel Ehrfurcht errichtet, als die Krankenhäuser noch ausgebombt waren. Theater als der größte denkbare Luxus.
Armin Holz gilt als Genie, das im Betrieb nichts werden kann. Nur sieben Inszenierungen in 18 Jahren, da das Subventionstheater ihn haßt. Kein Zuschuß, nirgends. Nun also Oscar Wilde. Er macht daraus kein „Gleichheitszeichentheater“ wie alle anderen, also keine plumpe Übertragung in die Gegenwart, nach dem Motto Faust = Gerd Schröder, Macbeth = Angela Merkel als Mann, Wallenstein = Boris Becker (gespielt von einem transsexuellen Zwillingspärchen). Sondern werktreu im Jahr 1895, mit entsprechenden Dandy-Kostümen. Er brachte das Haus dazu, einen VORHANG anzuschaffen und lernte sogar, wie man ihn auf- und zuzieht. Es gibt bei ihm eine große Pause sowie vier Akte. Die Schauspieler sprechen den Text von Oskar Wilde, und zwar nicht in einer verballhornten Übersetzung Elfriede Jelineks, sondern einer echten. Die Paradoxa werden in ihrer ausdrucksstarken Schwebe gelassen und nicht in sexuelle Eindeutigkeiten überführt (was die Jelinek tut). Die Schauspieler können noch sprechen, und obwohl sie nicht nur Flüstern und Schreien, versteht man in der letzten Reihe jedes Wort. Die Zuschauer lachen oft und freundlich, nicht häßlich und selten wie bei den clownesken Bearbeitungen der auf Linie gebrachten Mode-Regisseure.
Armin Holz! Er braucht keine Video-Einspielung und nicht einmal verschnarchte ‚moderne‘ Pink Floyd Musik. Nicht einmal das Kino. Nicht einmal die Kunstkataloge der letzten Biennale. Ihm reicht der Text, und er bewundert seine Schauspieler. Und die spielen so glänzend, daß einem das Herz aufgeht. Sebastian Koch, bekannt aus ‚Speer und Er‘, gibt einen wunderbar verkommenen, liebenswerten, aufregend präsenten und doch immer leisen Lord Goring – endlich einmal Zwischentöne! – und erzwingt gerade mit einer inneren Körperspannung (das eine Knie leicht eingezogen, der Kopf leicht geneigt, die Schultern fallend) höchste Aufmerksamkeit. Er macht das überzeugend, unser schönster TV-Schauspieler, von den Frauen angeschmachtet, und wird doch von Markus Boysen noch weit übertroffen. Boysen ist viril, unfaßbar viril, und man hat schon ganz vergessen, dass Männlichkeit SO aussieht, etwa wie Marcello Mastroianni in seinen ersten Filmen. Margit Carstensen ist von einer durch Mark und Bein gehenden hochbürgerlichen ‚Lieblichkeit‘, die einen aufschrecken und zugleich dahinschmelzen läßt, und agiert präsenter als Marianne Hoppe es je gekonnt hätte. Die größte Überraschung (nach Markus Boysen) ist jedoch die 23jährige Lina de Demo, die es der Carstensen gleichtut, aber mit 70 Jahren weniger Bühnenerfahrung. Der Beifall brandet 13 Minuten gegen die Bühne. Viele Zuschauer kämpfen dabei mit den Tränen. Wie anders dagegen das sekundenkurze Tröpfeln nach dem Ende der Horvath-Aufführung, angezettelt von einem semiprofessionellen Anklatscher…
Wer heute als Schauspieler noch eine Figur richtig SPIELEN will und nicht ‚dekonstruieren‘, muß zum Film gehen, in der Regel. Ausnahmen wie Ostermeier und seine Berliner Schaubühne gibt es, sind aber rar. Und kommen auch nicht ohne Kompromisse aus. Armin Holz schon.
OSCAR WILDE UND MANNESMANN
Seine Welt verzichtet tatsächlich auf Schweinereien? Ja ist der Mann denn ein Tor? Ein Kitsch-Brocken? Im Gegenteil. Bei ihm passieren die bösen Dinge da, wo sie hingehören und wo auch Oscar Wilde sie sah, in der Börse. Die Titelfigur hat sich sein Vermögen auf dieselbe Weise verschafft wie Esser, Zwickel und andere Mannesmann-Vorstände, durch verbotene Insider-Informationen, und wird nun erpreßt. So gesehen ist er ein Schwein. Aber bei Armin Holz bleiben die Figuren Menschen, und man kann nicht anders als sie zu mögen. Und wen man mag, mit dem zittert man mit. Eine Wendung fällt mir dazu ein, die ich seit meiner Gymnasialzeit nicht mehr verwenden wollte oder konnte: Man hätte eine Stecknadel fallen hören können, so gebannt folgten 800 Menschen dem Bühnengeschehen.
Ach, hätte Stadelmaier das noch miterleben können! Der 56jährige wäre zurückgeführt worden an seine Anfänge, als Theater noch Kortner bedeutete und Cornelia Froboess als Minna von Barnhelm in den Münchener Kammerspielen. Aber er verbarrikadiert sich wohl besser in seiner Frankfurter Redaktionsstube. Denn die bitterböse Raucherordnungs-Intendantin Elisabeth Schweeger hat nun zur großen Gegenattacke geblasen. Die Süddeutsche Zeitung schreibt unter der Überschrift ’schauspielfrankfurt wehrt sich‘: „Der Skandal… geht in eine neue Runde. Nun hat sich das Theater zur Wehr gesetzt. Man werde es ’nicht hinnehmen, dass ein solcher bedauerlicher Vorfall wie dieser dazu genutzt wird, den Kunstraum Theater und die künstlerische Freiheit der dort tätigen Künstler einzuschränken‘ heißt es in einer Erklärung.“ Nun wird es sicher noch zu vielen Solidaritätsaktionen kommen, zu Podiumsdiskussionen, Talkshows im Fernsehen, Lichterketten und umgedichteten Singspielen an der Berliner Volksbühne. Peymann ist schon als erster ins Boot gesprungen, die anderen Konformisten werden sich nicht lumpen lassen. Schlingensieff, so ein Gerücht rund um den Rosa-Luxemburg-Platz, plant schon ein cross over von Stadelmaier, Bayreuth und Vogelgrippe. Der letzte namhafte Theaterkritiker soll dabei zum Mitspielen animiert werden.
Es wäre der letzte Tag von 250 Jahren deutscher Theatergeschichte.
JOACHIM LOTTMANN