„Nichts so schwer wie das Selbstverschwinden. Muß gelingen.“ (Lothar Schöne „Der Fall Sahlheimer“, ein „Uni-Mainz-Krimi“)
„Die Sichtbarkeit fliehen. Denn je später uns die Sichtbarkeit findet, umso stärker findet sie uns.“ (Unsichtbares Komitee „Der Kommende Aufstand“, ein „Paris-Rimbaud-Krimi“)
Die Literaturwissenschaftlerin Sylvia Bovenschen veröffentlichte 2008 einen Erzählband mit dem Titel „Verschwunden“. „Etwas oder jemand ist verschwunden. Für immer fort. Plötzlich, unerwartet. Obgleich wir wissen, dass alles irgendwann aus unserem Leben verschwindet – und auch wir selbst aus dem Leben verschwinden -, rechnen wir nie damit. Verschwinden, das Verb, verbindet das Verschwindende noch mit dem Jetzt, mit der Gegenwart. Es impliziert eine Aktivität (oder die Illusion davon), die tröstlich ist. Wenn etwas verschwunden ist, so ist das unwiderruflich. Trostlos. Und niemals vorstellbar, bevor es so weit ist. Silvia Bovenschens Buch ‚Verschwunden‘ widmet sich diesem Unvorstellbaren,“ heißt es in einer Rezension des Deutschlandradios „Kultur“.
Das ehemalige Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ interviewte 2010 den Berliner Rechtsmediziner Michael Tsokos über sein Buch „Der Totenleser“, in dem es u.a um das „spurlose Verschwinden“ geht:
„Sie geben viele Details und Fachwissen aus dem Alltag des Rechtsmediziners preis. An manchen Stellen bleiben Sie aber betont vage – etwa, wenn es darum geht, wie man die Szenerie einer Mordtat manipuliert. Warum?
Tsokos: Ich kann natürlich nicht die Gebrauchsanweisung für die Inszenierung eines Tatorts geben.
Sie wissen aber, wie man den perfekten Mord ausführt?
Tsokos: Ja. Ich habe in 16 Berufsjahren genug Möglichkeiten kennengelernt, ein Tötungsdelikt zu begehen, ohne dass überhaupt vermutet wird, dass es sich um ein Tötungsdelikt handelt. Aber diese Büchse der Pandora dürfen wir Rechtsmediziner nicht öffnen.“
Hoffen wir, dass er den Mund nicht zu voll genommen hat und ihn kein Verbrecher entführt und foltert, um ihn dann gemäß seines Wissens so umzubringen, dass niemand die Tat für einen Mord hält. Rätselhaft bleibt indes, warum er dieses geheime Wissen als „Büchse der Pandora“ bezeichnet. Mit Bruno Latour haben wir inzwischen sowieso einen anderen „Büchsen“-Begriff als der verschwiegene Rechtsmediziner Tsokos. In einem Vortrag in München stellte Latour dazu kürzlich sein „Kompositionistisches Manifest“ vor:
„Die Menschheit wurde aus der Utopie der Ökonomie vertrieben und scheint nun auf der Suche nach einer Utopie der Ökologie zu sein. Wenn ich einen Agenten hätte, würde er mir sicher raten, den US-Regisseur James Cameron wegen des Drehbuchs seines letzten Filmerfolges zu verklagen, denn ‚Avatar‘ sollte eigentlich Pandoras Hoffnung heißen! Ja, Pandora ist der Name des mythischen Roboters, dessen Büchse all die Übel der Menschheit enthält, aber es ist auch der Name des Planeten, den Menschen vom Planeten Erde (allesamt Mitglieder des typisch amerikanischen militärisch-industriellen Komplexes) mörderisch ausbeuten, ohne sich um das Schicksal der Bewohner vor Ort (die Navis) und ihr Ökosystem zu kümmern, einen Superorganismus und eine Göttin namens Eywa. Ich habe den Eindruck, dass dieser Film die erste populäre Beschreibung dessen darstellt, was passiert, wenn modernistische Menschen Gaia treffen. Und glauben Sie mir, es ist nicht gerade schön.“
Aber halten wir fest: Für Latour ist Pandora mindestens ambivalent – hoffnungslos/hoffnungsvoll. An anderer Stelle seines Vortrags/Manifests heißt es:
„Äußere Zerstörung verursacht innere Zerstörung. Und wieder, genau wie im klassischen Mythos, bleibt die Hoffnung am Boden der Büchse der (ich meine den Planeten) Pandora, da sie sich tief im Wald und gut versteckt im komplexen Gewebe der Verbindungen befindet, welche die Navis mit ihrer eigenen Gaia pflegen. Ein biologisches und kulturelles Leben, das nur einige wenige Anthropologen im Ansatz erkennen können (Sigourney Weaver muss lustigerweise mit den Navis genau das wieder tun, was sie mit Gorillas im Nebel getan hat!…). Es bleibt einem Ausgestoßenen überlassen, einem ‚Marine‘ ohne Beine und akademische Würde, es letztlich zu kapieren – aber um den Preis des Verrats seiner Mitmenschen, einer Liebesaffäre mit einer Eingeborenen und einer großartigen Transmigration seines ursprünglichen, verkrüppelten Körpers in seinen Avatar – wodurch die Beziehung zwischen Original und Kopie umgekehrt wird (und der Ausdruck „to go native“ eine ganz neue Dimension erhält).“
Am Schluß seines Vortrags/Manifests meinte Latour:
„Wie ein lebbares und atembares ‚Heim‘ für diese umherstreifenden Massen gebaut werden kann? Das ist die einzige Frage, die es sich in diesem Kompositionistischen Manifest zu stellen lohnt. Es gibt Hoffnung in der Büchse der Pandora, aber wie tief muss man greifen, um sie herauszuholen?“
Einige Jahre zuvor hatte Latour bereits ein Buch auf Deutsch veröffentlicht – mit dem Titel „Die Hoffnung der Pandora“, in der Süddeutschen Zeitung besprach der Ethnologe Thomas Hauschild dieses Buch, seine ausführliche Rezension faßte „perlentaucher.de“ wie folgt zusammen:
„Da kommt viel zusammen in diesem Buch, ein bisschen zu viel vielleicht sogar, meint Thomas Hauschild zu Beginn seiner dann aber doch kaum was auslassenden Besprechung. Hauschild folgt den vom Autor so bezeichneten „holprigen Erkundungen der Realität der Wissenschaftsforschung“ in alle Ecken und findet neben einer Polemik gegen die Denkfaulheit und die Fanatismen im Wissenschaftsbetrieb nicht weniger als eine Abrechnung mit dem sokratischen Denken und eine Ethnographie der forscherischen und politischen Praktiken der Naturwissenschaftler. Das Ganze vom Boden der Tatsachen aus und, wie Hauschild nicht ohne Bewunderung bemerkt, trotz allem mit einer gesunden Portion Optimismus: ‚Wir werden nicht immer weiter aus einem Paradies der Menschlichkeit und der poesis vertrieben‘, zitiert er den Autor. Dass der hier vorgeführte neue Pragmatismus, mit dem Latour angeschlagene Wissensformen rehabilitiert, in seinen Konsequenzen für das Reden über Biotechnologie erst noch auszuloten ist, weiß auch Hauschild. Unterdessen aber bedankt er sich schon mal beim Autor für das Angebot ‚einer neue Haltung‘ gegenüber den Tatbeständen der Wissenschaft.“
Zurück zum Berliner Rechtsmediziner Michael Tsokos, der weder eine „neue Haltung“ zur „Büchse der Pandora“ hat noch zu den „Tatbeständen der Wissenschaft“, weil er fürchtet, sie könnten in falsche Hände geraten – also irgendwelchen Mördern das Handwerk erleichtern, d.h. sie könnten durch sein Wissen nach der Tat verschwinden – ohne Spuren zu hinterlassen.
In anderen Worten: Tsokos‘ rechtsmedizinisches Wissen ist geeignet, die „Locard’sche Regel“ außer Kraft zu setzen. Diese besagt, dass kein Kontakt zwischen zwei Objekten hergestellt werden kann, ohne dass diese wechselseitige Spuren hinterlassen. „Nur menschliches Versagen diese zu finden, zu studieren und zu verstehen kann ihren Wert zunichte machen,“ so der Lyoner Mediziner und Jurist Edmond Locard, nach dessen „Regel“ heute sämtliche Spurensicherungs-Kommandos und Rechtsmediziner arbeiten. Folgt man Tsokos, dann sind mindestens die letzteren damit inzwischen in die Lage versetzt worden, sie zu überschreiten, also diese „Regel“ wertlos zu machen. Als gute Staatsbürger tun sie das natürlich nicht – oder nur im Notfall, wenn es z.B. gilt, ihre Ehefrau oder sonstwen spurlos zu beseitigen, also so zu töten, dass ihnen niemand die Tat nachweisen kann. Wenn ihr Wissen aber in die Hände von Verbrechern oder gar von Mafiabanden fällt, dann…sieht es übel aus.
Nun arbeiten aber auch noch ganz andere Individuen, Gruppen, Banden, Meuten und Verbände am spurlosen Verschwinden – und viele andere, um deren Wissen darüber zu sammeln, zu systematisieren und zu veröffentlichen. Nicht zuletzt auch Autoren von Regionalkrimis. Erwähnt seien der Roman „Die Mutter“ der westdeutschen Einzelhandelskauffrau Petra Hammesfahr. Es geht darin um das spurlose Verschwinden der Tochter einer Mittelschichtsfrau, die mit ihrem Mann aufs Land in die Eifel gezogen ist. Außerdem der „Kiel-Krimi“ des Quedlinburger Schlagzeugers Andreas Franz: „Spiel der Teufel“ (1). Sein Roman handelt von einer „Russen-Mafia“, die tausende meist junge Menschen spurlos verschwinden läßt, um ihre Organe irgendwelchen kranken Millionären einzupflanzen. Dieses (massenhafte) Verschwinden ist jedoch kein Unwahrnehmbar-Werden aus eigener Kraft, wie es noch der „Eifel-Krimi“ von Petra Hammesfahr nahelegt, sondern ein nahezu spurloses Verschwinden-Lassen.
Das gilt ähnlich auch für den „dritten Fall“ des schwäbischen Ermittlers Peter Heilands, den Felix Huby in seinem Berlin-Krimi „Der Bluthändler“ abhandelt: Eine „Medizin-Mafia“ beschafft sich auf kriminelle Weise Organe zur Transplantation, wobei sie auch hier die „Spender“ verschwinden lassen – jedoch nicht ganz spurlos. Es gibt sicher hunderte von Krimis, in denen es um „Verschwundene“ geht. Jährlich verschwinden weltweit zigtausende von Menschen, und man weiß meist nicht, ob freiwillig oder gezwungen. Hinzu kommt noch – laut Kripo-Kommissar Gerber (im Kölner Post-Krimi „Abgestempelt“ von Jan Bergfrath): „Mehr und mehr Verbrechen werden von der Literatur, dem Film oder den Zeitungen beeinflußt,“ wie eine Untersuchung jüngst ergab. D.h. es gibt „immer mehr Autoren, die sich in ihrer Phantasie die cleversten Lösungen ausdenken, wie man das perfekte Verbrechen begehen oder Spuren verwischen könnte.“
Die Spurlosigkeit, das ist anscheinend ein Problem – nicht nur von Verbrechern und Verbrechensaufklärern, sondern auch von politischen Aktivisten. Sei es, dass sie z.B. aufklären wollen, wohin wie viele Milliarden Euro bei der Privatisierung der Post nahezu spurlos verschwanden, sei es, dass sie selbst untertauchen müssen, und dabei keine Spuren hinterlassen dürfen. In der Literatur wird dieses Problem zumeist als „Unwahrnehmbar-Werden“ abgehandelt.
Nachdem ich mich da durchgearbeitet hatte, hielt ich darüber einen Vortrag auf der „Kalten Buch“ in der bayrischen Rhön – vor einem gemischten Publikum:
Herodot sah im Nomadentum (der Skythen, d.h. der Barbaren) vor allem eine „Strategie“, die darin bestand, dass sie unfassbar waren (aperoi): Wenn man sie bekämpfte, zogen sie sich zurück. Und wenn man nicht mit ihnen rechnete, griffen sie an. Das gilt – bis heute – auch für alle Partisanenformationen und Verbrecherbanden, aber die Unfassbarkeit bzw. das Verschwinden ist für sie ein „Problem“ geworden – für das es viele Lösungen gibt und manchmal keine. Zudem stellt es sich nach Art eines Hase-Igel-Rennens immer wieder aufs Neue.
Hier wurde es zuletzt als „Untertauchen“ von einigen „illegalen Gruppen“ diskutiert – und auch praktiziert. Am Beispiel der Tupamaro-Guerilla in Uruguay wies Wolfgang Schöller in diesem Zusammenhang 1970 auf zwei Formen von subversiv langangelegter „Maulwurfstätigkeit“ hin, indem er bei der Stadtguerilla „militante Aktionen“ und die „bewußte Arbeit im Apparat“ unterschied. Zusammen käme beides z.B. bei einem Banküberfall, wenn die einen von außen einbrechen oder reinstürmen und die anderen ihnen von innen zuarbeiten würden.
Die letzteren hatten zuvor bereits Rudi Dutschke und Hans-Jürgen Krahl auf der SDS-Delegiertenkonferenz 1967 im Blick, als sie den linken Studenten im Zusammenhang ihrer bürgerlichen Perspektive zu bedenken gaben: „Das Sich-Verweigern in den eigenen Institutionsmilieus erfordert Guerilla-Mentalität, sollen nicht Integration und Zynismus die nächste Station sein.“ Aus diesem Grund wurde gleichzeitig auch über alternative Ökonomien nachgedacht. Es kam sogar zu einem förmlichen SDS-Beschluß, mit dem die Profitmarge von Raubdruckern festgelegt wurde. Wenig später wurde aus dem „verdeckten Einsatz“ (in Ämtern und Organisationen) die Strategie des „Langen Marsches“, wobei dieser ursprünglich chinesische Kraftakt im Raum (in der Horizontalen) unter der Führung von Mao tse Tung hier nun vertikal umgedacht wurde. Er bestand kurz gesagt darin, in die Institutionen einzusickern, dort voranzukommen und dabei kleine subversive Gruppen zu bilden – mithin als in der Öffentlichkeit agierende Linke zu verschwinden. Auch äußerlich, indem man sich z.B. die langen Haare abschnitt und statt Jeans und Parka Anzüge trug: Das war keine Mimese (verstanden als Angleichung an den Hintergrund bzw. die Umgebung, um ununterscheidbar zu werden), also keine Anpassung von maoistischen Ex-Studenten an die Junior Executives in der City, sondern eher Mimikry: So wie z.B. eine ungiftige Schlange angeblich eine giftige im Aussehen nachahmt!
Demgegenüber riet die französische Feministin Luce Irigaray den militanten Frauen zur „Mimese“: Dabei gehe es darum, so sagte sie, „die Rolle freiwillig zu übernehmen. Was schon heiße, eine Subordination umzukehren in Affirmation, und von dieser Tatsache aus zu beginnen, jene zu verteiteln.“ Judith Butler sprach später ähnlich von „Strategien subversiver Wiederholung“ – denn eine gute Mimin gehe nicht in dieser Funktion auf! Man könnte hierbei auch von einer „nicht-bejahenden Affirmation“ sprechen.
Umgekehrt hat jüngst der US-Schriftsteller Tom Wolfe – ein affirmativer Mode- und Sceneforscher – in seinem Roman „Ich bin Charlotte Simmons“ die Initiation eines Highschoolmädchens ins College-Milieu als Mimese beschrieben, die nicht minder grausam ist – als etwa das „Sich-Verweigern in den Institutionenmilieus“, das laut Dutschke/Krahl eine „Guerilla-Mentalität“ erfordere.
Der den Surrealisten eine zeitlang verbundene Insektenforscher Roger Caillois beschrieb die Mimese, die er als eine „Depersonalisation durch Angleichung an den Raum“ begriff, als „eine Störung der räumlichen Wahrnehmung“, die sowohl bestimmte Insekten als auch Schizophrene heimsuche („es gibt nur eine einzige Natur“). Und so wissen – in dem Fall beide „im starken Wortsinn – nicht mehr, wohin mit sich“. An anderer Stelle heißt es: „Der Raum erscheint diesen enteigneten Wesen als ein alles verschlingender Wille“. Erstere machen aus dieser Not anscheinend eine Tugend.
Die Mimese-Parole von Luce Irigaray wurde später in der Frauenbewegung stark kritisiert. Ähnliches galt auch für die Einführung des „Tricksters“ durch Donna Haraway, wobei diese sich auf die Natur in ihrer „Eigengesetzlichkeit“ und als „Widerständigkeit des Nicht-Menschlichen bzw. Nicht-Gesellschaftlichen“ berief – und das mit dem „Trickster“ illustrierte: eine halbmythische Figur in agrarisch-nomadischen Gesellschaften, mal Schelm mal Tölpel, der sich durch seine „Unberechenbarkeit und permanenten, koyotenhaften Verwandlungen auszeichnet“. Kürzlich veröffentlichte der Ethnologe Alexander Knorr eine Doktorarbeit über ein Halbdutzend „Metatrickster“ – als die er u.a. Aleister Crowley und Carlos Castaneda begriff. Ihm ging es dabei weniger um das Verschwinden, als um das Unwahrnehmbar-Werden durch immer neue Wandlungen, die bisweilen einem Herauswinden gleichen.
In Hannover nannte man Anfang der Siebzigerjahre eine linke Kneipe „Langer Marsch“ und in Berlin machte der SDSler Tilmann Fichter daraus erst eine Zeitung: „Der lange Marsch“ und ging dann selbst mit gutem Beispiel voran – durch die ganze SPD-Hierarchie. Anders als z.B. die Trotzkisten „integrierte“ er sich jedoch darin – und fiel damit noch hinter Ernst Jüngers antiamerikanischem Individualpartisan zurück, den dieser nach dem verlorenen Krieg als einen „Waldgang“ skizziert hatte, als den er Martin Heideggers „Holzweg“ umdeutete – zur Existential-Utopie eines Vereinsamung riskierenden Unbeugsamen. „Der Wald ist der Ort des Widerstands, wo neue Formen der Freiheit aufgeboten werden gegen neue Formen der Macht,“ so faßte Jüngers Verlag dessen „Waldgang“ im Klappentext 1951 zusammen. Carl Schmitt kritisierte daran das Unpolitische: „Dann kann schließlich jeder Einzelgänger oder Non-Konformist ein Partisan genannt werden, sofern er auf eigene Rechnung und Gefahr Position bezieht und Partei nimmt“.
Inzwischen sind auch die meisten anderen Aktivisten aus den Sechzigerjahren auf eine ähnliche Weise wie der SDSler Fichter aus der Linken „verschwunden“. Komisch, meinte der ehemalige SDS-Aktivist und Widerstandsforscher Hans-Dieter Heilmann kürzlich, „wir waren am Anfang nur rund ein Dutzend und sind es nun wieder – fast die selben Leute sogar.“ Der Masse wird hier in gewisser Weise die Meute gegenübergestellt.
Das Gegenteil wäre ein numerisches Verschwinden gewesen – indem mit Ausweitung der Kämpfe die Aktivisten darin quasi auf- bzw. untergehen („Der Sinn der Organisation ist ihr Scheitern,“ so sagten es die Situationisten). Stattdessen geschah das „Fading-Away“ der Bewegung jedoch vor allem durch Single-Issue-Projekte und Vereinzelung bzw. Karrieren.
Etwas anders war es bei den Tupamaros, die laut Abrahàm Guillén den Fehler machten, ihre „Kampfkolonnen“ aus der Stadt abzuziehen und aufs Land – in die Wälder – zu schicken, wo sie sich in „Tacuteras, einer Art von unterirdischen Kasernen, verbargen“. Dadurch zersplitterten sie nicht nur ihre Kräfte, das Verschanzen in „Tacuteras“ war auch ein Fehler, da diese leicht eingekreist und eingenommen werden konnten. Die Guerilla muß unter allen Umständen beweglich bleiben, „so dass jedes gegen sie gerichtete militärische Unternehmen damit endet, dass das Kampfobjekt verschwindet“, wie bereits Karl Marx betonte. Der Tupamaro León Dúter erklärte der Journalistin Gaby Weber 1989: „Meine Gruppe ist zuerst in die Gegend von Paysandú gegangen, in den Queguay-Wald, für uruguayische Verhältnisse ist er sehr groß, aber für einen wirklichen Schutz reicht er nicht aus.“
Mit ihrer Aufspaltung in Stadt- und Landformationen und deren partieller Vernichtung setzte gleichfalls ein Verschwinden der Tupamaros ein. Ähnliches passierte Ende der Achtzigerjahre mit der chilenischen Untergrundbewegung MIR: Ein Teil wollte die Organisation auflösen, ein anderer „im Wald einen Guerillaherd – Focus – aufbauen, so wie in El Salvador und Guatemala“ – diese Gruppe wurde aus der Organisation ausgeschlossen.
Die meist ländlichen Guerillabewegungen hat der Wald ansonsten jedoch eher vor dem Verschwinden – im Sinne von Aufgerieben-Werden – geschützt. Von dort – aus dem Unsichtbaren heraus – griffen sie dann auch immer wieder an. Der Wald war stets ihr zuerst „befreites Gebiet“.
In Polen mußten sich die Aufständischen in ihrer Geschichte mehrmals in die Wälder zurückziehen. In Warschau verschwanden sie nach den letzten Aufständen 1943 und 1944 durch die Kanalisation – und versuchten von dort ebenfalls in den Wald zu gelangen. In Burma und Sri Lanka, in Indien, auf den Philipinen und in Lateinamerika halten sich noch heute größere Partisanenverbände in Wäldern versteckt. Allein im 60.000 Quadratkilometer großen Urwald von Zentralindien – Dandakaranya – leben und kämpfen über 100.000 maoistische Rebellen. Arundhati Roy veröffentlichte im Herbst 2010 eine Reportage in der Zeitschrift „Lettre“ über diese Guerillabewegung, die in den vergangenen drei Jahrzehnten ähnlich wie die Zapatisten in Chiapas eine Basisdemokratie im Wald aufgebaut hat . In Nicaragua veröffentlichte der Sandinista Omar Cabezas seine Erinnerungen unter dem Titel: „Der Wald ist mehr als eine große grüne Hölle“. Nicht nur provisorisches Rückzugsgebiet sondern auch Ort ihrer Klärung, Zweifel und Einsamkeit. Gleichzeitig bietet er ihnen Nahrung und gibt ihnen die Möglichkeit, die komplizierten Lebensverhältnisse und -stile im Wald zu verstehen. Die mexikanischen Zapatistas haben ihre Basis im „Lakandonischen Regenwald“. Neben den „Lacandonen“ leben noch Tzotziles und Tzeltales in der Region. Darüberhinaus ist der Urwald Heimat von vielen Tieren und Pflanzen.
In einer der letzten „Botschaften“ der Zapatistas – aus dem Regenwald von Chiapas – heißt es: „Den ganzen Nachmittag haben wir im Komitee diskutiert. Wir haben das Wort für ‚Sich ergeben‘ gesucht. Es gibt keine Übersetzung weder im Tzotzilischen noch im Tzeltalischen, niemand erinnert sich daran, dass dieses Wort auf Tojolabalisch oder Cholisch existiert. Seit mehreren Stunden suchen sie einen äquivalenten Ausdruck. Draußen regnet es und eine Genossin Wolke neigt sich zu uns herab. Der alte Antonio wartet, bis alle verstummt sind und nur noch das vielfache Trommeln des Regens auf das Wellblechdach zu hören ist. Schweigend nähert sich der alte Antonio mit Tuberkulosehusten und sagt mir ins Ohr: ‚Dieses Wort gibt es in der wahrhaften Sprache nicht, deshalb ergeben sich die Unsrigen auch nicht und sterben lieber, denn unsere Toten bestimmen, dass die Worte, die es nicht gibt, nicht gelebt werden.'“
Ein anderer Widerstandskämpfer (aus dem Zweiten Weltkrieg), Shmuel Ron, schreibt in seinen „Erinnerungen“: „Vor allem aber brannten wir darauf, uns den Partisanen in den polnischen Wäldern und in Weissrussland anzuschließen.“ Ähnlich äußerten sich 1995 auch die „Waldpartisanen“ Jack und Rochelle Sutin, denen Ende 1942 die Flucht aus einem schlesischen Ghetto gelang: „Wir teilten uns in kleine Gruppen auf und machten uns daran, in den Wäldern zu überleben. Wir hofften noch immer, uns russischen Partisanen anschließen zu können, aber wir hatten keine Ahnung, wo sie sich aufhielten…Tief im Wald begannen wir, einen Bunker für den Winter zu graben…Unser Zeitplan sah so aus, dass wir um zwei Uhr nachts zu kochen begannen, dann aßen und tagsüber schliefen.“
Im 2.Band der „Kleinen Enzyklopädie Sowjetlitauens“ wird erwähnt, dass Marijonas Miceika, Deckname „Gabrys“, im Juli 1943 von Moskau aus mit dem Flugzeug im Wilnaer Distrikt abgesetzt wurde und dass er die Geflüchteten und Untergetauchten im Rudniker Wald sammelte, von wo aus sie unter seiner Führung den Partisanenkampf aufnahmen. Diese Waldgebiete in Nordosteuropa waren zu groß, als dass die Deutschen sie systematisch hätten „säubern“ können – im Gegenteil, umfaßten die „befreiten Gebiete“ bald mehrere tausend Quadratkilometer.
Anders im baumarmen Süditalien – wo der Wald u.U. zu einer Falle werden kann: Dort führte z.B. Carmine Donatelli Crocco 1861 „seine Brigantenarmee gegen die Scharen des italienischen Nationalhelden Garibaldi in einen Krieg ohne Chance,“ schreibt Thomas Hauschild in seinem Buch „Magie und Macht in Italien“. Der Ethnologe lebte 20 Jahre lang in Ripacandida, wo der Aufstand der Briganten seinen Anfang nahm. Nicht weit davon – im Wald unter dem Gipfel des Vulture und über den Almseen am Heiligtum von Sankt Michael – fanden sie vier Jahre lang Schutz vor den berittenen Truppen, wobei sie von den Bauern und Hirten der Umgebung unterstützt wurden. Schließlich gelang es der Armee jedoch, die „wüsten Waldmenschen“, wie Hauschild sie nennt, einzukreisen und zu vernichten: Etwa 18.000 von ihnen, Männer und Frauen, wurden hingerichtet.
Die Asymmetrie der Waffen wirkt sich meist zu Ungunsten der Aufständischen aus. Um trotzdem „Gleiches durch Gleiches zu erzeugen“, versuchen sie es laut Roger Caillois mit „mimetischer Magie“, um dem Gegner gewachsen zu sein und sich zu schützen. So berichtet z.B. der holländische Kurdologe M.M. van Bruinessen: „Eines Tages sah ich den Scheich ein ganz besonderes Amulett eines berühmten Typs anfertigen: ein gulebend – d.h. einen Kugelfänger. Scheich Osman ist einer der ganz wenigen Scheichs (vielleicht der einzige noch lebende), der die Fähigkeit (und erforderliche Heiligkeit) besitzt, diese nützlichen Prophylaktika gegen Kugeln und Sprengkörper herzustellen. Der Mann, der darum gebeten hatte, war ein irakischer Kurde, ein Lehrer aus einem Dorf, das regelmäßig bombardiert wurde (dies war während des Krieges 1975/76). Das Amulett bestand aus einem langen Text, Beschwörungen und Koranversen. Der Scheich gab es zwischen zwei kleine viereckige Kartonstücke, wickelte es in Rohbaumwolle und ließ es in Stoff einnähen. Er sagte dem Mann, er solle es sich an den Oberarm binden und in der Achselhöhle aufbewahren, sobald Gefahr drohe, es jedoch nach oben drehen.“
Thomas Hauschild berichtet Ähnliches über die italienischen Aufständischen: „Bei vielen toten und eingekerkerten Briganten hat man ‚Schutzbriefe‘ gefunden, von Priestern geschrieben, die Zettel sollten sie unverwundbar machen.“ Und es gelangen ihnen auch immer wieder erfolgreiche Aktionen bis hin zur Einnahme ganzer Städte. Das war dann ein magischer Moment – „il momento magico, über den in Italien so viel gesprochen wird, das Aufgehen im erfolgreichen Tun.“
An sich ist die (subversive) Magie in Süditalien jedoch eher Sache der Frauen, der Heilerinnen, während die katholischen Priester auf der Seite des Staates stehen. „Seit dem 19. Jahrhundert gehen die Priester nicht mehr zum offenen Angriff gegen die Magier über. Dafür murmeln die Heilerinnen bei der Messe mit.“ Man könnte fast von einer friedlichen Koexistenz zwischen Schamanismus und Katholizismus sprechen. Wo die offizielle Religion mit dem Gegner identisch ist, bleiben die Magierinnen allerdings unversöhnlich – sogar noch über ihren Tod hinaus. Das war z.B. bei den zwei großen Aufständen gegen die weißen Kolonisatoren in Zimbabwe der Fall, die 1890 und 1970 von der bereits 500 Jahre zuvor gestorbenen Prophetin Mbuya Nehanda angeführt wurden, indem sie der Guerilla als „Medium“ bzw. als „Orakel“ diente.
Der englische Soldat Stuart Hood, der im Zweiten Weltkrieg aus einem norditalienischen Gefangenenlager floh und sich dann zusammen mit einem Kriegskameraden den toskanischen Partisanen anschloss, entschied unterwegs zunächst ebenfalls auf „magische Weise“, welches Versteck einigermaßen sicher zu sein schien und welcher Bauer sie nicht verraten würde.
Und Jack Sutin hatte eines Nachts im Waldbunker einen Traum – mit „magischer Wirkung“: Eine Stimme – sie klang wie die seiner Mutter, sagte ihm, dass er in den Wäldern seine Jugendfreundin Rochelle finden werde und dass sie zusammenbleiben würden. Drei Monate später tauchte Rochelle tatsächlich im Partisanenlager des Naliboki-Waldes auf. Seitdem leben die beiden zusammen.
Ebenfalls vom Naliboki-Wald aus operierte eine andere bewaffnete jüdische Gruppe: die „Bielski-Partisanen“. Nachama Tec schrieb ein Buch über sie mit dem Titel: „Bewaffneter Widerstand“, Peter Duffy eins über „Die Bielski-Brüder“. Der Wald von Naliboki „bot Tausenden von geflohenen Kriegsgefangenen und Juden aus dem Ghetto Unterschlupf“, schreibt Alex Faitelson in seinem Buch über den „jüdischen Widerstand“. Der Oberkommandierende dort war Generalmajor Wasili Jefimowitsch Tschernischow, genannt „Platon“. Faitelson hielt sich die meiste Zeit im 160 Kilometer entfernten Rudniker Wald auf, wo die Partisanenformationen ebenfalls von Moskau aus materiell unterstützt und organisiert wurden.
Der Kulturwissenschaftler Simon Shama hat in einer Studie über „Den Traum von der Wildnis“ den polnischen „Urwald von Bialowieza“ (Podlasien) historisch „durchforstet“ – der „Rumpfheimat des Wisent, aber auch der polnischen Outlaws und Partisanen. Ferner Jagdgebiet der Könige – und Ausgangspunkt der polnischen Forstwirtschaft bzw. -wissenschaft, die wiederum oft Beziehungen zu den Partisanen in ihren Wäldern unterhielt“. So gehörte z.B. zu den Partisanen, die sich nach der Niederschlagung des Warschauer Aufstands Ende 1830 und der Auflösung Polens in die Wälder von Podlasien – der puszcza – zurückzogen, auch Emilie Plater, „eine Soldatin, aus deren Familie zu Beginn des Jahrhunderts mehrere Forstbeamte gekommen waren.“ 100 Jahre später erklärte die Pilsudski-Regierung den Urwald zum ersten polnischen „Nationalpark“. In diesem Wald beginnen die ersten Gefechte zwischen Nationalökonomie und -ökologie. Mit dem Einmarsch der Deutschen in Polen flüchteten auch viele Juden als Partisanen in diesen Wald – sie kamen „in eine neue Welt“, schreibt Simon Shama, „… die Veteranen, die sich als ,Wölfe‘ bezeichneten, waren von allen Generationen der ,Puszcza‘-Kämpfer die verzweifeltste“.
Der Wald bot – spätestens nach dem Sieg in Stalingrad – einer schnell wachsenden Zahl von Feinden der Deutschen Sicherheit. Der polnische Dichter Jan Himilsbach schrieb – über seine Mutter, die noch während des Krieges Umgang mit Deutschen hatte: Die Nachbarn sagten ihr, wenn sie einen Kerl haben wolle, dann „solle sie sich als Patriotin und Antifaschistin jemanden aus dem Wald holen, wo in letzter Zeit Partisanen wie Pilze aus dem Boden schossen.“
In Südfrankreich wurde das Wort für Buschwald – „Maquis“ – sogar identisch mit der Eigenbezeichnung der Partisanen. Ein deutscher Journalist – Gerhard Leo, der sich 1942 dem Maquis bei Toulouse anschloß, berichtet – als er seine Leute gefunden hatte und sie im Wald untertauchten: „Über uns breiten sich die Kronen der Eichen, Buchen, Kastanien und Kiefern wie ein schützendes Dach.“ Von dort aus griffen sie zusammen mit anderen Partisanengruppen eine deutsche Garnison an. Als die Deutschen Verstärkung bekamen, mußten sie sich jedoch wieder zurückziehen: „Wir rennen zu den schützenden Bäumen des Waldes rechts von der Straße. Über uns zerbrechen Äste unter den Salven…Der Wald wird dichter…Wir sind noch mal davongekommen…In die Wälder, die gepanzerte Fahrzeuge schwer durchqueren können, wagen sie sich nicht…Die Wälder beherrschen wir noch, aber nicht mehr die Ortschaften und die Straßen.“
In seiner Rede nach der Befreiung – anläßlich der Überführung der Asche des toten Widerstandshelden Jean Moulin ins Pariser Panthéon der großen Männer Frankreichs rief Kulturminister André Malraux, der zuvor selber Partisan gewesen war: „Seht die zerlumpten Kämpfer aus den Eichenwäldern hervorkommen…“ Konkret meinte er damit die südfranzösische Kampfgruppe von Gerhard Leo.
Wie sie machte auch Alex Faitelson die Erfahrung: „Die Nazis fürchteten den Wald wie die Pest.“ Gegen Ende des Krieges drehte sich diese „unsichtbare Front“ jedoch um: Da flüchteten die letzten deutschen Soldaten in die Wälder. Manche schafften es, sich dort wieder zu organisieren. In Litauen nannte man diese Partisanen „Waldmenschen“, erst 1950 gelang es der Roten Armee, die letzten zu liquidieren, ihre herumirrenden Kinder wurden „Wolfskinder“ genannt. Etwa 100 von diesen Waisenkindern leben noch heute in Litauen, jüngst forderten sie eine Art „Waldrente“ von der deutschen Regierung. Auf der philipinischen Insel Lubang flüchteten 1945 einige japanische Soldaten vor den anrückenden Amerikanern in den Urwald. Einige wurden später von der örtlichen Miliz aufgespürt und getötet. Einer, Hiro Onoda, gab erst 1974 sein Waldversteck auf – und kehrte nach Japan zurück, ein anderer hielt sich sogar bis 1980 dort verborgen.
Den Partisanen, die in die Wälder gingen, wurden diese zunehmend vertrauter. In vielen Partisanenbiographien wird davon berichtet. Erwähnt seien die Erinnerungen des berühmten Partisanenkommandeurs Alexander Saburow, dessen „Partisanenwege“ durch die Brjansker Wälder führten. Von dort aus kämpfte auch der ehemalige Filmregisseur Pjotr Werschigora, sein „Tatsachenbericht“ hat den Titel „Im Gespensterwald“. In den „Schwarzen Wäldern“ spielte die Handlung der „Dokumentarerzählung“ von Semjon Zwigun: „Wir kehren zurück“. Das bulgarische Arbeiterehepaar Elena und Dobri Dshurow kämpfte als Partisanen in den Wäldern des Balkans: In ihrem Buch „Operationsbasis Murgasch“ wechselten sie sich kapitelweise beim Erzählen ab – ähnlich hielten es auch Jack und Rochelle Sutin in ihren Erinnerungen. Von Waldpartisanen im russischen Bürgerkrieg und von der darauffolgenden Aufbau- bzw. Aufforstungsperiode handeln die Bücher von Leonid Leonow: „Die Dachse“, „Das Werk im Urwald“ und „Der russische Wald“. „In den Wäldern Belorusslands“ hieß eine Sammlung von Erinnerungen deutscher und sowjetischer Partisanen. Einer, Sepp Gutsche, gab seinem Bericht den Titel „Der Sumpf – Freund der Partisanen“. Von einem anderen Deutschen, der zu den Partisanen überlief – Fritz Schmenkel – handelt Theodor Gladkows Buch „In den Wäldern von Smolensk“. Und eine Autobiographie von Donia Rosen hat den Titel: „The Forest, my Friend“. Einige Autoren sprechen in ihren Büchern vom Wald als von einem „Verbündeten“, andere – wie der weissrussische Partisanenführer Alexej Fjodorow – von einem „natürlichen Freund – aber auch diese Beziehung muß entwickelt und erarbeitet werden“.
Dabei kann es zu Rückschlägen kommen. Alex Feitelson schreibt: „Der Wald war mir fremd geworden…Ich wollte die Einsamkeit zwischen diesen Bäumen hinter mir lassen, die bis gestern meine beschützenden Freunde und seit heute die Verbündeten meiner Feinde waren.“ Gemeint sind die Deutschen, die angefangen hatten, die Wälder mit riesigen Aufgeboten zu „durchkämmen“ und speziell „den Rudniker Wald täglich bombardierten“, so dass er sich dort nicht mehr sicher fühlte.
In Odessa operierten die Partisanen statt von den Wäldern, die es dort kaum gab, von den riesigen Katakomben aus, die sich fast unter der ganzen Stadt ausdehnten. Und die vietnamesischen Bauernpartisanen gruben sich selbst ein umfassendes Netz unterirdischer Versorgungslager und -tunnel, das heute zu den großen Touristenattraktionen des Landes zählt. Daneben griffen sie jedoch auch – ebenso unsichtbar – aus den Wäldern heraus an, wobei sie zunehmend die Flora und Fauna zu nutzen verstanden: nicht zuletzt zu Heilzwecken. Während umgekehrt die US-Luftwaffe immer mehr Entlaubungsgifte über den Wäldern versprühte – 80 Millionen Liter insgesamt, um sie wieder ins Sichtbare zu zerren und zu vernichten. Der deutsche Psychiater Erich Wulff, der zu Zeiten des Krieges in Hué arbeitete, schrieb in seinem Buch „Lehrjahre in Vietnam“: Am Anfang war der „Vietkong fast ein Phantom“, aber nach und nach nahmen immer mehr Leute aus seiner Umgebung in Hué „Kontakt mit der Befreiungsfront“ auf, die irgendwo „da draußen auf dem Land bzw. im Dschungel“ war. Aber bald rückte die „befreite Zone“ näher: „Das Maquis war nicht mehr, wie 1964, ein Kuriosum, wo man seine Neugierde befriedigte. Es wurde immer mehr zum geistigen, politischen und organisatorischen Zentrum für die Orientierung der Menschen in der Stadt“.
Nach dem demoralisierenden „Deutschen Herbst“ 1978 wurde auf dem Berliner „Tunix-Kongreß“ das Unsichtbar-Werden qua Sich-Entfernen auch ganz wörtlich genommen: Als Abhauen aus diesem Land („Bloß weg!“). Auf dem internationalen Vietnamkongreß in Berlin 1968 hatte Peter Weiss noch, um „zwei, drei vielen Vietnam“ zu schaffen, wie es Ché Guevara gefordert hatte – zum Angriff geraten: „Unsere Ansichten müssen praktisch werden, unser Handeln wirksam. Dieses Handeln muß zur Sabotage führen, wo immer sie möglich ist. Dies fordert persönliche Entscheidungen. Dies verändert unser privates, individuelles Leben.“ – Bis schließlich „eine gemeinsame Front“ entstehe. Von der anderen Seite erlebte der o.e. Psychiater Erich Wulff damals die noch bestehende Differenz – zwischen hier und dort. Er war zwischendurch nach Deutschland zurückgekehrt und arbeitete wieder in einer Freiburger Ambulanz, wo ihn die Beschäftigung mit den psychischen Leiden der Mittelschicht jedoch bald langweilte: „In Vietnam hatte ich Krankheit als gewaltsamen Einbruch ins Studium, ins Arbeits- und Privatleben kennengelernt; der Arzt reparierte sie, wenn er konnte…Die Lebensumstände, in die der Entlassene zurückkehrte, waren oft empörend; aber der Arzt konnte dennoch das Gefühl haben, etwas geschafft zu haben, etwas Wirkliches; auch hatte die Überlegung Sinn, wie die Verhältnisse, die ständig Krankheit verursachten, sich ändern ließen. Die Änderung war nicht bloß denkbar, sondern es wurde im Land um sie gekämpft. Ein vielfältiger Prozeß der Veränderung nahm einen auf, bot Möglichkeiten des Eingreifens. Auch in persönlichen Freundschaften war solche Wirklichkeit greifbar: was mich mit Tuan, Mien u.a. verbunden hatte, beruhte vorrangig auf gemeinsame Stellungnahme zu den Ereignissen, war in seinem Kern Politik, Engagement für die Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse. Unsere Freundschaften waren niemals in der Fadheit des bloß Privaten eingeschlossen. Sie waren sozusagen in einem pathetischen Sinne republikanisch. In Vietnam hatte mich gesellschaftliche Wirklichkeit bis in die sogenannte Intimsphäre hinein betroffen und herausgefordert.“
Während dort der „Maquis“ den Städtern immer näher rückte – bis zum „Sieg im Volkskrieg“, und der Vietkong immer ununterscheidbarer wurde, „wie ein Fisch im Wasser“, so die maoistische Formel dafür, entfernten sich hier etliche Linke aus der Stadt: In den Sechzigerjahren flüchtete u.a. eine Gruppe von autistischen Kindern mit ihren Betreuern aus einer Anstalt in die Sicherheit und Abgeschiedenheit der Wälder in den Chevennen. 1972 berichteten letztere darüber in der Zeitschrift „Partisans“. In einem 2004 auf Deutsch erschienenen Bericht schreibt der Initiator Fernand Deligny – im Vorwort: „Die Erzählung meines Mitarbeiters Jacques Lin lädt die Leser dazu ein, das Weite zu suchen…, was ein Abenteuer anderer Art ist, als mit einem Hundeschlitten zum Nordpol zu fahren; wir suchen, nach dem, was das Menschliche ausmacht.“
Wenn man sich entfernt – statt sich spektakulär in den Vordergrund zu drängen, wird man immer kleiner. In diesem Zusammenhang sprachen die französischen Marxisten Gilles Deleuze und Félix Guattari, die man zu dem Tunix-Kongreß eingeladen hatte – in ihrem Buch „Anti-Ödipus“ – zunächst von einem „Klein-Werden Schaffen“, sodann – in ihrem Buch „1000 Plateaus“ und ausgehend von Kafkas „Verwandlungen“ – von einem Frau-Werden, Schwarz-Werden und Tier-Werden sowie von einem Molekular- bzw. Bakterie-Werden – und schließlich von einem gänzlich „Unwahrnehmbar-Werden“.
Diese „Strategie“ kam bereits im Maji-Maji-Aufstand“ zum Tragen, der von 1905 bis 1908 in Ostafrika stattfand – und sich gegen die deutsche Kolonialherrschaft richtete. Maji heißt Wasser. Gemeint ist damit aber eine „Kriegsmedizin“ auf der Basis von Wasser, die der „Prophet Kinjikitile“ den Kämpfern u.a. in einem Amulett mit auf den Weg gab, gleichzeitig startete er eine großangelegte „Flüsterkampagne“ – mit einer geheimen Kriegsbotschaft, die gegen Bezahlung weiter gegeben wurde. Die Medizin sollte die Mitkämpfer – verbunden mit einer neuen Moral: Keuschheit und Besitzlosigkeit – vor den Kugeln der deutschen Gewehre, vor allem ihrer Maschinengewehre, schützen: die Krieger also unverwundbar machen. Als das Maji bei Angriffen nicht half, konnten die Boten des Propheten zunächst argumentieren: Ihr wart nicht enthaltsam genug und geplündert habt ihr auch. Zwar war später auch von „Betrug“ die Rede, aber es gab daneben viele Krieger – wie z.B. Mzee Mazepale Luoga, die nie an das Maji-Mittel geglaubt hatten, sich aber dennoch am Kampf gegen die Deutschen beteiligten, weil sie die Kolonialherrschaft nicht länger ertrugen. Der Aufstand vereinigte erstmals zwanzig Stämme, die sich zuvor teilweise bekriegt hatten. Einige Stämme wiesen die Maji-Medizin zurück, mit der Begründung, ihre eigenen Heiler hätten ebenso brauchbare Mittel – z.B. solche, die sie und ihre Dörfer im Falle einer Gefahr unsichtbar machen würden, indem sie sie in Termitenhügel oder Wälder verwandeln.
Der Schweizer Psychoanalytiker Paul Parin erforschte kurz nach dem Krieg in Jugoslawien die dort nach der Demobilisierung massenhaft aufgetretene „Partisanenkrankheit“. Diese besteht kurz gesagt darin, auch nach dem Sieg nicht mit dem Kämpfen aufhören zu können. Parin führte sie auf die strenge Sexualmoral der jugoslawischen Partisanen – mit Ausnahme der slowenischen zurück, bei denen diese „Krankheit“ dann auch nicht auftrat. Im Volk war demgegenüber die Meinung verbreitet, dass die ehemaligen Partisanen, vor allem die MG-Schützen, deswegen „Kampfanfälle“ bekamen, weil die vielen Menschen, die sie umgebracht hatten, sie allzu sehr „belasteten“. Dazu trug auch ein Spielfilm von Velko Bulajic „Nachkriegszeit“ bei, in dem u.a. ein an dieser „Krankheit“ leidender Partisanenveteran gezeigt wurde. Daneben hat sich insbesondere Frantz Fanon – in Algerien – mit dem Zusammenhang von Kolonialkrieg und psychischen Störungen befaßt.
Neben einer solchen „Störung“, heute würde man „Trauma“ sagen (2), kennen die Partisanen aber auch noch eine andere: Die Waldkrankheit. Der polnische Schriftsteller Yuri Suhl hat sie in seinem Roman „Auf Leben und Tod“, der von jüdischen Partisanen in einem ukrainischen Wald handelt, die unter der Führung von Mischa Gildenmann kämpften, beschrieben, wobei er sich auf eine Krankenschwester in einem Waldlager berief, die über dieses Leiden einen ihrer Patienten aufklärte: „Der Wald kann dich heilen und krank machen. Einige Partisanen haben jahrelang Krankheiten gehabt, die im Wald verschwanden. Keiner weiß warum. Es ist ein Rätsel. Und andere, die vorher nie etwas gehabt haben, werden krank, so wie du, mit hohem Fieber und Schüttelfrost.“ Der Partisanenwald wird zu einem Raum, der sie depersonalisiert. (3) Der noch jugendliche Waldkranke wurde nach seiner Genesung in der Kreisstadt unter den Deutschen eingesetzt, wo er erfolgreicher war. Wenn die „Partisanenkrankheit“ vor allem junge ungebildete Bauern befiel, wie Parin meint, dann litten unter der „Waldkrankheit“ vor allem Leute aus der Stadt.
Aber auch dort ging es für sie gewissermaßen darum, Unwahrnehmbar zu werden – nur dass hier die Kultur an die Stelle der Natur trat. Dazu wurde dem e.e. Jugendlichen eingeschärft, Folgendes zu beachten: 1. „Für einen Juden, der als Nichtjude überleben will, gibt es nichts Schlimmeres, als einen ängstlichen Eindruck zu machen. Angst ist noch schlimmer als Trauer.“ 2. Muß er gutes Ukrainisch sprechen: „Für einen Juden im Ghetto ist das wie ein Reisepaß für die arische Seite“. Sprachen „können heute über Leben und Tod entscheiden.“ 3. Braucht er „Verbindungen“. Das war in seinem Fall ein Ukrainer, „dem man vertrauen kann, mit dem wir zusammenarbeiten.“ Und schließlich benötigt er neben einem „guten Gesicht, guten Papieren und akzentfreiem Ukrainisch eine Verkleidung“ – z.B. als Bettler oder Musiker. Aber auch jede andere Verkleidung, „die funktioniert, ist gut.“
Vom Wert der Kleidung – als optimale Verkleidung, um unerkannt agieren zu können, berichten viele Partisanen. So schützten sich die jüdischen Kuriere, indem sie sich äußerlich an die Deutschen anglichen. Shmuel Ron berichtet: „Ich war verantwortlich für eine Gruppe von Mädchen mit ‚arischem‘ Aussehen, die dazu bestimmt waren, auf der ‚arischen Seite‘ tätig zu sein, und ich begann, mich auch auf das Fälschen von ‚arischen‘ Papieren zu spezialisieren.“ Rochelle Sutin verkleidete nach der Befreiung ihren Mann Jack als Frau, damit er nicht noch zur Roten Armee mußte: „Das hat ihm das Leben gerettet, ich weiß es.“ Andere Partisanen schworen auf bestimmte Kleidungsstücke, einen Hut etwa, der so etwas wie eine „magische Schutzfunktion“ für sie besaß. Andersherum entledigt sich z.B. die tschetschenische Kriegsberichterstatterin Heda Saratowa heute ihres Kopftuchs, wenn sie in Moskau ist: „Muslimin bin ich auch ohne Kopftuch,“ sagt sie und dass sie in Moskau nicht auffallen will: „Hier fühle ich mich unbeobachtet.“
Ebenfalls um nicht aufzufallen, passen sich mitunter gleich mehrere Arten der dominierenden Farbe einer Region an: „So traf ich im südlichen Brasilien eine ganze zirkumskripte Waldstelle, bei der mir sofort die lebhafte Blaufärbung aller hier vorhandenen Tiere auffiel. Von zwanzig Schmetterlingen, welche an mir vorüberflogen, waren wenigstens zehn ganz blau und die übrigen zum Teil,…- diese Übereinstimmung der Farben erstreckte sich aber nicht allein auf die Schmetterlinge, sondern auch Käfer, Hemiteren, Dipteren zeigten alle mehr oder weniger blauen Schimmer. Das merkwürdigste bei dieser Erscheinung war ihre enge Begrenzung. Nur wenige Meilen nach Norden von dieser Örtlichkeit hatte die Vorliebe für Blau nicht nur aufgehört, sondern es erschien die rote Farbe in ähnlicher Weise dominierend, wenn auch nicht in so auffälligem Grade,“ schreibt von Hanstein in seiner „Biologie der Tiere“. In den Elephant Mountains im südlichen Kambodscha wirbt heute die Verwaltung des Nationalparks Bokor damit, dass dort alle Tiere schwarz sind: Tiger, Cobras, Bären und Vogelspinnen… Auch die Partisanen, die in den Wäldern ihr Hauptquartier errichteten, wählten eine einheitlich schwarze Kleidung. Diese wurde dann für alle Kampfabteilungen der Roten Khmer obligatorisch – und schließlich sogar für alle Kambodschaner. Caillois erwähnt im Zusammenhang seiner Mimeseforschung englische Schmetterlinge, die in den Industriegebieten ebenfalls dazu neigen, die Farbe Schwarz anzunehmen. Auf Menschen und ihre soziale Umgebung bezogen, hat Woody Allen diese Neigung 1983 mit seinem Film „Zelig“ thematisiert.
Im Maji-Maji-Aufstand verwandelte sich ein Teil der Aufständischen nicht nur wie die französischen Partisanen namentlich oder metaphorisch in Wälder, sondern sogar buchstäblich. Geschah dies durch das, was die Naturforscher Mimikry oder Mimese nennen? Roger Caillois hat die Mimese in seinem Buch „Méduse & Cie“ von ihrer darwinistischen Verklammerung mit der „Nützlichkeit“ gelöst – und sie als ästhetische Praxis begriffen: So versteht er z.B. die falschen Augen auf den Flügeln von Schmetterlingen und Käfern als „magische Praktiken“, die abschrecken und Furcht erregen sollen – genauso wie die „Masken“ der so genannten Primitiven. Und die Mimese überhaupt als tierisches Pendant zur menschlichen Mode, die man ebenfalls als eine „Maske“ bezeichnen könnte – die jedoch eher anziehend als abschreckend wirken soll. Wobei das Übernehmen einer Mode, das „auf eine undurchsichtige Ansteckung gründet“, sowohl auf das Verschwinden-Wollen (in der Masse) als auch auf den Wunsch, darin aufzufallen hindeutet.
Manche verfallen jedoch gerade in Situationen, wo es darum geht, Unwahrnehmbar zu Werden, darauf, sich Hervorzutun – z.B. all jene meist weiblichen Kuriere der Aufständischen, die sich besonders auffällig anziehen und auch so geben, d.h. Oberschichtfrauen nachahmen, damit sie bei etwaigen Kontrollen kein Mißtrauen erregen bzw. die Kontrolleure von ihnen wie geblendet und eingeschüchtert sind.
„Die Insekten machen es genauso,“ meint Caillois, indem sie z.B. Wespen nachahmen: „Coleopteren, Lepidopteren, Orthopteren wetteifern regelrecht miteinander, sich die unvermeidliche Gestalt und Lebensart anzueignen.“ Caillois nennt diese Form der Mimese auch „Travestie“ (Verkleidungskunst). „Wenn es gilt, wie eine Wespe auszusehen, werden die Flügel transparent; der Hinterleid ist mit dem Vorderleib nur mehr durch einen winzigen Stiel verbunden, er ist schwarz-geld geringelt; der Flug ist laut und lebhaft, das Gebahren drohend. Die falsche Wespe schauspielert.“
Im Zusammenhang einer anderen Form der Mimese – der „Tarnung“, als „dem Streben nach Unsichtbarkeit“ – sei ferner der Zapatistensprecher Subcomandante Marcos erwähnt, der paradoxerweise stets mit einer schwarzen Maske auftritt. Dahinter verstecke sich, so erklärte er 1994, „eine Mehrheit, die sich als nicht tolerierte Minderheit verkleidet. In bezug auf all das Gerede, ob Marcos schwul ist: Marcos ist ein Schwuler in San Francisco, Schwarzer in Südafrika, Asiat in Europa, Chicano in San Isidro, Anarchist in Spanien, Palästinenser in Israel, Indigena in den Straßen von San Cristobal, Kinderbande in Nezahualcoyotl, Rocker in Ciudad Universitaria, Jude in Deutschland, Feministin in politischen Parteien, Kommunist in der Zeit nach dem Kalten Krieg, Gefangener in Cintalapa, Pazifist in Bosnien, Mapuche in den Anden, Lehrer in der CNTE, Künstler ohne Galerie und Aufträge, Hausfrau an einem Samstagabend in irgendeinem Viertel irgendeiner Stadt irgendeines Mexikos, Guerillero im Mexiko des ausgehenden Jahrhunderts, Streikender in der CTM, Journalist von Fülltexten für die Inlandseite, Macho in der feministischen Bewegung, Frau, die alleine um zehn Uhr nachts in der Metro sitzt, Rentner als Wachposten auf dem Zocalo, Bauer ohne Land, verarmter Verleger, arbeitsloser Arbeiter, Mediziner ohne Arbeitsplatz, unzufriedener Student, Dissident im Neoliberalismus, Schriftsteller ohne Bücher und Leser – und ist sicherlich Zapatist im Südosten Mexikos. Letztendlich ist Marcos irgendein Mensch in dieser Welt. Marcos sind all die nicht tolerierten, unterdrückten Minderheiten, die nicht aufgeben…“ Ähnlich sagte es die ebenfalls maskierte zapatistische Mayorin Ana Maria auf dem Intergalaktischen Treffen 1996 in ihrer Eröffnungsrede: „Hinter unseren Masken steckt das Gesicht aller ausgeschlossenen Frauen und aller vergessenen Indigenas….“
In der Zeitung Le Monde versuchte sich auch Michel Foucault einmal als „maskierter Philosoph“ – indem er sich interviewen ließ, ohne dass sein Name genannt werden durfte. Er wollte damit einer Tendenz entgegenwirken, die darin besteht, „dass heute das, was gesagt wird, weniger zählt als die Person dessen, der etwas sagt“. Zuletzt -1984 kam er noch einmal darauf zurück, indem er der Presse gegenüber das „Recht auf Anonymität und auf ein Pseudonym“ geltend machte. Zu letzterem gehören auch die maskenhaften „Decknamen“ (Noms de Guerre) der Partisanen, aus denen nach dem Sieg reguläre Namen werden: Lenin, Trotzki, Stalin etc.. Daneben aber auch die Decknamen und erfundenen Biografien von Kundschaftern, wenn sie beschließen, damit ebenfalls nach dem Krieg weiter zu leben – womit sie in gewisser Weise ebenfalls demonstrieren, dass sie unfähig sind, mit dem Kampf aufzuhören. Wiktor Botschkarjow, einst Oberst beim sowjetischen Nachrichtendienst, erwähnt in seinen Erinnerungen zwei, deren Führungsoffizier er war: So legendierte er z.B. eine Kundschafterin, die er in einem Gefangenenlager rekrutiert hatte, als Witwe eines deutschen Wehrmachtsoffiziers, der an der Ostfront gefallen war. Auch nach dem Krieg lebte sie weiterhin mit dieser Legende und erhielt sogar mit ihren gefälschten Dokumenten eine Pension als Hauptmannswitwe in Hamburg. Und ein über Deutschland abgesprungener Agent, der sich erfolgreich in einer Großstadt legalisierte, indem er ans Theater ging und Schauspieler wurde, lebte mit der für ihn erarbeiteten Legende bis an sein Lebensende.
Man kennt Jacques Lacans Diktum „La Femme n’existe pas!“ Die Frau gibt es nur im Plural: das ist so, weil sie patriachal vorgeschrieben bekommt, wie sie auszusehen, sich zu verhalten und zu denken hat. „Big tits and Blondes come everywhere!“ – Aber nur, so lange sie jung sind, sie müssen sich also beeilen – um nicht aus dem Bild und damit aus dem männlichen Begehren zu fallen, das in der Frau, folgt man hierbei Günther Anders, meist nicht das Individuum, sondern nur das Allgemeine wahrnimmt. Mit Roland Barthes könnte man auch sagen: „Sich ein Bild von jemandem machen, heißt eine lebendige Beziehung zerstören.“ Inzwischen gilt jedoch mit dem Übergang von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft, dass auch der Mann nicht mehr im Singular existiert. Er joggt, er geht ins Fitnesscenter, ins Solarium, korrigiert seine Nase, seine Ohren usw. Auch hier kann man diese ganze vermeintlich freiwillige Selbstzurichtung, um die eigene „availiability“ zu steigern, darwinistisch mit dem Nützlichkeitsbegriff fassen – zumal sie aus Amerika über uns gekommen ist, wo es vor allem um den persönlichen Erfolg geht.
„Vom Vorurteil der Anpassung“ – so betitelte ein FAZ-Autor seine Rezension des o.e. Caillois-Buches. An einer Stelle heißt es darin: „Caillois‘ Vorbehalt richtet sich gegen die Selbstverständlichkeit, mit der das Grundmodell differentiell wirkender Selektionsdrücke und damit das Kriterium des Überlebensnutzens von ‚Anpassungen‘ in Anschlag gebracht wird. In dieser Verabsolutierung des Nutzens, so Caillois, zeige sich eine tiefwurzelnde Voreingenommenheit. Gegen ein solches ‚Vorurteil‘ tritt er mit seiner These an, dass die Formen und Verhaltensweisen der Insekten genauso wie bestimmte ästhetische Vorlieben und Faszinierbarkeiten der Menschen sich auf eine gemeinsame Basis zurückführen lassen: auf den Formenvorrat einer bildnerischen Natur, deren spielerisch zweckfreies Wirken sich im Naturreich ebenso niederschlägt wie in der vom Naturzwang freigesetzten Sphäre menschlicher Imagination.“
Anders herum: Wenn es z.B. über die Maji-Maji-Mittel von deutscher Seite bis heute keine Berichte gibt, dann heißt das vielleicht bloß, dass man diese wie auch alle anderen „Kriegsmedizinen“ für schamanistischen Schwindel hielt und hält. Oder aber, dass das Mittel nur allzu gut wirkte – und die Kämpfer bzw. ihre Dörfer für die Deutschen tatsächlich unwahrnehmbar geworden waren. Der heutige Staat Tansania, der nun – jedenfalls vordergründig – frei von aller weißer Herrschaft ist, hat dem Maji-Propheten Kinjikitile vor einigen Jahren ein Denkmal errichtet. Außerdem gibt es ein Drama und viele Gedichte über ihn sowie auch eine linke Jugendzeitung mit dem Namen „Maji-Maji“. „Im Süden gaben die Makua den Kampf auf, nachdem sich Maji beim Angriff auf die Missionsstationen als wirkungslos erwies,“ schreibt Jigal Beez in seiner Magisterarbeit „Geschosse zu Wassertropfen“. Und weiter heißt es dort: „doch im nördlichen Umakonde begann auf dem von dichtem Busch bewachsenen Plateau ein Guerillakrieg,“ d.h. nach dem gescheiterten Aufstand hörte der Widerstand nicht auf. Kinjikitile wurde als ein Sohn oder Prophet des Gottes Hongo begriffen, er war aber auch ein „Trickster“ – ein „marginal man“ nennt ihn Jigal Beez – und sein Wunderwasser beruhte in der Wirkung auf einer „magischen Formel“. Noch 1964 „flohen im Kongo die Regierungssoldaten vor Kriegern, die ‚Muele-Mai‘ riefen und denen die Kugeln nichts anzuhaben schienen.“ Und seit dem „Krieg gegen Mobutu“ gibt es dort bis heute „Mai-Mai“-Guerillas. In gewisser Weise kann man rückblickend sagen, dass Kinjikitiles Mittel, mit dem „eine neue Moral etabliert wurde“ – langfristig – durchaus gewirkt hat. Wenn dies auch für die anderen damals zum Einsatz gekommenen Kriegsmedizinen gilt, z.B. die, mit dem sich ganze Dörfer in einen Wald verwandeln lassen, dann stellt sich die Frage: Was geschah danach mit den Aufständischen – blieben sie Wald, Wälder gar?
Umgekehrt wissen wir, dass sich ganze Wälder auf die Seite der Aufständischen schlugen. So ist z.B. im altkeltischen Versepos „Cad Caddeu“ von einer „Schlacht der Bäume“ die Rede und dass die Druiden die magischen Mittel besaßen, „Bäume in Krieger zu verzaubern, um sie in die Schlacht zu schicken“. Robert Ranke-Graves meinte, dass es sich dabei um einen „Kampf“ handelt, „der geistig in den Köpfen und in der Sprache der Weisen geführt“ wurde. Aber auch Plinius der Ältere spricht in seiner „Naturgeschichte“ davon, dass die Eichen an der Nordsee so dicht standen, und im Sturm als Inseln weiter aufrecht stehend abtrieben, dass die römischen Truppen „eine Seeschlacht gegen die Bäume anfingen“. In der Shakespeareschen Tragödie „Macbeth“ gibt es eine Prophezeiung: Wenn der Birnam-Wald von Dundee sich zur Burg bewegt, ist es mit der Herrschaft dort vorbei. Die schottischen Aufständischen realisierten daraufhin diese Prophezeiung, indem sie sich mit Zweigen tarnten, als sie gegen die Burg vorrückten – und sie einnahmen.
Wie Forstwissenschaftler herausfanden, kamen die zurückgehauenen Wälder Mitteleuropas in früheren Zeiten den Rodungssiedlungen tatsächlich immer wieder derart nahe, dass die Siedler aufgaben und sich woanders niederließen. Der Wald war auch und gerade für die von und in ihm Lebenden bedrohlich. „Die mitteleuropäische Geisteskultur hat sie mit zahlreichen Figuren der Wildnis bevölkert, mit Riesen, Zwergen, wilden Jägern, Bären, Wölfen und anderen Wesen…,“ schreibt der Geobotaniker Hansjörg Küster in seiner „Geschichte des Waldes“. Und in ihrem „Film about a Forest“ mit dem Titel „Uhri – die Opfergabe“, in dem es um das Leben von sibirischen Jägern geht, kommen die Filmemacher – die Ethnologin Lapsui und der Förster Lehmuskallio – zu dem Schluß, dass die Taiga – der Wald – für Tundra-Nenzen immer noch beunruhigend und unheimlich ist. Er ist ihnen, da sie von einer beseelten Natur ausgehen, „zu voll“. Sogar die Taiga-Selkupen schützen ihren fest bebauten Sommerplatz mit einem Holzzaun vor den zu vielen Waldgeistern. Der aus Sibirien stammende Dichter Jewgeni Jewtuschenko machte sich umgekehrt in seiner Biographie „Der Wolfspaß“ über seine städtischen Freunde aus Westrussland lustig, die, wenn sie mit ihm einen sibirischen Wald betreten, plötzlich ganz ängstlich werden – und überall Gefahren vermuten.
Umgekehrt heißt es in einem berühmten Gedicht von Nazim Hikmet: „Leben einzeln und frei wie ein Baum/ Und dabei brüderlich wie ein Wald/Diese Sehnsucht ist alt.“ Dies kommt einer Bemerkung von Jack und Rochelle Sutin nahe, die nach der Befreiung durch die Rote Armee die Erfahrung machten, dass sie sich im Waldlager „in gewisser Hinsicht wohler fühlten: Dort hatte Kameradschaft geherrscht“.
Dieser partisanische Rückblick berührt sich mit der forstwissenschaftlichen Sicht vieler sowjetischer Biologen, die sich statt auf den dortigen Konkurrenzkampf eher auf symbiotisches Zusammenwirken konzentrierten: „Es klingt paradox, aber der Wald braucht den Wald,“ so sagte es einer von ihnen und fügte hinzu: „Sonst stünden viel mehr Bäume einzeln, wo sie sich doch angeblich besser entfalten könnten.“ Der in den Dreißiger und Vierzigerjahren führende Agrarbiologe der UDSSR Trofim D.Lyssenko empfahl deswegen bei der Wiederaufforstung gleich die Anpflanzung von Bäumen in „Nestern“. Er begründete dies sehr revolutionsromantisch: „Erst schützen sie sich gegenseitig und dann opfern sich einige für die Gemeinschaft“. Der Forstwissenschaftler G.N. Wyssozki ging nicht ganz so weit, aber auch er unterschied zwischen vegetativem Freund und Feind: Damit z.B. die Eiche gut wachse, dürfe man sie nicht zusammen mit Eschen und Birken anpflanzen, sondern sollte sie „von Freunden umgeben“ – Büsche: Weißdorn, gelbe Akazie und Geißblatt z.B.. Laut dem Wissenschaftsjournalisten M. Iljin lehrte uns bereits der Gärtner Iwan W. Mitschurin, „dass sich im Wald nur die verschiedenen Baumarten bekämpfen, aber nie die gleichen“. (4) Der russische Wald wird von der Steppe bedroht. Deswegen riet Lyssenko: aus Eiche (Wald) und Weizen (Feld) Verbündete gegen sie zu machen. Seinen Vorschlag begründete er quasi partisanisch: „Wenn einer zwei andere stört, dann lassen sich diese beiden stets, mindestens für einige Zeit, gegen ihren gemeinsamen Feind verbünden.“ Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es heraus, möchte man dazu anmerken. Die Möglichkeit des Untertauchens in diesen komplett auf Nutzen hin durchforsteten Generationenwäldern wird anscheinend jedoch zunehmend schwieriger…
Bereits der bei den italienischen Partisanen mitkämpfende Stuart Hood kam in seinem 2002 veröffentlichten Buch darüber zu dem Schluß: Nunmehr könne – wegen der fortgeschrittenen Zerstörung der Wälder und der bäuerlichen Kultur – „auf dem Land kaum mehr ein Maquis aufgezogen werden“. Deswegen sei nur noch – wenn überhaupt – eine Stadtguerilla möglich – über die Hood dann auch mehrere Bücher schrieb. Kann man aber in der Stadt auch eine Art von „Wald-Werden“ schaffen? Wo der darwinistische Kampf Jeder gegen Jeden laut Zygmunt Baumann „von der mit der Furcht Handel treibenden Propaganda der zivilisierten Ordnung als das Gesetz des Dschungels“ verklärt wird…? Die Tupamaros waren in Montevideo zu ihrer Hochzeit derart durch die Unterstützung der Stadtbevölkerung geschützt, dass der Regisseur Costa-Gavras seinen Film über sie und ihre Aktionen (u.a. die Entführung und Ermordung des US-Folterspezialisten Dan Mitrione) den Titel „Der unsichtbare Aufstand“ gab.
Der französische Soziologe Michel de Certeau vertraute dagegen weniger auf die Fähigkeiten von Kaderorganisationen und ihrer Sympathisanten als auf die Instinkte des kleinen Mannes (von denen im übrigen auch Jack Sutin spricht), mit denen er die Gesetze, Zwänge, Ordnungen und Zumutungen der modernen Ökonomie – besonders in den „elektronisierten“ Großstädten – immer wieder zugunsten seiner eigenen Interessen und Neigungen „umfrisiert“, wobei solche Akte nahezu spurlos seien und vor allem werklos. Dennoch würden sich diese operationalen Leistungen auf sehr alte Kenntnisse zurückführen lassen: „Die Griechen stellten sie in der Gestalt der ‚metis‘ dar. Aber sie reichen noch viel weiter zurück, zu den uralten Intelligenzien, zu den Finten und Verstellungskünsten von Pflanzen und Fischen, Jägern und Landleuten. Vom Grunde der Ozeane bis zu den Straßen der Megapolen sind die Taktiken von großer Kontinuität und Beständigkeit. In unseren Gesellschaften vermehren sie sich mit dem Zerfall von Ortsbeständigkeit“. Der Semiologe Roland Barthes versuchte flankierend dazu – dem „Unwahrnehmbar-Werden“ mit einer neuen Sinngebung des „Neutrums“ nahe zu kommen, wozu er u.a. auch die „Androgynie“ zählte – also eine geschlechtliche Unschärfe, wenn man so sagen darf. An anderer Stelle unterscheidet er die Metasprache, die in der Stadt gesprochen wird, von der Objektsprache – auf dem Land. „Die erste Sprache verhält sich zur zweiten wie die Geste zum Akt: Die erste Sprache ist intransitiv und bevorzugter Ort für die Einnistung von Ideologien, während die zweite operativ und mit ihrem Objekt auf transitive Weise verbunden ist.“ Als Beispiel erwähnt er den Baum: Während der Städter über ihn spricht oder ihn sogar besingt, da er ein ihm zur Verfügung stehendes Bild ist, redet der Dörfler von ihm – gegebenenfalls fällt er ihn auch. Und der Baum selbst? Wenn der Mensch mit einer Axt in den Wald kommt, sagen die Bäume: „Sieh mal! Der Stiel ist einer der Unsrigen.“ Dies behaupten jedenfalls die Waldarbeiter in der Haute-Savoie.
Einen anderen Akt operativer Verwandlung schilderte Wiktor Pelewin in seiner Erzählung „Werwölfe in der mittelrussischen Ebene“ (die er später zu einem ganzen Buch erweiterte). In seiner Kurzgeschichte geht es darum, wie sich heute auf den Waldlichtungen in Weissrussland nächtens kriminelle Banden in Wölfe verwandeln, wobei sie nach alter Partisanenart die Angewohnheit beibehalten, Kommandeure und Kommissare sowie deren Stellvertreter zu wählen. Und diese Wölfe wiederum wandern dann als Schlepperbanden über die Oder und Neiße nach Ostdeutschland ein, wo sie ganzjährig geschützt sind, umhegt von vier vollbezahlten so genannten „Wolfsfrauen“ (Biologinnen), denen gegenüber sie allerdings – bis jetzt jedenfalls – „unsichtbar“ geblieben sind: zur Sicherheit. Den umgekehrten Fall schilderte Thomas Pynchon in seinem Roman „Mason & Dixon“, dort verwandelte sich ein (englischer) Werwolf namens Ludewik, der in einem unterirdischen Tunnellabyrinth überlebt hatte, regelmäßig und zum Schrecken seiner Mitmenschen in einen „glatt rasierten, etwas schmalen Jüngling“ – einen „Durham-Dandy in Silberbrokat“. Zwei Arten des Unwahrnehmbar-Werdens in der Postmoderne. Die letztere erinnert an Picasso, der einmal dem französischen Verteidigungsministerium, dass ihn nach einem Tarnanzugentwurf für Fallschirmspringer gefragt hatte, riet: „Verkleidet sie als Harlekine!“ Zum einen geht es um eine quasi urbane Verwandlung in der Wildnis und zum anderen um die wilde Verwandlung in einen Stadtbürger.
Vom „Untertauchen“ als Verwandlungs-Projekt einer kleinen elitären aber militanten Gruppe in Kalifornien handelt ein Roman von Jim Dodge „Die Kunst des Verschwindens“ (2000). Einen ähnlichen Verschwörungsroman schrieb in Russland bereits der ehemalige Miliz-Untersuchungsführer Sergej Alexejew: „Der Schatz von Walkirij“. Er handelt von einer versteckt in alten Bergwerkskatakomben im Ural sich formierenden neuen Komintern: „Zu Alexejews Lesungen kommen immer wieder Fans, die sich persönlich für die Walkirij-Auserwählten (Adepten) halten oder sogar bereits im Untergrund leben,“ berichtete Wladimir Kaminer. „In Dodges ,Kunst des Verschwindens'“ nun, schreibt Thomas Pynchon im Vorwort, „wird man nicht nur eine Gabe für Prophetisches bemerken, sondern auch eine ständige Verherrlichung jener Lebensbereiche, wo noch bar bezahlt wird – und die sich daher dem digitalen Zugriff widersetzen.“ Thomas Pynchon bezeichnet das Buch deswegen auch als erstes Beispiel „für einen bewusst analogen Roman“. Das Gegenteil davon dürften die Essays von Paul Virilio sein, die auf Deutsch unter dem Titel „Die Ästhetik des Verschwindens“ veröffentlich wurden: Bei Virilio handelt niemand von Bedeutung mehr analog, wenn überhaupt noch jemand handelt. Dodges Roman wurde 1987 bereits von Jean Baudrillard „vorgedacht“ – in seiner Habilitationsschrift „Das Andere selbst“, in der es um die „Verführung als letzte Chance“ geht: „Wie tarnt man sich? – Wie verstellt man sich? – Wie stellt man sich mit seiner Aufmachung, seinem Schweigen, seinem Zeichenspiel, seiner Indifferenz am besten zur Schau – in einer Strategie des Scheinhaften? Die Verführung also als Erfindung von Körperstrategemen, als Tarnverfahren zum Überleben, als beständiges Auslegen von Ködern, als Kunst des Verschwindens und der Abwesenheit, als Abschreckung, die an Wirksamkeit diejenige des Systems noch übertrifft.“ Aus der Frage „Was tun?“ wird nun: „Wie tarnt man sich?“ Das Buch von Dodge ist dazu eine Art Curriculum Vitae – in dem Initiation, Lehre und Ausbildung eines jungen Adepten geschildert werden, wobei ausgehend von den New-Age-Therapien in Kalifornien ein ganzes globales Set von alchemistisch-pharmazeutisch und indianisch-mystisch angereicherten Zen-Buddhismen ins Spiel kommt. Zudem war die Mutter dieses Auserwählten bereits eine ausgewiesene Outlaw, so dass seine partisanische Erziehung quasi schon in der Gebärmutter begann.
Das plötzliche Verschwinden für immer thematisierte 2004 Rudi Stoert in einem Bericht in der Berliner Zeitschrift „Gegner“. Es ging darin um einige junge Hardcore-Fixer auf den Bahnhöfen der Berliner U-Bahnlinie 8, die auf einmal nicht mehr da waren. Auch der Autor verschwand dann – aus drogentherapeutischen Gründen: zuerst nach Chiang-Mai im Norden Thailands, von dort aus in ein nahes buddhistisches Kloster und dann nach Burma…
Ebenfalls mit „Drogen“ operierte bereits die jugoslawische Partisanin Jara Ribnika im Zweiten Weltkrieg, wie sie in ihren „Erinnerungen“ schreibt: Als sie, um ihren Mann aus dem Gefängnis frei zu bekommen, beim Gestapochef für den Balkan, Dr.Weinmann, vorsprechen mußte, gab ihr ein Belgrader Freund den Rat, „nicht als vergrämte und vernachlässigte Frau eines Gefängnisinsassen dort zu erscheinen: ‚Sie müssen eine Dame sein'“. Von einem Ehepaar aus der Nachbarschaft, er war ein Jude aus Odessa und sie eine Deutsche aus Berlin, die für ihren Mann erfolgreich gekämpft hatte, bekam sie eine „Zauberpille“, die sie kurz vorher einnahm – und tatsächlich: „alle meine kleinen, kleinsten, mittleren und großen Erfolge waren mit mir, in mir. Niemand kam mir gleich“. Als sie das nächste Mal Dr.Weinmann besuchte, nahm sie vorher wieder diese Kriegsdroge ein – und wirklich bekam sie ihren Mann frei.
Die „Kriegsmedizin“ von vielen Partisanen im Zweiten Weltkrieg bestand aus einer Zyankalikapsel. Auch Shmuel Ron besaß eine. Als er jedoch ein Bunkerversteck überstürzt verlassen mußte, ließ er alles zurück: „…vor allem meine Kapsel mit Zyankali. Nur wenige von uns besaßen einen solchen Schatz.“ Später – im Gefängnis – besorgte ihm jemand neues „Gift“, als er nach Auschwitz kam, stellte er jedoch fest, „dass es sich bei diesem ‚Gift‘ nur um ein starkes Beruhigungsmittel handelte.“ Die Ehefrau des Aufstandsführers im Warschauer Ghetto, Alina Margolis-Edelmann, berichtet, daß ihre Mutter, eine Ärztin, ein ihr anvertrautes krankes Kind mit einer Dosis Morphium tötete, die sie eigentlich für sich aufbewahrt hatte – was jedem, der eine solche Ampulle, die „damals den Wert von Gold besaßen, ein wunderbares Gefühl der Sicherheit gab“, denn damit konnte man den Zeitpunkt seines endgültigen Verschwindens selbst bestimmen.
Zur Medizin zählen auch die magischen Mittel. Sie werden mitunter mit ebensolchen Mitteln bekämpft, um Gleiches mit Gleichem quasi zu neutralisieren. Im Norden Ghanas kam es 1995 zu einem Krieg zwischen den Dagomba und den Konkomba. Viele Dörfer wurden zerstört und über 1000 Menschen getötet. Die Heiler der Konkomba bestimmen die Angriffe mithilfe eines Huhn-Orakels und ihre Kämpfer besitzen ebenfalls ein Mittel, das Unverwundbarkeit über das Unwahrnehmbar-Werden bewirken soll – und zwar dadurch, dass man damit ein Steppengras-Werden und/oder ein Leopard-Werden schafft. Allerdings nur solange die Krieger sich vor der Berührung mit Wasser hüteten – und sich z.B. nicht wuschen. Bei den „Leopardmenschen“ handelt es sich um eine alte schwarzafrikanische Werdung, die immer wieder in Krieger-Bünden entsteht. Wenn diese vom (Kolonial-) Staat allzu hartnäckig bekämpft werden, verwandeln sie sich in „Verbrechensgesellschaften“ (den „hommes-léopards“). In Kumasi nun fing man einen der vermeintlich unverwundbaren Kämpfer. Er wurde getötet. Um seinen möglicherweise anhaltenden Zauber zu brechen, schlug man ihm anschließend auch noch den Kopf ab und tunkte diesen in Wasser, wobei es in den Kopf eindringen mußte, so wurde gesagt. Danach wurde er dann photographiert und das Photo hernach als Postkarte auf allen Märkten verkauft.
Im kongolesischen Kinshasa sind die „Leoparden“ heute ein Fußballverein, in Serbien wandelte sich dagegen jüngst der Fanclub des Fußballvereins „Partisan Belgrad“ in eine kriminelle Bande. In Polen und Russland nannte man diese auf eine günstige Gelegenheit wartenden Gangs „Men in Sportswear“ – nach ihrer Lieblingskleidung. Aber ebenso wie sie mit der Zeit ihre Tätigkeiten wenigstens scheinbar „legalisierten“, wechselten sie auch ihr Aussehen – d.h. mehrheitlich tragen sie heute alle dunkle Anzüge.
Die Zulus besaßen ein Zaubermittel namens „Muti“, das die Kugeln der Briten zu Wasser werden ließ. Als die Briten dann gegen sie (zum ersten Mal) Wasserwerfer einsetzten, brachen die Zulus in Gelächter und Gejohle aus und fingen an zu tanzen, wobei man sie dann leicht besiegen konnte. Trotzdem blieben die Zulus unbesiegbar, weil das Muti ihrer Medizinmänner ja gewirkt hatte.
Auch Deleuze und Guattari bezeichnen sich noch oder schon wieder als „Zauberer“ – da, wo sie davon sprechen, wie das Unwahrnehmbar-Werden geschieht: Es funktioniere nicht über „eine Analogie von Beziehungen“, sondern „man muß Elemente oder Materialien in eine Beziehung bringen, die das Organ seiner Besonderheit entreißt, um es ‚mit‘ dem anderen werden zu lassen.“ Dabei geht es den Autoren konkret um ein Tier-Werden. Über das Werden generell wird an anderer Stelle gesagt: Es gehöre „immer einer anderen Ordnung als der der Abstammung an. Es kommt durch Bündnisse zustande…Werden besteht gewiß nicht darin, etwas nachzuahmen oder sich mit etwas zu identifizieren; es ist auch kein Regredieren-Progredieren mehr; es bedeutet nicht mehr, zu korrespondieren oder korrespondierende Beziehungen herzustellen; und es bedeutet auch nicht mehr, zu produzieren, eine Abstammung zu produzieren oder durch Abstammung zu produzieren. Werden ist ein Verb, das eine eigene Konsistenz hat; es läßt sich auf nichts zurückführen und führt uns weder dahin, ‚zu scheinen‘ noch ‚zu sein‘.“ Das Werden ist eine Vermehrung, die durch Ansteckung geschieht. So wie beim Vampir – der sich ja auch nicht fortpflanzt, sondern ansteckt. Für Deleuze/Guattari „gibt es ebensoviele Geschlechter wie Terme in der Symbiose, ebensoviele Differenzen wie Elemente, die bei einem Ansteckungsprozeß mitwirken.“ In diesem Zusammenhang betonen sie, dass es sich beim Tier-Werden immer um ein Plural handelt – also um Schwärme, Meuten, Banden… Und diese bilden sich eben durch Ansteckung. Das gilt auch für das Wald-Werden.
Solcherart Werden wandelt sich jedoch selbst – mit der Veränderung seiner Umwelt: dem „Milieu“ oder „Medium“, wie man früher sagte. Deleuze/Guattari unterscheiden das „Tier-Werden in der nomadischen Kriegsmaschine“ (die wilden Männer); das „Tier-Werden in der Verbrechensgesellschaft“ (die Leoparden-Männer); das „Tier-Werden in aufständischen Gruppen“ (bei Bauernrevolten, wo Hexen und Heiler eine kriegswichtige Funktion haben); das „Tier-Werden in asketischen Gruppen“ (die gelungenen Termitenhügel-Werdungen?) und das „Tier-Werden in Gesellschaften mit sexueller Initiation vom Typus ‚Heiliger Deflorator‘, Wolfsmänner, Bocks-Männer etc.“ (die sich auf ein höheres Bündnis berufen, das der Familienordnung überlegen und äußerlich ist).
Dabei können die Meuten/Banden/Schwärme nacheinander mehrere Werdungen durchlaufen, mindestens es versuchen: Im Angriff das Unverwundbar-Werden (mittels Maji); im Rückzug das Wald-Werden; nach der Niederlage das Leopard-Werden; nach erneutem Untertauchen das Wolf-Werden… Ein weiteres Werden wird durch die Integration einer „nomadischen Kriegsmaschine“ in die des Staates möglich bzw. nötig. So veränderte sich z.B. bei den partisanischen Kosaken nach ihrer Eingliederung und Einreihung in die Rote Armee ihr „ganzer Eros des Krieges“, wie Deleuze/Guattari das nennen: „Der auf das Tier orientierte Eros des Reiters“ (über den z.B. Isaak Babel sich nicht genug verwundern konnte) wird dabei durch einen „homosexuellen Gruppeneros ersetzt“. Ähnliches geschieht nach dem Sieg im Volkskrieg. Rochelle Sutin meint, dass etwa 80% der Paare, die im Wald bzw. im Kampf zusammen gefunden hatten, danach wieder auseinander gingen: „Die Überlebens- und Nützlichkeitsaspekte waren in Friedenszeiten nicht mehr tragfähig“. Sie selbst trennte sich nicht von ihrem Mann, dennoch mußte auch sie „umdenken“: „Ich war inzwischen wie ein Waldtier – ich hatte mich an das Leben in frischer, freier Luft gewöhnt“. Viele Männer trennten sich von ihrer Frau, weil ihre Stärke als Waldpartisanin ihm nach dem Sieg nicht mehr attraktiv schien.
Wenn man die Ausbreitung einer sozialen Bewegung als eine Epidemie begreift, dann kann man vielleicht auch – speziell in bezug auf die weltweite linke Bewegung Ende der Sechzigerjahre – von einer zunehmenden „Immunisierung“ sprechen, die die Ansteckungsgefahr irgendwann buchstäblich im Keim erstickte – das war dann das Ende der Bewegung. Und vielleicht der Anfang einer anderen: Die Diözese von San Christobal, in der die meisten Indigenen von Chiapas leben, stellte kürzlich fest, dass es „unter den Jugendlichen eine [neue] ansteckende Krankheit gibt: die Migration“. In den 20 Landkreisen des Bundesstaates existieren mittlerweile 380 Reisebüros, die nichts anderes verkaufen als Busfahrkarten an die Grenze zu den USA. Schon auf dem Weg dahin verschwinden viele – wie die Drogenabhängigen in der Berliner U-Bahnlinie 8 – auf Nimmerwiedersehen: Indymedia Chiapas spricht von „25.000, die sich zwischen 1997 und 2000 auf den Weg in die USA machten und über deren Schicksal nichts bekannt ist.“
Eine Migrationsbewegung kann ebenso ansteckend wirken wie eine Befreiungsbewegung. Dabei passiert das, was man auch ein Ummodeln oder Umpolen von „Affekten“ nennen könnte, denn bei allen An- und Verwandlungen geht es um Affekte. Nicht im, sondern über den Affekt (im Plural) handeln – Bündnisse mit ihm/ihnen schließen. „Es geht nicht mehr um Organisation, sondern um Zusammensetzung; nicht mehr um Entwicklung und Differenzierung, sondern um Bewegung und Ruhe, um Geschwindigkeit und Langsamkeit. Es geht um Elemente und Partikel, die schnell genug zur Stelle sind oder nicht, um einen Übergang zu bewerkstelligen, ein Werden oder einen Sprung – auf ein und derselben reinen Immanenzebene.“ Das Werden ist „das Überschreiten einer Schwelle“.
So oder so ähnlich also kann man – zur Not – ein Unwahrnehmbar-Werden schaffen. Ich habe es geahnt. Und in einem 2008 erschienenen Buch „WPP – Wölfe Partisanen Prostituierte“ auch schon erwogen. Da dachte ich allerdings noch, der „nicht-therapierte Masochist“ zum Beispiel hege bloß Sklaven- oder Hunde-Affekte – gegenüber einer Domina, die er für ihren „scharfen Ritt“ auch noch bezahlt. Deleuze und Guattari behaupten demgegenüber jedoch, dass es dabei nicht um ein Phantasma geht, sondern um einen Plan – bei dem sich der Masochist von einem Tier-Werden leiten läßt – vom Equus eroticus: „Das Gefüge des Pferd-Werdens sieht dabei so aus, dass der Mensch paradoxerweise seine eigenen ‚instinktiven‘ Kräfte zähmt, während das Tier ihm ‚erworbene‘ Kräfte übermittelt. Umkehrung, widernatürliche Anteilnahme. Und die Stiefel der Domina-Frau haben die Funktion, das Bein als menschliches Organ zu annullieren und die Elemente des Beines in eine Beziehung zu bringen, die dem ganzen Gefüge entspricht: ‚Auf diese Weise sind es nicht mehr Frauenbeine, die bei mir diese Wirkung hervorrufen‘,“ berichtet ein Masochist. Dabei besteht jedoch laut Deleuze und Guattari „immer die Gefahr, dass man das Tier bloß ’spielt‘, das domestizierte ödipale Tier. Die Arten des Tier-Werdens sind dieser Gefahr ständig ausgesetzt.“ Wobei andererseits auch klar ist, „dass der Mensch nicht ‚wirklich‘ zum Tier wird und dass das Tier auch nicht ‚wirklich‘ zu etwas anderem wird. Das Werden produziert nichts als sich selber…Es ist nie imitieren.“
Dazu noch einmal Karl Marx: „Erstens darf man nie mit dem Aufstand spielen, wenn man nicht fest entschlossen ist, alle Konsequenzen des Spiels auf sich zu nehmen, und zweitens, hat man einmal den Weg des Aufstands beschritten, so handle man mit der größten Entschlossenheit und ergreife die Offensive.“ Das gilt auch für die Masochisten unter uns – den guten Masochisten mindestens. Und für Psychotiker: „Der Schizo weiß aufzubrechen,“ versichern Deleuze/Guattari. Denn das Werden ist eine Metamorphose und keine Metapher! Dabei geht es darum, neue Existenzweisen zu erfinden, die geeignet sind, der Macht zu widerstehen und sich ihrem Wissen zu entziehen.
Anmerkungen:
(1) Andreas Franz hat mehr als 20 Krimis veröffentlichte, zumeist mit wiederkehrenden Ermittlern. Er läßt außerdem gerne Frauen umbringen, die dazu noch sehr „attraktiv“ sind. Und ein Mord reicht ihm in den seltensten Fällen. Seine kitschigen Milieu-. und Beziehungsschilderungen haben ihn zu einem „Bestseller-Autor“ gemacht. Ich habe ihm in dem o.e. „Kielkrimi“ vor allem seine Russen-Klischees übelgenommen. Aber diese „Kritik“ soll niemanden vom Lesen seines Buches abhalten, denn das darin verhandelte Problem – junge Arme töten und auswaiden, um ihre Organe reichen Alten zu spenden, damit diese noch länger leben, ist quasi aktuell bzw. wird immer aktueller. Unlängst ging einer Reisegruppe des Verbandes der Diskothekenbesitzer in Brasilien ein Mitglied verloren. Am nächsten Tag lag es betäubt vor dem Hotel, in dem die Gruppe abgestiegen war. Man hatte ihm über Nacht eine Niere entnommen. Die herbeigerufene Polizei blieb gelassen – und zunächst untätig: „Beweisen Sie erst einmal, dass er mit zwei Nieren eingereist ist,“ forderten sie den Reiseleiter auf. In Berlin bittet ein deutscher Pharmakonzern via U-Bahnwerbung armen Arbeitslosen an, sich gegen geringe Bezahlung für Medikamententests zur Verfügung zu stellen. Der Werbespruch dafür lautet: „Testen Sie schon heute die Medikamente von morgen!“ Darüber hat ausführlich der Wissenschaftssoziologe Kaushik Sunder Rajan in seinem Buch „Biokapitalismus“ berichtet, er erwähnt u.a. die arbeitslosen Textilarbeiter von Bombay, deren einzige Erwerbsquelle heute das Testen neuer Medikamente von US-Pharmakonzernen ist: Hierbei von „freiwilligen Versuchsteilnehmern“ zu sprechen, hält Rajan für „ethisch äußerst fragwürdig“, sie sind eher von „Opfern zu bloßen Objekten geworden“. So ist es auch mit den jungen Osteuropäern, die seit der Privatisierung der Ökonomie ihrer Länder – folgt man dem Krimiautor Andreas Franz – bald nur noch dafür gut sind, hier im Westen buchstäblich ausgeschlachtet zu werden. Früher hat man sie als „Gastarbeiter“ noch ausgenutzt. Soziologen wie Robert Castel und Zygmunt Bauman nennen sie heute die „Überflüssigen“, ihre Zahl geht in die Milliarden. Biologisch argumentierende Postfaschisten wie Thilo Sarrazin raten, „hart aber fair“ mit ihnen umzugehen, wahrscheinlich meint er damit, sie alle „abzuschieben“ – wohin auch immer.
Wladimir Kaminer sah bereits als Jugendlicher in der Sowjetunion zwei Zeichentrickfilme, die dieses „Problem“ auf für ihn damals äußerst gruselige Weise thematisierten:
„Im ersten Film, der aus Japan kam, brachten geldgierige japanische Kapitalisten ein Erfrischungsgetränk auf den Markt, mit dem Versprechen, jeder, der tausend Flaschen davon konsumiert und tausend Flaschenkapseln vorzuweisen hatte, würde eine Million Yen und eine Reise auf die Trauminsel seiner Wahl bekommen. Die Werbung kam bei den Menschen gut an, sie tranken diese Limonade wie verrückt. In Wirklichkeit hatten die Kapitalisten jedoch nicht vor, die Limonadetrinker gewinnen zu lassen. Stattdessen mischten sie ein Gift in das Getränk, es bewirkte, dass sich jeder beim Austrinken der tausensten Flasche auf der Stelle in eine Schaumpfütze verwandelte. Überall schwammen im Film auf den Strassen Flaschenkapseln in Schaumpfützen. Es sei ein ideales Geschäft, weil es am Ende keine Unzufriedenen gebe, meinte einer der Kapitalisten in dem Film herzensfroh. Ähnlich war dann ein sowjetischer Zeichentrickfilm aus der gleichen Zeit, in dem eine harte kapitalistische Gesellschaft auf dem Mond geschildert wurde. Alle Bürger lebten dort in Hotels und der ganze Sinn ihrer Existenz bestand darin, tagsüber reichlich Mondgeld zu verdienen um seine Unterkunft für die Nacht bezahlen zu können. Alle, die sich für alternative Übernachtungsmöglichkeiten entschieden, unter den Brücken oder in Mondkratern schliefen, wurden von der Polzei gesammelt und an einen speziellen Ort verfrachtet, auf die Insel für Dumme. Dort landeten alle, die kein Geld mehr besaßen. Die ersten paar Tage dort bestanden aus purer Unterhaltung – überall gab es Attraktionen, Schaukeln und Eisausgabestellen, wo es Eis für umsonst gab. Doch irgendetwas stimmte nicht mit dieser Insel, eine grüne Giftwolke hing die ganze Zeit darüber, die Menschen atmeten die schlechte Luft ein und verwandelten sich langsam in schwarze Schafe. Daraufhin wurden sie von den Kapitalisten zu Schafsteaks verarbeitet. Das ging so lange, bis die Kommunisten von der Erde aus die Giftwolke über der Insel der Dummen mit speziellen Raketen beschossen und die glücklichen Arbeitslosen befreiten. In beiden Märchen wurde die Entsorgung der nicht brauchbaren Teile derBevölkerung als das Hauptproblem des Kapitalismus dargestellt. Aus heutiger Sicht betrachtet, nicht ganz zu Unrecht.“
(2) Der in der Flüchtlingshilfe tätige Psychologe David Becker sagt über diesen Begriff – in seinem Buch „Die Erfindung des Traumas – verflochtene Geschichten“: „Bedauerlicherweise hat seine Benutzung weitgehend inflationären Charakter angenommen. Vom Herzinfarkt über Schulprobleme bis zum Fernsehen kann man heute alles als traumatisch bezeichnen. Nach dem 11. September 2001 ist dies noch schlimmer geworden. Viele meinen, man könne jetzt teilhaben an einer Art Welttrauma, das aus der Zerstörung der Twintowers besteht, und letztlich mache es keinen Unterschied, ob man dieses Trauma in New York selbst erlebte oder – wie die meisten – als Fernsehzuschauer. Wir befinden uns anscheinend auf der Suche nach einer Weltkultur der Opfer. Ian Buruma spricht in diesem Zusammenhang von der ‚industry of victimhood‘ und Kirby Farrell etwas weniger bösartig von der ‚post-traumatic culture‘. Trauma ist zum Modewort geworden, hinter dem sich eine infantile Weltsicht verbirgt.“
(3) Umgekehrt kann dieser aber durchaus auch unter den Partisanen leiden. So schreibt z.B. Anja Flach, die von 1995 bis 1997 in den kurdischen Bergen bei der Frauenguerilla der PKK mitkämpfte, in ihrem zunächst vom BKA konfiszierten Bericht „Juyaneke din – ein anderes Leben“: „Eins hat mir sehr gefallen: Ein Walnussbaum und eine Traubenrebe haben panische Angst, wenn die Guerilla kommt, sie fürchten sie mehr als die Soldaten, ganz zerfleddert sehen sie aus. Ein Kommandant kommt und verbietet, die Bäume anzurühren – ja, langsam setzt sich so eine Haltung durch, Naturschutzguerilla.“
(4) Wenn das stimmt, dann ist es im tropischen Regenwald genau andersherum, denn wegen der nährstoff- und humusarmen, Böden brauchen die Bäume dort sehr viel Platz – zwischen sich und weiteren Vertretern ihrer Art. Dafür gibt es eine große Artenvielfalt: Während im tropischen Regenwald auf einen Hektar bis zu 500 Baumarten vorkommen, sind es in den „geradezu monotonen Wäldern“ z.B. Europas höchstens 20 – oft nur ein knappes Dutzend, wenn nicht gar eine militärisch ausgerichtete Monokultur.
Unser Bild vom üppigen tropischen Regenwald als grüne Hölle speist sich primär aus Rudyard Kiplings und Walt Disney’s „Dschungelbuch“. Josef H. Reichholf veröffentlichte 1990 ein neues Buch über den „Dschungel“. Die ÖTV-Gewerkschaftsgruppe bei der BVG sortierte gerade ihr Exemplar aus der Präsenzbibliothek aus, woraufhin ich es im Antiquariat erwarb. Wie schon in bezug auf das „ökologische Denken“ und die Land-Stadt-FFH (Flora-Fauna-Habitate) stellt der Autor auch hier wieder unser bisheriges „Bild“ auf den Kopf: Der südamerikanische Urwald ist keine „Grüne Hölle“, in der alles wild durcheinander wächst und wuchert – im Überfluß lebt, sondern ganz im Gegenteil: eine extreme Zone des Mangels. Die Bäume, nicht der Boden sammeln hier die Nährstoffe, auf dem die übrigen Pflanzen wachsen, von und auf denen wiederum die meisten Tiere leben. Aus Mangel an Mineralstoffen, um Eiweiß zu bilden, das für die Fortpflanzung notwendig ist, sind die Vermehrungsraten im tropischen Regenwald sehr niedrig und die Nachkommensaufzucht aufwendig. Das gilt auch für alle anderen von den Bäumen abhängigen Pflanzen und Tiere, von denen viele bis hin zu Fröschen – in den Baumkronen angesiedelt sind. Sie mußten den „Epiphyten“ nach oben folgen. Bei diesen „Überpflanzen“ oder „Aufsitzern“ handelt es sich vor allem um Bromelien und Orchideen. Letztere sind hinsichtlich ihres Blütenbaus die „fortschrittlichsten unter den Blütenpflanzen:“ Sie haben die Fehler bei der Pollenübertragung „bis zu fast vollständiger Treffsicherheit verringert“. Nicht zuletzt dadurch, dass sie sich z.B. einer ganz bestimmten Wespenart anverwandelten – so dass sie wie eine solche aussehen, wobei jedoch umgekehrt für die betreffende Wespenart das selbe in bezug auf die Orchideen gilt. Die französischen Marxisten Gilles Deleuze und Félix Guattari haben daraus ein ganzes involutives Beziehungsmodell („Macht Rhizom!“) kreiert.
Alle Dschungel-Flora und -Fauna ist laut Reichholf undenkbar ohne den Pilz. „Basis des Baumlebens“ ist speziell der Wurzelpilz, der sich entweder an den Enden der Baumwurzeln ansiedelt oder sogar in ihnen. Diese „innere oder äußere Mykorrhiza“ bildet die Grund-Symbiose. Dabei übernehmen die Pilzfäden „in großem Umfang die Aufnahme von Wasser und mineralischen Nährstoffen. Sie leiten diese an die Baumwurzeln weiter, von denen sie im Gegenzug vor allem Zucker und Vitamine bekommen…Die Pilzfäden sind viel feiner als die Haarwurzeln der Bäume und kommen deswegen noch an geringste Nährsalzkonzentrationen heran“. Der Autor spricht hierbei von einer „Kooperation“. Als gemäßigter Darwinist stellt er zur Erklärung gerne Kosten-Nutzen-Rechnungen an, auch sein diesbezügliches Vokabular wird dann betriebs- bzw. volkswirtschaftlich.
Ähnliches wie für die Bäume gilt auch für die Epiphyten auf ihren Ästen: „Oben in den Baumkronen brauchen die Orchideen die Keimhilfe von Pilzen“. Auf dem Urwaldboden sorgen wieder andere Pilze für eine schnelle Rückverwertung der abgefallenen Blätter und abgestorbenen Baumteile, wobei ihnen die Baumwurzeln buchstäblich entgegenkommen: Sie wachsen im Dschungel aus der Erde nach oben – „der eigentlich schon ziemlich ausgelaugten Nährstoffquelle ‚totes Blatt‘ entgegen.“ Zusammen sorgen sie dann dafür, dass das Blatt schließlich in seine letzten Reste zerfällt „und keinen Humus hinterläßt.“
Während hier auf einen Hektar bis zu 500 Baumarten vorkommen, sind es in den „geradezu monotonen Wäldern“ z.B. Europas höchstens 20 – oft nur ein knappes Dutzend. In den tropischen Regenwäldern wachsen die Bäume um so besser, „je weniger Artgenossen in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft“ wurzeln. Dies ist nicht dem Überfluß, sondern dem Mangel geschuldet – für Reichholf der „Kern der Regenwaldproblematik“. Die dominierenden Tiere sind hier die Blattschneiderameisen und die Termiten – und beide ernähren sich von Pilzen, die sie in ihren Bauten züchten. Also: „Soziale Insekten“ unten (tagsüber Ameisen, nachts Termiten) und „soziale Pflanzen“ oben (Orchidee-Pilz-Wespe-Symbiosen). Dazwischen ist die immer feuchtwarme Urwaldluft erfüllt von winzigen Pilzsporen: Schon nach kurzer Zeit ist jeder Gegenstand mit einem Schimmelfilm überzogen. Selbst das Faultier setzt an seinem Fell Pilze und Algen an, von denen sich wiederum die Larven einer kleinen Schmetterlingsart ernähren. Die Faultiere leben meist auf „Ameisenbäumen“, das sind Bäume der Gattung Cecropia, deren hohle Stämme Ameisen beherbergen. Der Baum scheidet „extraflorale Nektarien“ (für sie) aus, sie wiederum halten ihm Insekten und andere Feinde vom Leib – noch eine Symbiose. Gleichzeitig schützen die Ameisen auch die gerade wegen ihnen sich so langsam fortbewegenden Faultiere vor deren Feinden. Weitere Exo- und Endoymbiosen finden sich oben in den das Regenwasser auffangenden Trichtern und Blattachseln von Bromelien, die die Flüssigkeit zusammen mit Staubpartikeln und ertrunkenen Kleininsekten durch Bakterien aufarbeiten lassen: „umgekehrte Hydrokulturen.“ Unten im Boden nehmen u.a. Käferlarven die Hilfe von Mikroben an, um den wenigen „Mulm“ – organische Abfallstoffe – dort zu verdauen. Gerade über die Rolle der Arthropoden (Gliederfüßer) im Ökosystem der tropischen Regenwälder wird derzeit viel geforscht.
Für den tropischen Regenwald insgesamt gilt zum einen: „Der hochgradig geschlossene Nährstoffkreislauf begründet sich auf den Artenreichtum“ – zum anderen: „Die Nutzer tropischer Fruchtbäume müssen weit umherschweifen,“ das gilt für die meisten Tiere sowie für die Menschen – die Waldindios, die oft nur in kleinen Gruppen leben. In einigen ihrer Kulturen spielen nicht zufällig „Magic Mushrooms“ (psilozybinhaltige Rauschpilze) eine wichtige Rolle.
„Und ähnelt ein schöner, giftiger Gedanke nicht einem Fliegenpilz in allem, sogar noch in der Wirkung zwischen Rausch und Brechreiz?“ fragt sich die Pilzforscherin Gabi Schaffner. An anderer Stelle ihres Buches „Phänomene der inneren Topografie“ schreibt sie: „Ein ungenießbarer Pilz ist wie ein falscher Gedanke am richtigen Ort.“ Ferner hat sie „eine Analogie zwischen den Gesetzen und Eigenschaften der Pilzwelt und der Struktur eines ‚untergründigen Denkens'“ festgestellt. „Der Pilz ist etwas Unvorhersehbares, etwas Verrücktes.“ Und dann ist der Pilz auch nicht der Pilz, sondern nur sein Fruchtkörper: „Das Mycel ist der eigentliche Pilz – unterirdisch, feine Fäden über Kilometer unter dem Boden unsichtbar zu einem wirren Netz gesponnen. Und wenn man bedenkt, wie viele Sporen ein Pilz verstreut, ist das Mycel eine ins Unendliche reichende Exponentialfunktion.“ Gabi Schaffner ist vornehmlich in Nord- und Osteuropa unterwegs, wobei sie sich u.a. von den „Betrachtungen eines Pilzjägers“ (Wladimir Solouchin) leiten läßt.
Im tropischen Regenwald muß man sich aber gleichzeitig auch gegen die Pilze wehren – „bevor alles verpilzt“. Bei der Körperpflege der Waldindios kommt deswegen „dem Schutz vor Verpilzung eine herausragende Bedeutung zu“, meint Josef Reichholf. Zudem scheinen die Pilze auch ihren Träger dahingehend zu beeinflussen, dass er neue – vor allem für sie vorteilhafte – Neigungen entwickelt. So berichtet z.B. ein Frau, die von einem Achselhaar-Pilz befallen war, dass sie im Gegensatz zu früher plötzlich Wärme, Wasser, süße Speisen usw. mochte. Als sie den Pilz los war, ließ sie auch von diesen Vorlieben wieder ab. Daneben berichten lateinamerikanische Guerillaführer, dass ihre Organisationen immer wieder von einem geradezu unerklärlichen „Spaltpilz“ bzw. „Spalttrieb“ befallen werden (bei den chikenischen Sozialdemokraten ist er geradezu chronisch). Könnte es sich dabei vielleicht um eine besondere Form von myzelischer Ansteckung handeln?
Die Waldindios, wenn sie nicht umherziehende Jäger und Sammler sind, betreiben einen bescheidenen „Wanderfeldbau“, d.h. Brandrodung von kleinen Flächen, deren Erträge schon nach drei vier Ernten nicht mehr den Aufwand der Feldbestellung lohnen. Reichholf erwähnt dazu Henry Fords riesige Großplantage mit Gummibäumen „Fordlandia“ genannt, die wegen der nährstoffarmen Böden wieder aufgegeben werden mußte: Auch die Gummibäume brauchen viel Platz zwischen sich. Etwas anders ist es bei den Tieren: Ameisen, Bienen, Wespen und Termiten bezeichnet Reichholf „als bewegliche Sammler feinstverteilter Nährstoffe“. Die Treiberameisen schleppen auf ihren Streizügen sogar ihr ganzes Nest einschließlich der Königin mit. Ihnen schließen sich die Ameisenvögel an, die von den durch die Ameisenkolonnen aufgescheuchten Kleintiere und Insekten profitieren.
Zwar ist an Wasser kein Mangel im tropischen Wald, aber die Flüsse sind teilweise reiner als Regenwasser, Kleinlebewesen wie Moskitolarven finden darin nicht genug Nahrung. Und seitdem man den Kaiman durch die Jagd enorm reduziert hat, finden nicht einmal mehr die Jungfische in den Lagunen genug Kleinlebewesen, da diese vom Kot der Reptilien lebten. Es gibt Arten, die sich von tierischer auf pflanzliche Nahrung umstellen können, dazu gehören auch die Leguane, bei denen sich nur noch die Jungen von Insekten ernähren (müssen). In der Zucht gelang es sogar, junge fleischfressende Piranhas zu pflanzenfressenden „umzuerziehen“ – sie ernährten sich zunächst übergangsweise vom Kot der pflanzenfressenden Piranhas – und nahmen dabei die für die Verdauung von Pflanzenteilen notwendigen Darmbakterien auf. Viele Fische ernähren sich in Amazonien von vorneherein von Baumfrüchten, die in den überschwemmten Wäldern ins Wasser fallen: Nicht wenige haben dafür inzwischen „ein schräg nach oben gerichtetes Maul“. Dazu hat Michael Goulding in seinem Buch „Die Fische und der Wald“ quasi aus der Sicht der Fische Erhellendes beigesteuert. Umgekehrt gibt es z.B. Tausendfüßler, die Überflutungsresistent geworden sind. Mit solchen „Überlebensstrategien“ von Arthropoden im Regenwald beschäftigt sich der Kieler Limnologe Joachim Adis. Die hochspezialisierte und -assoziierte Urwald-Flora und Fauna besetzt dennoch immer nur Nischen: „Nicht einmal auf einem einzelnen Baum herrschen gleiche Verhältnisse“. Das und die mangels eiweißbildender Nährstoffe geringe Fortpflanzungsrate hat laut Reichholf zur Folge, dass die Arten sich keine großen Verluste z.B. durch Freßfeinde, leisten dürfen.
Deswegen entwickelten sie wie nirgendwo sonst auf der Welt eine große Vorliebe für Mimikry bzw. Mimese: Gleich mehrere ungiftige Schlangenarten ähnelten sich z.B. einer giftigen an, Raupen, Falter und Käfer entwickelten große Augen oder ganze falsche Köpfe (von Schlangen) am Hinterleib, Heuschrecken nahmen Form und Farbe von Blättern und Zweigen an, wohlschmeckende Schmetterlinge imitierten das Aussehen von abscheulich bitteren, usw.. Daneben wird im tropischen Urwald gerne mit Giften gearbeitet: winzige schreiend-bunte Baumfrösche z.B. sind hochgiftig – die Waldindios nutzen sie zur Pfeilgiftherstellung. Tausendfüßler sondern Blausäure ab, ebenso wie das wichtige Nahrungsmittel Maniok, den man vor dem Verzehr erst einmal umständlich entgiften muß. Überhaupt schützen sich viele Pflanzen mit Gift, u.a. Lianen, die die Waldindios beim Fischfang zum Betäuben ihrer Beute verwenden. Viele Arthropoden verstehen es, Pflanzengifte zu ihrem eigenen Schutz gewissermaßen umzunutzen. Einige Libellenarten haben durchsichtige Flügel mit farbigen Augenmustern drauf. Im Halbdunkel des Dschungels sieht man nur diese Augen: „Überhaupt die Augen“ – als Tarnung und Drohung! Die südamerikanischen Grubenottern und Riesenschlangen haben umgekehrt ein drittes, echtes „Auge“ ausgebildet, zwischen Augen und Mund – mit denen sie (wie mit einem Nachtsichtgerät) Infrarotstrahlen, also Wärmebilder, sehen können.
Noch immer werden tausende von Hektar tropischer Regenwald täglich gerodet oder sonstwie zerstört (50% sind es bereits). Aber auch die Basispolitik – die regionalen Selbstverwaltungsversuche vor Ort – der Zapatistas im Lacandonischen Urwald von Chiapas ist anscheinend erst einmal ins Stocken geraten. In ihrer letzten „Erklärung aus den Bergen/Wäldern des mexikanischen Südostens“ heißt es am Schluß: „Nach unserem Ermessen und dem, was wir in unserem Herzen sehen, sind wir an einem Punkt angekommen, an dem wir nicht weiterkommen können, und an dem wir außerdem alles verlieren könnten, was wir haben, wenn wir so bleiben, wie wir sind und nichts mehr tun, um weiter fortzuschreiten. Das heißt, dass der Moment gekommen ist, wieder alles zu riskieren und einen gefährlichen Schritt zu wagen, der es aber wert ist. Denn vielleicht können wir vereint mit anderen sozialen Sektoren, die unter den gleichen Entbehrungen wie wir leiden, das erreichen, was wir brauchen und was wir wert sind. Ein neuer Schritt nach vorn im indigenen Kampf ist nur möglich, wenn sich der Indígena zusammenschließt mit den Arbeitern, Bauern, Studenten, Lehrern, Angestellten … also mit den Arbeitern aus Stadt und Land“ (- mithin also durch noch umfangreichere Symbiosen).
Kurz danach schlossen die Zapatistas alle legalen Stützpunkte und zogen sich in den Untergrund zurück. Von dort aus wollen sie jedoch (vorerst) nicht wieder zu den Waffen greifen, sondern eher in sich gehen – und ihre Organisation, die EZLN, eventuell für „oppositionelle Organisationen“ nicht-indigener Bevölkerungsgruppen öffnen. Die „Le Monde Diplomatique“ spricht von einem angestrebten „Schulterschluß der Linken“. Man mag sich fragen, ob sie damit aus einer „Minderheit“, die sie sind und die laut Deleuze/Guattari allein produktiv ist, eine „Mehrheit“ machen wollen? Und ob dies nicht auf das „alte europäische Baumdenken“ hinausläuft – dem Deleuze/Guattari ein rhizomatisches bzw. myzelisches Denken gegenüber stellten.
LITERATUR:
Felicitas Becker, Jigal Beez (Hg.): „Der Maji-Maji-Krieg in Deutsch-Ostafrika“, Chr.Links-Verlag Berlin 2006
Félix Guattari, Gilles Deleuze: „Tausend Plateaus“, Merve-Verlag Berlin 1992
Simon Shama: „Der Traum von der Wildnis – Natur als Imagination“, Kindler-Verlag München 1996
Roland Barthes: „Das Neutrum“, Suhrkamp-Verlag Frankfurt 2005
Victor Pelewin: „Das Heilige Buch der Werwölfe“, Luchterhand-Verlag München 2006
Helmut Höge: „WPP – Wölfe Partisanen Prostituierte“, Kulturverlag Kadmos, Berlin 2006
Jacques Lin: „Das Leben mit dem Floß. In der Gesellschaft autistischer Kinder“, Verlag Peter Engstler 2004
Gerhard Leo: „Frühzug nach Toulouse“, MV-Taschenbuch Rostock 2006
Stuart Hood: „Carlino – eine Geschichte aus dem Widerstand“, Edition 8, Zürich 2002
Shmuel Ron: „Die Erinnerungen lassen mich nicht los“, Verlag Neue Kritik, Frankfurt/Main 1998
Alex Faitelson: „Im jüdischen Widerstand, Elster Verlag Zürich 1998
Yuri Suhl: „Auf Leben und Tod“, Alibaba Verlag, Frankfurt/M 1988
Gaby Weber: „Die Guerilla zieht Bilanz“, Focus-Verlag, Gießen 1989
Lawrence Sutin: „Eine Liebe im Schatten des Krieges“: Piper-Verlag, München 1996
Nachama Tec: „Bewaffneter Widerstand. Jüdische Partisanen im Zweiten Weltkrieg“, Gerlingen-Verlag, Gütersloh 1994
Josef H. Reichholf: „Der unersetzbare Dschungel. Leben, Gefährdung und Rettung des tropischen Regenwaldes“, Büchergilde Gutenberg, Frankfurt/Main 1990.
Hansjörg Küster: „Geschichte des Waldes – Von der Urzeit bis zur Gegenwart“, C.H.Beck Verlag, München 1998
Thomas Hauschild: „Magie und Macht in Italien“, Merlin-Verlag, Gifkendorf 2002
Gabriel Kuhn: „Tier-Werden, Schwarz-Werden, Frau-Werden“, Unrast-Verlag, Münster 2005
Liya Nikolaevna Lhakhina: „Concepts of Symbiogenesis“, Yale University Press, New Haven 1992
David Signer: „Die Ökonomie der Hexerei: Warum es in Afrika keine Wolkenkratzer gibt“, Wuppertal 2004
KOMMENTAR:
Das Unwahrnehmbar-Werden wurde 2008 sehr schön – am Beispiel der Migranten – von Dimitris Papadopoulos und Vassilis Tsianos diskutiert – in ihrem Aufsatz „Die Autonomie der Migration. Die Tiere der undokumentierten Mobilität“. Der Text wurde von Birgit Mennel und Stefan Nowotny übersetzt und auf „translate. eipcp.net“ veröffentlicht:
I. Unwahrnehmbarkeit
Das Konzept des Werdens versucht eine politische Praxis zu artikulieren, in der soziale AkteurInnen ihren normalisierten Repräsentationen entfliehen, sich im Akt dieser Flucht neu begründen und dabei die Bedingungen ihrer materiellen Existenz verändern. Werden ist eine Kraft, die sich nicht nur gegen etwas richtet (nämlich vor allem gegen das allgegenwärtige Modell des methodologischen Individualismus und die souveränen Regime der Bevölkerungskontrolle), sondern ist auch eine Kraft, die Begehren ermöglicht. Jedes Werden ist eine Transformation von einer Mannigfaltigkeit zu einer anderen, schreiben Deleuze und Guattari; jedes Werden radikalisiert das Begehren und erschafft neue Individuationen und Affektionen. Werden ist ein Drift. Aber die kontinuierlichen Werdensprozesse, jener unaufhörliche Vorgang der Diversifizierung und Transformation, fabrizieren keine unendliche Serie von Differenzen.
Deleuze ist kein Ingenieur von Differenzen. Deleuze ist ein akribischer Produzent von Einheit. Differenzen, Individuationen und Modalitäten sind nur der Ausgangspunkt; sie sind die Baumaterialien der Welt. Daher ist es interessanterweise nicht das Wuchern von Vielfalt und Differenz, sondern deren Verschwinden, welches das Ende aller Werdensprozesse ausmacht. Unwahrnehmbar-Werden ist das immanente Ende aller Werdensprozesse; es handelt sich um einen Prozess des Jede/r- und Alles-Werdens, und zwar indem der Gebrauch von Namen zur Beschreibung dessen, was den Moment überschreitet, eliminiert wird. Ununterscheidbar-Werden, Unpersönlich-Werden, Unwahrnehmbar-Werden ist das universelle politische Projekt von Deleuze und Guattari, haben wir doch in uns selbst all das unterdrückt, was unser Gleiten zwischen den Dingen und unser Wachsen inmitten der Dinge verhindert.[1]
Dieser Abschnitt wird den politischen Implikationen des Begriffs der Unwahrnehmbarkeit nachgehen, und zwar hinsichtlich der Migration und ihrer Rolle für die Herausbildung neuer Kooperations- und Handlungsweisen. Ausgehend von einer Diskussion des Begriffs des Nomadismus werden wir argumentieren, dass die Praktiken der gegenwärtigen transnationalen Migration uns dazu zwingen, die von Deleuze und Guattari vorgenommene Aufspaltung zwischen Nomadismus und Migration zu revidieren. Das Diktum des Nomadismus: „Man kommt niemals irgendwo an“ bildet die Matrix der heutigen Migrationsbewegungen.
Der darauf folgende Abschnitt versucht, verschiedene Modi eines nomadischen Werdens zu skizzieren, die die verkörperten Erfahrungen von MigrantInnen beherrschen: Tier-Werden, Frau-Werden, Amphibisch-Werden, Unwahrnehmbar-Werden. Im letzten Abschnitt werden wir schließlich diskutieren, wie sich diese flüchtigen Transformationen den allgegenwärtigen Politiken entziehen, die sich auf das Modell von Repräsentation, Rechten und Sichtbarkeit stützen. Dieser Exodus konfrontiert die heutigen Anordnungen politischer Souveränität mit einer unwahrnehmbaren Kraft, welche die „Mauern, die rund um die Welt errichtet werden“, unwiderruflich porös werden lässt: Es handelt sich dabei um die Kraft der Autonomie der Migration.
II. Dokumente
Obwohl die Ankunft von Sir Alfred Mehran in vielen europäischen Polizeidienststellen für Zuwanderungsangelegenheiten erfasst wurde, bleibt diese Figur ein Rätsel. Sir Alfred Mehrans Biographie scheint emblematisch für die Figur des Nomaden zu stehen. Sein Begehren war es, nach Großbritannien zu kommen, und zwar mit einem auf seinen ursprünglichen Namen Mehran Karimi Nasseri lautenden Flüchtlingspass. Im Jahr 1988 flog er von Brüssel über Paris nach London. In London wurde ihm die Einreise verwehrt und er wurde nach Paris zurückgeschickt. Aber auch Frankreich verweigerte ihm die Einreise und Brüssel nahm ihn nicht wieder zurück. Seit damals lebte er in der Transitzone des Terminal 1 im Flughafen Charles de Gaulle in Paris. Als er schließlich einen UNHCR-Pass erhielt, wieder reisen und den Transitraum verlassen konnte, verweigerte er die Anerkennung und Unterzeichnung jener Dokumente und argumentierte, dass die Person Mehran Karimi Nasseri nicht mehr existiere. Diese Person existierte 1988, heute sei er Sir Alfred Mehran. Dieser Ereignisverlauf stellt den Idealtypus eines nomadischen Lebens dar.
Die nomadische Bewegung ist keine Fortbewegung, sondern die Aneignung und Neugestaltung von Raum. Was die NomadIn charakterisiert, ist nicht ihr Passieren von Einfriedungen, Grenzen, Hindernissen, Türen oder Barrieren. Die NomadIn hat kein Ziel, sie durchläuft kein Territorium, lässt nichts zurück, geht nirgendwohin. Die NomadIn verkörpert das Begehren, zwei Punkte miteinander zu verbinden, und besetzt daher immer den Raum zwischen diesen beiden Punkten. Das Rätsel von Sir Alfred Mehrans Ankunft resultiert nicht aus seinen vielfachen Dislozierungen und seiner schlussendlichen Festsetzung in Paris; vielmehr verweist es darauf, dass eben jener Moment der Ankunft sich über 17 Jahre erstreckt. Die Ankunft hat eine longue durée, sie umfasst beinahe das ganze Leben der NomadIn: Man ist immer da und immer auf dem Sprung, man ist stets im Aufbruch begriffen und manifestiert fortwährend die Materialität des Ortes, an dem man sich befindet. Niemals kommt man irgendwo an.
Sir Alfred Mehrans spektakuläre Geschichte bricht mit einer klassischen Konzeption der Migration als eines Prozesses, der in eine Richtung verläuft, zielgerichtet und intentional ist. In jenem Verständnis von Migration – das für fordistische Gesellschaften typisch ist – ist die MigrantIn der Signifikant einer bestimmten Konzeptualisierung von Mobilität: das individualisierte Subjekt, das aufwendig das Kosten-Nutzen-Verhältnis seiner Reise kalkuliert und sich dann auf einen Weg mit festgelegtem Ausgangs- und Ankunftsort macht. Aber Migration ist keine individuelle Strategie, und sie bezeichnet auch nicht die Option „Exit“. Vielmehr ist sie durch die steten Verlagerungen und radikalen Neuartikulationen individueller Bewegungsbahnen gekennzeichnet. Migration bedeutet nicht die Evakuierung eines Ortes und die Besetzung eines anderen, sondern die Gestaltung und Neugestaltung des eigenen Lebens auf der Weltbühne: Sie ist Weltgestaltung.
Migration lässt sich nicht an Positions- oder Ortsveränderungen bemessen, sondern an dem, was sie zunehmend in sich einbezieht, an der wachsenden Reichweite ihrer Intensitäten. Selbst wenn Migration mitunter als eine Art Dislozierung beginnt (erzwungen durch Armut, patriarchale Ausbeutung, Krieg, Hunger), ist ihr Ziel nicht Relozierung, sondern die aktive Transformation des sozialen Raums. Durch ihre Einbettung in weitläufigere Netzwerke intensiver sozialer Veränderung verbindet sich Migration mit einer Herausforderung und Neugestaltung der souveränen Bevölkerungskontrolle, die ausschließlich über die Identifikation und Kontrolle der Bewegungen des individuellen Subjekts funktioniert.
Sir Alfred Mehran repräsentiert in besonders radikaler Weise eine nicht-repräsentierbare MigrantIn: Die Person, die die Reise antritt, ist an deren Ende nicht dieselbe, der bewohnte Raum ist nicht der angestrebte, die Dokumente verweisen nicht darauf, wer man ist oder war, sondern wer man im Verlauf der Reise wird. Reisen wird das Gesetz, Werden wird der Code.
III. Tiere
Der Koyote ist mehr als ein canis latrans an der Grenzlinie zwischen den USA und Mexiko. Er steht für all jene gewerblichen „Guides“, welche die nationalen Grenzen überqueren sowie illegale Migrationsbewegungen und undokumentierte Mobilität organisieren können. Britische Seeleute bezeichnen die schwer zu fassenden HelferInnen von blinden PassagierInnen als Haie, an der griechisch-albanischen Grenze werden sie korakia, Raben, genannt. Im Chinesischen bezeichnet man sie als shetou, Schlangenkopf – eine Person, die so listig ist wie eine Schlange und die weiß, wie sie ihren wendigen Kopf einzusetzen hat, um sich einen Weg durch schwierige Situationen zu bahnen. Shetou war auch der Name des chinesischen Netzwerks, das im öffentlichen Anti-Schlepperei-Diskurs für die Tragödie von Dover verantwortlich gemacht wurde, also für den Tod von 58 illegalen MigrantInnen in einem Lastwagencontainer in Dover zu Beginn dieses Jahrtausend.
Der offizielle Anti-Schlepperei-Diskurs ist einer souveränen Konzeption von Grenzpolitik verpflichtet: Er individualisiert die Grenzüberquerung und präsentiert MigrantInnen als Opfer der Schmugglermafia. Im souveränen öffentlichen Imaginären ist Migration ein illegal organisierter Skandal, in dem es nur zwei AkteurInnen gibt: Gesetze brechende MigrantInnen und kriminelle SchmugglerInnen. Aber die Kriminalisierung des Grenzübertritts und die Reduktion des komplexen und polymorphen Netzwerks, das die Migrationsbewegungen stützt, auf ein Stück mit einem Akt und zwei AkteurInnen, all das verschleiert, dass die scheinbar souveräne humanitäre Doktrin einer „Rettung der Menschen“ nichts anderes ist als eine gewaltsame Fixierung auf die Politik einer „Rettung nationaler Grenzen“ und auf den Schutz des nationalen Korpus vor unkontrolliertem Eindringen. (Wir werden später darauf zu sprechen kommen, wie wichtig diese ständige Sorge um Grenzen für die Konstitution der nationalen Souveränität ist.)
Migration ist kein eindimensionaler Prozess, der sich auf eine individuelle Wahl zurückführen lässt, sie ist kein Effekt der Push- und Pull-Mechanismen von Angebot und Nachfrage nach Humankapital. Migration passt sich auf unterschiedlichste Weise dem jeweiligen Kontext an, sie verändert ihr Gesicht, verbindet unerwartete soziale AkteurInnen miteinander, absorbiert souveräne Dynamiken, die auf ihre Kontrolle abzielen, und formt sie um. Migration ist arbiträr in ihren Strömen, sie ist entindividualisiert, sie begründet neue transnationale Räume, welche die souveräne Politik überschreiten und neutralisieren. Migration gleicht großen Wellen: Diese tauchen niemals genau dort auf, wo sie erwartet werden, ihr Anbranden lässt sich niemals exakt vorhersagen, aber sie kommen immer an, und sie erreichen ein Ausmaß, das die gesamte gegebene Geographie einer Meeresküste neu anzuordnen vermag – die Sandbänke, den Meeresboden, die Meerestiere und -pflanzen, die Felsen, den Strand. In der Türkei ist der Handel mit MigrantInnen – koyun ticareti, der Schafhandel – mehr als eine Angelegenheit von korrupten PolizistInnen und hat wenig mit dem Phantom einer global aktiven Mafia von „SchmugglerInnen“ gemein. Beim „Schafhandel“ an der Küste handelt es sich um ein ganzes Mobilitätsregime, um die Gesamtheit eines informellen Netzwerks, an dem Hundertschaften von verschiedenen AkteurInnen mit jeweils verschiedenen Einsätzen teilnehmen, um Grenzen durchlässig zu machen.
Migration lässt materielle und psychosoziale Räume porös werden, im Sinne einer Benjamin’schen Porosität, in der sich das Öffentliche und das Private vermengen und in der Devianz und Norm neu verhandelt, Zonen der Ausbeutung und der Gerechtigkeit neu angeordnet und formelle wie informelle Situationen umgestaltet werden. Staatsapparate und Grenzen porös zu machen ist die von MigrantInnen angewandte Taktik, um sich der Kontrolle des Begehrens zu widersetzen. Tier-Werden ist weder eine bloße Metapher für die Transaktionen im gegenwärtigen Mobilitätsregime noch lediglich ein neuer akademischer Theorietrend; es ist die Chiffre für das körperliche Substrat der transnationalen Migration in Zeiten eines globalen Regimes erzwungener Illegalität. Denken wir zum Beispiel an die Bedeutung des Werdens im Zusammenhang von MigrantInnen, die die Grenze der Straße von Gibraltar überschreiten: Im Jahr 1991 führte Spanien die Visumpflicht für MigrantInnen aus der Maghrebregion ein. Seither scharen sich in Tanger MigrantInnen aus Marokko, Mali, Mauretanien und aus dem Senegal, die auf einen geeigneten Moment zur Überquerung des Mittelmeers warten. Man nennt sie „Herraguas“, die VerbrennerInnen – Menschen, die bereit sind, ihre Dokumente zu verbrennen, wenn sie die spanische Schengengrenze erreichen, um auf diese Weise die Rückführung in ihr Herkunftsland zu verhindern.
In dem Film Tanger, le rêve des brûleurs (Marokko/Frankreich 2002) folgt Leila Kilani den Wegen von Rhimo, Denis und anderen und dokumentiert die entindividualisierten Träume und Praktiken all dieser VerbrennerInnen. Aber die Strategie der Entidentifizierung ist in erster Linie keine Frage von sich verlagernden Identitätszuschreibungen, sondern sie ist eine materielle und verkörperte Seinsweise. Bei der Strategie der Entidentifizierung handelt es sich um eine freiwillige „Entmenschlichung“, in dem Sinn, dass die Beziehung zwischen Namen und Körper gekappt wird. Ein namenloser Körper ist ein unmenschliches menschliches Wesen, ein Tier, das rennt. Unmenschlich ist er, weil er das humanistische Regime der Rechte vorsätzlich verlässt. Die Flüchtlingskonvention des UNHCR schützt die Rechte von Migrantinnen bei der Ankunft, aber nicht, wenn sie auf dem Weg sind.
Und wir wissen bereits, dass die Ankunft eine longue durée kennt und dass sie nichts mit dem Moment des Ankommens zu tun hat, sondern die ganze Reise, ja beinahe das ganze Leben betrifft. Wir sehen hier, wie die Migration das Rätsel der Ankunft löst. Wie die Verbrenner sagen: Wenn du die spanische Grenze überqueren willst, reicht es nicht aus, deine Papiere zu verbrennen, du musst selbst ein Tier werden. Werden ist wesentlich für Mobilität. Die Trope des Tier-Werdens ist nur eine der Optionen, deren sich MigrantInnen bedienen, um ihre Bewegungsfreiheit zu behaupten. Frau-Werden, Kind-Werden, Älter-Werden, Land-Werden, Flüssig-Werden, Tier-Werden sind die Antworten der MigrantInnen auf die Kontrolle ihres Begehrens.
Betrachten wir beispielsweise die „ewigen“ Werdensprozesse einer der Personen, die wir interviewt haben: eines Chinesen auf dem Weg nach Frankreich, den wir im Zuge unserer Feldarbeit für ein Projekt über transnationale Migrationsrouten in einem Lager in Nordgriechenland trafen. Er war gezwungen worden, für einige Zeit in Rumänien zu bleiben, wo er heiratete und eine Aufenthaltserlaubnis erhielt. Er stellte einen Visumsantrag für die EU, der abgelehnt wurde. Er stellte einen neuen Antrag und erhielt eine dreimonatige Arbeitserlaubnis, die ihn nach Paris führte. Nachdem er die Gültigkeit seines Visums mehr als zwölf Monate überschritten hatte, wurde er gefasst und zurück nach Rumänien abgeschoben (was bedeutet, dass zehn Jahre lang kein neuerlicher Visumsantrag für die EU gestellt werden kann). In Rumänien änderte er seine Identität und sein Geschlecht, heiratete – diesmal als Frau – erneut, stellte wieder einen Visumsantrag für die EU, fuhr nach Paris, wechselte erneut seine Identität und heiratete in Frankreich, wo er schließlich eine Aufenthaltserlaubnis erhielt. Einige Zeit später sandte uns diese Person eine E-Mail mit der Nachricht, dass er oder sie – die grammatikalischen Konventionen dieses Satzes zwingen uns dazu, ein Pronomen zu verwenden – in Kanada angekommen sei.
Werden ist der innere Antrieb der Migration. MigrantInnen treten nicht durch Repräsentation und Kommunikation ihrer wahren individuellen Identitäten miteinander in Beziehung, und ebenso wenig dadurch, dass sie für andere übersetzen, was sie besitzen oder was sie sind. MigrantInnen brauchen keine Übersetzung, um zu kommunizieren, Migration braucht keine Vermittlung. MigrantInnen schaffen und unterhalten eine Verbindung zueinander durch ihre Werdensprozesse, durch die graduelle und sorgfältige, manchmal schmerzhafte Transformation ihrer gegebenen körperlichen Verfassung. Sie verwirklichen ihr Begehren, indem sie ihre Körper verändern, ihre Stimmen, Akzente, Mundarten, Haare, Farbe, Größe, ihr Geschlecht, ihr Alter und ihre Biographien. „Werden heißt, ausgehend von Formen, die man hat, vom Subjekt, das man ist, von Organen, die man besitzt, oder von Funktionen, die man erfüllt, Partikel herauszulösen, zwischen denen man Beziehungen von Bewegung und Ruhe, Schnelligkeit und Langsamkeit herstellt, die dem, was man wird und wodurch man wird, am nächsten sind. In diesem Sinne ist das Werden ein Prozess des Begehrens.“[2]
Wie wir jedoch bereits zu Beginn dieses Abschnitts argumentierten, löst Werden keinen Prozess unaufhörlicher Diversifizierungen und Differenzen aus. Vielmehr bringt das Werden der MigrantInnen die unbestimmte Materialität hervor, auf deren Grundlage neue Verbindungen, Sozialisierungsfähigkeiten, gemeinsame Fluchtlinien, informelle Netzwerke und Transiträume gedeihen. Werden ist die Art und Weise, wie das Rätsel der Ankunft und das Rätsel der Herkunft in einem Prozess der Entidentifizierung miteinander verknüpft werden. Wir verstehen Entidentifizierung hier wörtlich, im Sinne eines Mehr-als-eine/r-Werdens. Die materiellen Werdensprozesse von MigrantInnen münden nicht in einen neuen Seinszustand, sie konstituieren das Sein vielmehr als Ausgangspunkt, aus dem neue Werdensprozesse hervorgehen können. Sein ähnelt jenen Transiträumen, in denen MigrantInnen eine Zeitlang verweilen, sich wieder mit ihren Communities in Verbindung setzen, ihre Verwandten und FreundInnen anrufen, mehr Geld verdienen, um die SchmugglerInnen zu bezahlen, Kräfte sammeln und ihre neuen Werdensprozesse vorbereiten.
Sein ist lediglich eine Zwischenstufe des Werdens. Wenn das Sein die Nummer eines Passes ist, dann sind die Werdensprozesse von MigrantInnen zahllos. Sie sind die Vervielfältigung des Seins. Zwei, drei, viele Pässe! Entidentifizierung heißt: Alle-Welt-Sein. Denn man muss alle Welt sein, um überall zu sein. Deleuze und Guattari bezeichnen dies als die kosmische Formel der Mannigfaltigkeit: Unwahrnehmbar-Werden. Die Unwahrnehmbarkeit der Migration bedeutet nicht, dass Migration selbst unwahrnehmbar wäre. Ganz im Gegenteil, je stärker und effektiver Migrationsbewegungen durch die Materialisierung ihrer Werdenspraktiken werden, umso mehr werden sie zu den privilegiertesten Zielen der Erfassung, Regulierung und Restriktion durch die souveräne Macht. Unwahrnehmbar-Werden ist ein immanenter Widerstandsakt, da es die Identifizierung der Migration als einen aus festgelegten kollektiven Subjekten bestehenden Prozess unmöglich macht.
Unwahrnehmbar-Werden ist das genaueste und effektivste Werkzeug, das MigrantInnen einsetzen, um sich dem individualisierenden, quantifizierenden und repräsentationalen Druck zu widersetzen, der von der sesshaften, konstituierten geopolitischen Macht ausgeübt wird.
IV. Die List der Migration
Welche Art von politischem Subjekt bringt die Unwahrnehmbarkeit hervor? In welcher Weise ist Migration in das Auftauchen einer postrepräsentationalen Ära der Politik eingewebt? Die Politiken der Differenz der achtziger und neunziger Jahre greifen in die gegebenen Repräsentationsverhältnisse ein, verhandeln sie neu und betreiben ihre Neuartikulation unter dem Imperativ, dass Widerstand möglich ist. Cultural Studies, Postkolonialismus, postfeministische Positionen, Queer Studies, radikaldemokratische Ansätze, all dies brachte zum Vorschein, dass die gegebenen Repräsentationssysteme die Auslöschung bestimmter Differenzen mit sich bringen (MigrantInnen, Queers, Subalterne, Ausgeschlossene) und führte eine neue subversive Strategie der Sichtbarkeit ein. Aber diese Zeiten sind vorbei. Die Krise des Multikulturalismus, die Schwierigkeiten, die sich damit verbanden, Queer-Politiken mit anderen radikalen sozialen Bewegungen zusammenzuführen, die sukzessive Vereinnahmung postfeministischer Positionen durch kommunitaristische Neoessentialismen sowie die obsessive Fixierung radikaldemokratischer Ansätze auf Fragen formaler Rechte markieren allesamt eine Phase der Stagnation subversiver Politiken sowie deren Absorption in den Gravitationsbereich liberalen Denkens.
Das ist das Ende der Politik der Repräsentation. Und der Niedergang der Repräsentation bedeutet zugleich das Ende der Sichtbarkeitsstrategie. Statt Sichtbarkeit sagen wir: Unwahrnehmbarkeit. Anstelle des Wahrnehmbar-, Erkennbar- und Identifizierbar-Seins setzt die gegenwärtige Migration eine neue Form von Politik sowie eine neue Formierung aktiver politischer Subjekte auf die Tagesordnung, deren Ziel nicht darin besteht, ein politisches Subjekt zu werden und zu sein, sondern die sich weigern, überhaupt ein Subjekt zu werden: Sir Alfred Mehran weigerte sich, seinen ursprünglichen Namen zu verwenden, als ihm 1999 ein UNHCR-Pass angeboten wurde, der ihn für die Assimilationslogik der liberal-nationalen Administration identifizierbar machte. Statt auf eine Entscheidung über ihren Asylstatus zu warten, flüchten viele in Grenzlagern untergebrachte MigrantInnen aus den Lagern und tauchen in den informellen Netzwerken klandestiner Arbeit in den Metropolen unter. MigrantInnen, die an den nördlichen Küsten Afrikas auf die Überfahrt in schwimmenden Särgen warten, entscheiden sich für das Verbrennen ihrer Dokumente sowie für ein Leben, das sie de facto außerhalb jedweder Sichtbarkeitspolitik stellt.
Währenddessen ist Sichtbarkeit im Zusammenhang von illegaler Migration ein Bestandteil der Technologien zur Überwachung von Migrationsströmen. Selbstverständlich werden MigrantInnen stärker, wenn sie Rechte erhalten und sichtbar werden, aber die Ansprüche von MigrantInnen und die Dynamiken der Migration erschöpfen sich nicht im Streben nach Sichtbarkeit und Rechten. Denn Sichtbarkeit wie Rechte wirken als Marker der Differenzierung, die eine deutliche und sichtbare Verbindung zwischen der Person und ihren Herkünften, zwischen dem Körper und einer Identität herstellen. Und genau dies wollen MigrantInnen nicht, die klandestin unterwegs sind. Sie wollen alle Welt werden, unwahrnehmbar werden. Sie versuchen, wie alle anderen zu werden, indem sie sich weigern, etwas zu sein und in die Logik der Grenzadministration integriert und aufgenommen zu werden. Migration ist der Moment, in dem es man vorzieht, zu sagen, ich möchte lieber nicht sein. Dies ist nicht nur ein Charakteristikum der gegenwärtigen Migration. Nur die Fixierung der Sozialwissenschaften (sowie des mit ihnen einhergehenden öffentlichen Diskurses) auf ein begriffliches System, das sich an einer kommunitaristischen, humanistischen und identitären Politik orientiert, hindert uns daran, Migration als eines der größten Laboratorien der Subversion liberaler Politik zu verstehen.
Selbst ein emblematischer Ort wie Ellis Island kann nicht als jener Melting Pot verstanden werden, aus dem die neue amerikanische BürgerIn hervorging; er bietet sich vielmehr als Raum dar, in dem endlose Geschichten virtueller Identitäten erfunden wurden, mit dem Ziel, die Berechtigung zu erwerben, das „goldene Tor“ ins amerikanische Land zu durchschreiten. Die ganze Vision eines Amerika, das alle, die aus dem Ausland kommen, willkommen heißt und offen ist für Differenz, gründet in einer unendlichen Serie von Erfindungen und Lügen. Wertvolle Lügen, nette Lügen, vitale Lügen, die die Geschichte Amerikas und die List der Migration miteinander verknüpfen. Migration ist die Schwester der Flüchtigkeit und Unbeständigkeit, sie schafft vermengte Formen, bringt Frauenmänner, neue Spezies hervor. Die List der Migration züchtet Tiere. Wie sollen diese in den sauberen und pedantischen Archiven der Administration registriert werden? Wie auf ein Schaf oder einen Raben reagieren, wenn dieses Tier den Mut hat, dem Blick der BürokratIn in einer Polizeidienststelle für Zuwanderungsangelegenheiten zu begegnen und Asyl zu beantragen?
Wie all diese Grenztiere registrieren? Wie all diese papierlosen Subjekte verzeichnen? Wie all diese kontinuierlichen Werdensprozesse kodifizieren? Eine Unmöglichkeit. Selbstverständlich ist die Waffe der Unwahrnehmbarkeit, über die die Migration verfügt, nicht immer erfolgreich, sie ist eine Reise ohne Garantien, sie bringt Schmerzen, Leiden, Hunger, Verzweiflung, Tortur, ja selbst den Tod von tausenden Menschen mit sich, deren Boote in den Ozeanen der Erde versinken. Wir haben uns in diesem Text jedoch absichtlich dazu entschlossen, Migration nicht ein weiteres Mal als humanitären Skandal oder Abweichung von der evolutionistischen Menschenrechtsdoktrin der westlichen Moderne darzustellen. Ist es denn ein Zufall, dass die in den Medien und im öffentlichen Diskurs weit verbreiteten Bilder der Migration als monströser Tragödie die allgegenwärtigen humanitären Diskurse und die fremdenfeindlichen und rassistischen Politiken der erzwungenen Rückführung gleichermaßen nähren?
Dieser Text versucht die Perspektive zu wechseln und sich der Migration im Sinne eines für die gegenwärtige soziale Transformation konstitutiven Moments zu nähern, eines Moments, das vorrangig durch Kooperation und Solidarität, durch die Inanspruchnahme weitläufiger Netzwerke und Ressourcen sowie durch ein gemeinsames, geteiltes Wissen und durch kollektive Antizipation aufrechterhalten wird. Dieses Verständnis von Migration setzt die Frage der BürgerInnenschaft direkt auf die Tagesordnung eines postnationalen Gemeinwesens (denken wir an die drei unterschiedlichen Forderungen von Migrationsbewegungen, die mit einer Ausweitung der traditionellen Konzeptualisierung von BürgerInnenschaft verknüpft sind: kulturelle BürgerInnenschaft, flexible BürgerInnenschaft und universelle BürgerInnenschaft). Der Niedergang der Strategie der Sichtbarkeit markiert einen Wendepunkt bezüglich der Art und Weise, wie wir Politik verstehen. Auf welche Weise eröffnet Migration Möglichkeiten, die uns das Ende der gegenwärtigen Formen von Souveränität neu zu denken erlauben? Die Politik der Repräsentation und ihre subversiven Reartikulationen gehören zum Inventar der historischen Verwirklichung einer demokratischen sozialen Organisationsform. Ihr Kernprinzip ist die nationale Souveränität, also die ideale Entsprechung und Deckungsgleichheit von „Volk“ und Territorium.
Die nationale Souveränität versucht diese Übereinstimmung in zwei aufeinander folgenden Schritten zu etablieren: Erstens teilt sie die Menschen eines Territoriums auf und ordnet sie mittels der Signifikationsverfahren der Repräsentation in Gruppen und soziale Schichten ein; zweitens weist sie jeder dieser repräsentierten Gruppen Partizipationsrechte zu. Nationale Souveränität gründet hinsichtlich einer potenziell egalitären Verteilung von Rechten auf dem nationalen sozialen Kompromiss zwischen verschiedenen Gruppen und Schichten. Migration ist ein Teil dieses Prozesses, auch wenn sie in unterschiedlichen Ländern unterschiedlich gehandhabt wurde. In den meisten europäischen Ländern wurde Migration beispielsweise in Form von Gastarbeit assimiliert, also einer zeitlich befristeten Beschäftigung, die eine Inklusion des Rechts auf Arbeit auf der nationalen Ebene vollzog, ohne dass sich damit eine umfassende Zuerkennung gleicher politischer Rechte verbunden hätte. In Ländern, welche Zuwanderung aktiv anregten, wurden MigrantInnen dem nationalen sozialen Kompromiss einverleibt, indem sie als integraler Bestandteil des nationalen Projekts im Allgemeinen akzeptiert wurden. In diesem Fall wurden ihnen nicht nur volle Arbeitsrechte, sondern auch politische Rechte gewährt. Aber trotz der scheinbar egalitären Behandlung der Migration in diesem zweiten Fall trafen MigrantInnen auf rassistische Dispositive, die in diesen Gesellschaften vorherrschten.
Gleiche Rechte zu haben bedeutete nicht, über das gleiche symbolische Kapital im Rahmen der Politik der Repräsentation zu verfügen. Dass die Cultural Studies und der Postkolonialismus (die, wie wir bereits sagten, insbesondere mit der Kritik des Repräsentationsdefizits befasst sind) in erster Linie in jenen Ländern entstanden und erst später in Kontinentaleuropa auftauchten, ist ein Ergebnis dieser besonderen historischen Erfahrung, nämlich der Koexistenz von gleichen Rechten und rassistischer Behandlung, von formaler Gleichheit und de facto stattfindender ethnischer Segmentierung. Trotz all dieser Variationen im Umgang mit Migration bestand die Hauptfrage in der Zuerkennung von Rechten und repräsentationaler Sichtbarkeit gegenüber MigrantInnen. Die Forderung nach uneingeschränkten Rechten und umfassender Repräsentation, das so genannte Doppel-R-Axiom, ist Ergebnis des Drucks, den Migration auf die nationale Souveränität in Richtung einer Umgestaltung der funktionalen Beziehung zwischen Menschen und Territorium ausübt. Das konstitutive Außen der nationalen Souveränität ist keine weitere, extraterritoriale nationale Souveränität, sondern die Grenze als materielle Manifestation ihrer Beziehung. Das Doppel-R-Prinzip organisiert nicht nur das national-territoriale Korpus, sondern kennzeichnet in erster Linie die Beziehung zu außerhalb seiner verorteten Staaten und deren Bevölkerung.
Auf diese Weise bestimmt das Doppel-R-Axiom zugleich die Matrix von positiven Rechten und Repräsentation innerhalb des nationalen Territoriums und die Nichtexistenz von Rechten und symbolischer Präsenz jenseits seiner Grenzen. Wenn wir über das Doppel-R-Axiom nachdenken, müssen wir immer berücksichtigen, dass es auch auf sein genaues Gegenteil verweist, nämlich auf das Fehlen von Rechten und Repräsentation. Daher wurde und wird der Ausnahmezustand in der modernen politischen Theorie als das entscheidende Moment der modernen nationalen Souveränität erachtet. Denn die nationale Souveränität trägt immer die Negierung ihrer selbst in sich. Sie kann ihre eigene Grundlage immer verneinen und sich von ihrer Funktion zurückziehen, die in der Zuweisung des Doppel-R-Axions besteht. Der Ausnahmezustand ist jener Moment, in dem die Grenzen im Inneren des nationalen Territoriums errichtet werden, wodurch jede scheinbare Gesellschaft von Gleichen in Stücke gerissen wird. Ungeachtet der Konzeptualisierung der Nation als egalitärer Einheit von Menschen bzw. „des Volkes“ ist die nationale Souveränität um eine innere Grenze herum organisiert, welche die ganze Gesellschaft von allem Anfang an durchzieht: die hierarchische Anordnung von Geschlechterverhältnissen sowie die Strukturierung des nationalen Imaginären entlang einer maskulinisierten und homophoben Ideologie.
Die nationale Souveränität ist institutionalisierte Geschlechterunterdrückung. Es gibt keine Nation, die Frauen und Männern, Heterosexuellen und Queers gleiche Rechte und gleiche symbolische Macht garantiert. Die Macht der nationalen Souveränität besteht mithin, seit sie existiert, darin, Grenzen in ihrem eigenen Korpus errichten zu können; sie kann chirurgische Eingriffe an ihrem eigenen Körper, der Gesellschaft der Menschen, vornehmen. Während die nationale Souveränität der alles einschließende und alles verdauende Magen des Leviathan ist, entleert der Ausnahmezustand, Ergebnis der Errichtung von Grenzen innerhalb der eigenen Gesellschaft, den Magen und spuckt aus, was destabilisierend wirkt. Moderne nationale Souveränität ist das organisierende Handlungsprinzip, das Rechte gewährt und den Zugang zu symbolischer Macht sicherstellt, und gleichzeitig dessen Antithese, eine Macht, die Rechte systematisch für nichtig erklärt und Repräsentation beschneidet. Bis hierher haben wir gesehen, wie Grenzen unter dem Druck von Migration die veränderlichen Gesichter und Entwicklungen der Souveränität hervortreten lassen. Nun wollen wir dieselbe Sache unter einer anderen Perspektive erhellen: jener der Massen in Bewegung. Wie erhalten Grenzen, als integrale Bestandteile nationaler Souveränität, spezifische Formen der Kontrolle von Migrationsbewegungen aufrecht?
Historisch war die systematische Kontrolle der Arbeitskraftmobilität eine Reaktion auf die Flucht der Massen aus ihrer Versklavung und vertraglichen Verdingung an Berufsstände (Zünfte, Gilden etc.). Die Einführung der Lohnarbeit stellt den Versuch dar, die Freiheit der vagabundierenden Massen in produktive, nutzbare und ausbeutbare Arbeitskraft zu übersetzen. Die Freiheit zur Wahl und zum Wechsel der ArbeitgeberIn ist keine falsche oder ideologische Freiheit, wie klassische Arbeiterklasse-MarxistInnen nahe legen, sondern vielmehr ein historischer Kompromiss, der darauf abzielt, die neu freigesetzte, desorganisierte und umherschweifende Arbeitskraft in ein neues Produktivitätsregime einzugliedern. Tatsächlich ist die Lohnarbeit von Anfang an eher ein Prinzip, das der Ordnung des Freiheitsüberschusses der ArbeiterInnen dient, denn ein bloßer Unterdrückungsmechanismus. Erst später, mit dem Auftauchen und der globalen Ausweitung kapitalistischer Produktion, wird die Lohnarbeit allmählich erneut zur repressiven Einschränkung der potenziellen Freiheit von ArbeiterInnen. Die fordistische Lohnarbeit verwandelt die Freiheit der ArbeiterInnen zur Mobilität in einen festen und stabilen Arbeitskräftemarkt. Der Fordismus verwandelte die verheißungsvolle Kraft der Bewegungsfreiheit in eine wettbewerbsmäßig organisierte, aufsteigende soziale Mobilität. Disziplinierungsinstitutionen bereiten Männer darauf vor, in den fordistisch organisierten Arbeitsmarkt einzutreten, und binden Frauen an den sozial getilgten und symbolisch entwerteten Reproduktionsbereich. Die Einverleibung der Spaltung zwischen produktiven und reproduktiven Feldern ins fordistische Regime stabilisierte die der nationalen Souveränität dienliche hierarchisch-patriarchale Ordnung der Geschlechterverhältnisse.
Der Neoliberalismus und die biopolitische Wende führten zum Zusammenbruch der nationalen Souveränität und des fordistischen Regimes. Einerseits vollzog das globale Kapital seinen eigenen Exodus aus der nationalen Regulierung; andererseits intensiviert die gegenwärtige grenzüberschreitende Arbeitsmobilität den existierenden Druck auf nationale Grenzen. Der Neoliberalismus führte die virtuelle Ordnung globaler Märkte ein und unterminierte unwiderruflich das Machtmonopol der nationalen souveränen Staaten. Parallel schleuste die Biopolitik eine deregulierte und verflüssigte Gouvernanz der Bevölkerung ins Herz des etablierten fordistischen Immobilitätsregimes ein. In ihrem Zusammenwirken trieben Neoliberalismus und Biopolitik die nationale Souveränität ihrem Ende entgegen. Die doppelte Dynamik des Transnationalismus und der Migration beschleunigten die bereits erwähnte innere Ambivalenz der nationalen Souveränität – sieht sich doch die nationale Souveränität zusehends versucht, ihr Recht auf Ausnahme in ihrem eigenen Körper auszuüben, indem sie immer mehr Grenzen inmitten der eigenen Gesellschaft errichtet: wuchernde Lager, Guantanamo, Gated Communities, Banlieues, industrieller Gefängniskomplex, Favelas etc.
All dies jedoch bildet nur den nackten Körper des neu entstehenden Souveräns. Wir stehen am Anfang einer Phase, in der Neoliberalismus und Biopolitik ihre Aufgabe der Dezentralisierung nationaler Souveränität erfüllt haben und in eine Periode eintreten, in der sie sich selbst außer Kraft zu setzen beginnen. Eine neue große Transformation der Gegenwart vollzieht sich, eine Transformation, welche das Nachkriegsmodell der nationalen Souveränität ebenso wie den Neoliberalismus und die Biopolitik der achtziger und neunziger Jahre hinter sich lässt und uns zu einer postnationalen und postliberalen Formierung von Souveränität führt. Unter den aufkommenden postliberalen Bedingungen wird die Arbeit mobil und MigrantInnen werden Tiere, die ihre subjektiven Fluchtlinien aus den rigiden und ausbeuterischen Akkumulationsregimes der Gegenwart ausdrücken. Trug die Biopolitik auch dazu bei, die Bewegungsfreiheit in Konfrontation mit fordistischen nationalen Kontrollregimen erneut anzuregen, so hat sie langsam aber sicher damit begonnen, ein globales System der Unterdrückung zu stärken, das die frei gewordenen Migrationsströme kontrolliert und die Autonomie der Migration unterbindet.
In diesem Text haben wir versucht, die nomadische Philosophie von Deleuze und Guattari als Ausgangspunkt für die Überwindung der Begrenzungen des biopolitischen Verständnisses von Migration zu verstehen. Deleuze und Guattari bieten Konzepte an, die die heilige Dualität der gegenwärtigen Migrationstheorie erschüttern und somit herausfordern: das ökonomistische Denken der neuen Mobilitätsstudien, das den Humanitarismen des kommunitären Denkens wie auch der Flüchtlingsstudien gegenübersteht. Das Konzept des Werdens kann uns dabei unterstützen, den liberalen Diskurs der neuen MigrantIn als nützliche und anpassungsfähige Arbeitskraft ebenso zu überwinden wie die Opferlogik, die im paternalistischen Interventionismus der NGOs vorherrscht. In der Perspektive einer Theorie der Autonomie der Migration, inspiriert durch die Philosophie von Deleuze und Guattari, ist Migration die paradigmatische Antriebskraft einer neuen postliberalen Souveränität. Dies jedoch ist zugleich der schlimmste Albtraum des neu auftauchenden Souveräns, dessen neue Kleider in den Sweatshops dieser Erde hergestellt werden. Die in Bewegung befindlichen Meuten mobiler ArbeiterInnen, die in schwimmenden Särgen von Kontinent zu Kontinent übersetzen, schaffen unzählige neue, unbenannte, ungezügelte und nicht identifizierte Subjektivitäten. Menschen agieren gemeinsam und machen Welt, ohne ihren Allianzen und Existenzbedingungen irgendwelche bleibenden Namen zu geben.
Ohne jemals darauf abzuzielen, kommt diese Mannigfaltigkeit von Subjektivitäten einer Unzweideutigkeit gleich. Sie ist ein Moment der Ausübung sozialer Kontrolle von unten, wo soziale Veränderung ohne Subjekt auskommt, wo neue, schwer zu fassende historische AkteurInnen die Welt der Unwahrnehmbarkeit bewohnen und den beharrlichen und unersättlichen Überschuss einer Sozialität in Bewegung hervorbringen, eine neue Welt im Herzen der alten: die Welt 2.
Die Welt 2 ist keine Einlösung oder Erlösung dieses Überschusses an Sozialität, in Form der Errichtung einer neuen totalisierenden und messianischen Version einer besseren demokratischen Polis, sondern sie begründet den Exodus aus der Polis – die Erste Transnationale?
Danksagungen
Wir danken Niamh Stephenson für ihre aufschlussreichen Kommentare und ihre Drei-Wörter-Gabe, Jim Clifford für all jene Ideen in diesem Text, die unseren inspirierenden Diskussionen in Santa Cruz entspringen, Efthimia Panagiotidis für den Gedankenaustausch zu unserer gemeinsamen Feldarbeit und Brigitta Kuster für ihre Anregungen zu Dokumentarfilmen über Migration. Ein Teil der hier präsentierten empirischen und theoretischen Forschung wurde von der Alexander von Humboldt Stiftung und von der deutschen Kulturstiftung des Bundes finanziert (Forschungsprojekt „Transit Migration“). Die in diesem Text diskutierten Ideen haben durch die Debatten im Theorie- und Grenzaktivismusnetzwerk Frassanito viele Bereicherungen erfahren.
Anmerkungen:
[1] Deleuze/Guattari, Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie, übers. v. Gabriele Ricke u. Ronald Voullié, Berlin: Merve 1997, S. 382 f. [2] Ebd., S. 371.