Die Staatspoller des „Sozialismus in einem Block“ zerbröseln langsam und werden überwuchert. André Meier hat gerade wegen eines solchen maroden sozialistischen Betonpfeilers sein altes Pferd verloren: Der Wallach hatte sich am Rand seiner Weide immer wieder daran gescheuert, als plötzlich der DDR-Poller brach und er sich dabei so schwer verletzte, dass er getötet werden mußte. André Meier fand es bemerkenswert, dass die für die Ewigkeit gegossenen DDR-Poller die DDR nur um Weniges überleben. Das Photo hier ist ein Still, also ein Standfoto aus einer Videoinstallation von Margita Haberland mit dem Titel „Verlandlandschaften“, die in der Ausstellung „Endmoräne““zu sehen ist. Die Gemeinschaftsausstellung findet in der Villa Thyssen, Berliner Str. 19, 15378 Rüdersdorf bei Berlin, Ortsteil Hennickendorf, statt, die F i n i s s a g e „Gel(i)ebtes Leben“ ist am 11. Juli von 11 bis 19 Uhr.
Vorweg: Der russische Realismus
Die Folgen der nachgeholten – bolschewistischen – Modernisierung bedrohen erneut die russische Intelligenzija: „Dead again!“ wie sich die Moskauer Schriftstellerin Masha Gessen bereits im Titel ihres US-Buches über diese Spezies äußert. Als soziale Gruppe entstand sie in Rußland erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts und fand dann ihren wichtigsten Bezugspunkt im Leben und Werk von Puschkin, den sie bis heute nicht verloren hat. Ihr hoher moralischer Anspruch war ebenso persönlich wie stets aufs Ganze gerichtet. 1863 veröffentlichte Nikolai Tschernyschewski die Erzählung „Was tun?“. Der Philosoph und Dichter schrieb sie in der Peter- und-Paul-Festung, er wurde dann 19 Jahre nach Sibirien verbannt. In „Was tun?“ skizzierte er für die kommende Intelligenzija den „Neuen Menschen“ – den Revolutionär als „Beweger“. „Wir lasen es mit gebeugten Knien“, erinnerte sich ein ebenfalls nach Sibirien Verbannter, der sich davon mit vielen anderen zusammen zum Terrorismus inspirieren ließ. Die zweite Beantwortung der russischen Frage „Was tun?“ stammt aus dem Jahr 1902 von Lenin und befaßte sich mit dem bolschewistischen Parteiaufbau, der Avantgarde. Lenin entwickelte darin die Konzeption des Berufsrevolutionärs, den die objektiven Interessen der Arbeiterklasse bewegen. 1997 erschien auch noch ein drittes Werk mit dem Titel „Was tun?“: eine Beantwortung der „russischen Frage“ auf einem Kolloquium der Deutschen Bank mit Siemens, Daimler-Benz und entsprechenden „Verantwortlichen“ in Rußland. Der Titel ist Hilmar Koppers Referat entnommen, der darin ein Bewegungs-„Programm“ entwirft, „das Macht, Geist und Geld zusammenführt“. Es ist die Fortsetzung dessen, was Gorbatschow „umzusetzen“ versucht hatte, nämlich eines der Szenarien, die bereits unter seinem Vorgänger Andropow von verschiedenen ZK-„Braintrusts“ ausgearbeitet worden waren, um den Machterhalt der Parteielite in einer vom „Neuen Denken“ bestimmten sozialistischen „Transformationsperiode“ zu gewährleisten: „durch Umwandlung des Kollektivbesitzes der Nomenklatura in Privatbesitz ihrer einzelnen Mitglieder“ – so der ehemalige ZK-Mitarbeiter Jewgeni Nowikow 1994 in New York.
Wiewohl man die Herausbildung der Intelligenz als „klagende Klasse“ (Wolf Lepenies) mit Emile Zola anheben läßt, erreichte sie etwa zur gleichen Zeit im „rückständigen Rußland“, wo sie am konsequentesten die Partei der „Erniedrigten und Beleidigten“ (Dostojewski) ergriff, ihre stärkste moralische Kraft. Nirgendwo sonst auch wurde sie derart verfolgt, wobei – beginnend mit den Dekabristen – Zigtausende nach Sibirien verbannt wurden, starben oder emigrierten. Was sich aus diesem Typus in Rußland an Studentenprotest, Frauenbewegung, Kommunen und Terrorismus entwickelte, nahm die westeuropäische 68er Bewegung und ihren weiteren Verlauf – 100 Jahre vorher bereits – vorweg. Dennoch war auch für die sowjetische Dissidentenbewegung, besonders für ihre Sprecher Solschenizyn und Sacharow, 1968 ein entscheidendes Jahr: Solschenizyn beendete den „Archipel Gulag“ und begann sich öffentlich für „Regimegegner“ einzusetzen, für Sacharow wurde der Einmarsch der Roten Armee in Prag zum „Wendepunkt“. Beide knüpften wieder bei der alten russischen Intelligenzija an – und nahmen sich explizit Puschkin zum Vorbild.
Für die Literatur dieser Epoche war es laut Rosa Luxemburg kennzeichnend gewesen, „daß sie aus Opposition zum herrschenden Regime, aus Kampfgeist geboren wurde“. Die nachrevolutionäre Literatur hatte zwar auch den Staatsterror zu fürchten, sie ließ sich aber vor allem durch das kommunistische Glücksversprechen ihren Kampfgeist abkaufen. Maxim Gorki scheint hierbei eine Art Scharnier gebildet zu haben: Mit seiner Parteinahme für das Proleteriat und Subproletariat gehörte er noch zur alten Intelligenzija. Nach der Revolution emigrierte er, kehrte jedoch – aus Geld- und Ruhmgründen, wie Solschenizyn meint – wieder nach Rußland zurück: Als sowjetischer Staatsschriftsteller, der sich nicht scheute, sogar „der Sklavenarbeit Ruhm zu singen“, das heißt, die ersten Arbeitslager des KGB propagandistisch zu verklären. Damit verkehrte sich das Engagement russischer Schriftsteller vollends in sein Gegenteil. Der in einem sibirischen Arbeitslager gestorbene Dichter Ossip Mandelstam schrieb 1929: „Es ist so weit gekommen… Sämtliche Werke der Weltliteratur teile ich ein in genehmigte und solche, die ohne Genehmigung geschrieben wurden. Die ersteren sind schmutziges Zeug, die letzteren – abgestohlene Luft.“
In den Samisdat-„Aufzeichnungen aus dem Untergrund“ meinte Boris Jampolski noch 1975: „Wenn [E.T.A.] Hoffmann schreibt: ,Der Teufel betrat das Zimmer‘, so ist das Realismus, wenn die [Sowjetschriftstellerin] Karajewa schreibt: ,Lipotschka ist dem Kolchos beigetreten‘, so ist das reine Phantasie.“
Während Tschernyschewskis „Was tun?“ ein Manifest der Intelligenzija war, wurde Lenins „Was tun?“ zu ihrem (eigenen) Nekrolog: „Zwischen 1936 und 1956 wurde die Intelligenzija in der Sowjetunion vernichtet“, resümiert Detlev Claussen. Michel Foucault unterschied 1977 den „universellen Intellektuellen“, dessen Ursprünge er bei Voltaire ansetzte und der vor allem von gebildeten Juristen verkörpert wurde, vom „spezifischen Intellektuellen“, der in seiner besonderen Stellung zur Macht, durch seine berufliche Tätigkeit selbst zum moralischen Widerstand gelangt.
Zum älteren Typus zählte Foucault auch noch Sartre, dessen Kriminalisierung De Gaulle einmal verhinderte mit der Bemerkung: „Einen Voltaire verhaftet man nicht!“ Sartre empfahl übrigens seiner Intelligenz, die Existenz sowjetischer Arbeitslager zu verschweigen: um die französischen Arbeiter nicht völlig hoffnungslos zu machen. Erst Foucault änderte dann Sartres Haltung zum „Gulag“. Das Scharnier zwischen beiden Intellektuellentypen war für Foucault der Atomphysiker Robert Oppenheimer. In der sowjetischen Dissidentenbewegung könnte man danach den „Vater der Neutronenbombe“ Sacharow als Repräsentanten der neuen „spezifischen“ und den Schriftsteller und Dichter Solschenizyn als Vertreter der (alten) „universellen Intellektuellen“ bezeichnen.
Das gilt auch für die Lagerliteratur-Verfasser Jewgenia Ginsburg und Warlam Schalamow. Solschenizyn, dem es stets darum ging, weniger zum Leben zu brauchen als mehr zu verdienen, schätzte außer den Samisdat- beziehungsweise Tamisdat-Werken dieser beiden vor allem die Sibirien-„Tagebuchblätter“ des sozialrevolutionären Terroristen Pjotr Jakubowitsch, der ihm wegen seiner „Kompromißlosigkeit“ nahestand. Sein „Archipel Gulag“, bei dem ihm 250 „Lagergenossen“ zuarbeiteten, werde für das Sowjetsystem einmal so „gefährlich wie eine Atombombe“ sein, schrieb er nach seiner Ausweisung 1975 in „Die Eiche und das Kalb“.
Vor kurzem führte der Petersburger Schriftsteller Daniil Granin Klage über das neuerliche Verschwinden der russischen Intelligenzija, die in den sechziger Jahren – vor allem „aus der Physik und später der Biologie“ – entstanden sei, als diese Spezialisten für die Macht wichtiger als die Beamten und sogar das Militär wurden. Für Granin ist die Intelligenzija ein „sozialer Begriff“, im Gegensatz zur westlichen „Intelligenz“, der ein „Persönlichkeitsbegriff“ sei, „fast ein Beruf“. Granin schrieb mehrere Romane über die „wissenschaftliche Sowjetintelligenz“, die sich mit der Industrialisierung und dem raschen Ausbau des Bildungswesens zu einer Art Mittelschicht entwickelte.
Der Sozialismus begünstigt „in seiner entwickelten Form“ – laut George Orwell – „sowieso eher die Mittelschicht als das Proletariat“. Aus Emigranteninterviews zog der US-Slawist Barber 1988 den Schluß, daß die „sowjetischen Arbeiter“ die offizielle Ideologie weit weniger verinnerlicht hätten als die „Intellektuellen“. Jetzt bildete sich seit 1992 im Zusammenhang mit der Reprivatisierung eine neue russische Mittelschicht heraus. Der ehemalige amerikanische Arbeitsminister Robert Reich nennt diesen – globalen – Mittelschichtstypus „Problemfinder“ beziehungsweise „-löser“. Dazu zählt er Werbetexter, Filmer, Pressesprecher und Journalisten, aber auch Broker, Gentechniker, Programmierer und so weiter. Diese dynamisch charakterlosen „Projektemacher“ neuen Typs bilden für ihn das glückliche Fünftel der neuen postsowjetischen Weltgesellschaft: die einzigen Gutverdiener. Die neue russische „Mittelschicht“ hat darin zwar weder Arbeitslager noch Psychiatrisierung zu befürchten, mit den ihr vorangegangenen aber noch dies gemeinsam, daß sie ständig von der Emigration versucht wird.
Granin beklagt den anhaltenden Massenexodus in den Westen. Wolf Lepenies „prognostizierte“ 1992 bereits, „daß in Europa zwei politische Kulturen aufeinanderstoßen“ werden – „auf seiten der armen Länder Intellektuelle mit hohem moralischem Kredit, aber ohne ausreichende Expertise, auf seiten der reichen Länder dagegen Fachleute mit hervorragender Expertise, die an moralischen Problemen nur mäßig interessiert sind“. Lepenies‘ karrieristische „Fachleute“ dürften mit den Reichschen „Problemlösern“ identisch sein, die Granin westliche Berufsintellektuelle nennt.
Wohingegen die „armen Intellektuellen“ nichts anderes als die sich immer wieder von Puschkins „ironischer Poesie“ (Jossif Brodsky) inspirieren lassende „Intelligenzija“ sind. Aus der Pierre Bourdieu neuerdings wieder eine „Front“ machen möchte! Ich vergaß zu erwähnen, daß schon Zola sich stark von Tschernyschewski beeinflussen ließ. Isaiah Berlin hielt dessen Intelligenzija gar für „den größten russischen Beitrag zum sozialen Wandel in der Welt“.
Der Westberliner Lepenies sorgte sich 1992 um die west-„europäischen Intellektuellen“. Im selben Jahr fürchtete der Ostberliner Volker Braun um die östliche „Intelligenzija“ – in einem Essay zur Neuherausgabe von Dostojewskis Puschkin-Rede, die dieser 1880 gehalten hatte: anläßlich der Einweihung des Puschkin-Denkmals, wo nicht zufällig ab 1980 auch die ersten Moskauer Protestdemonstrationen begannen. Volker Braun sah von Puschkins „Onegin“ über Trotzki bis zu Gorbatschow die „Verwirklichung“ ein und desselben „literarischen Typs“ am Werk, die für ihn gleichzeitig seine „Heraustreibung“ war. Vielleicht ist die politische oder wirtschaftliche Verbannung für die Intelligenzija am Ende wesentlich? Sibirien wäre demnach ihr Genius loci. Und Paris bloß so lala!
Postsowjetische True Crime Stories
Nach dem Zerfall der Sowjetunion kam es bei der Privatisierung zu heftigen Verteilungskämpfen: Bandenkriege und Auftragsmorde. Gleichzeitig entstanden neue Zeitungen, die sich mit nichts anderem als „Sex & Crime“ befaßten. Außerdem machten eine Reihe neuer Krimi-Autoren von sich reden, die auf diese „neuen Erscheinungen“ reagierten.
Gleich der erste soeben auf deutsch erschienene Band der russischen Krimiautorin Alexandra Marinina, „Auf fremden Terrain“, befaßt sich mit der Mafia – in einer Kleinstadt, wo sie mit der mafiösen Kommunalverwaltung sowie mit einer Rehaklinik-Verwaltung kohabitiert bzw. kollidiert. Der Aufklärer ist eine dort kurende Moskauer Milizionärin namens „Anastasija“. Auch die Autorin war bis vor kurzem noch ein Oberstleutnant der Miliz. Ihre ersten literarischen Arbeiten veröffentlichte sie in der Hauszeitung des Innenministeriums. Inzwischen verkauften sich ihre bisher 20 Krimis über 13millionenmal. Die Bestsellerautorin lebt nunmehr von ihrem Schreiben, ebenso ihr Agent Natan Sablozkis, der zuvor – im Dienst – ihr Vorgesetzter war. Der Berliner Argon-Verlag hätte jedoch besser nicht gleich derart mit der Wurst zur Speckseite geworfen – und mit Marininas Mafia-Fall begonnen, denn eigentlich sind ihre Täter gerade keine der hierzulande ebenso beliebten wie gefürchteten russischen „Mafia-Typen“, sondern einfache Menschen – Mörder wie du und ich quasi: WK-Zwo-Veteranen, für den Polizeidienst Untaugliche und frustrierte Ex-Generäle… Der Spiegel zählte sie gerade alle auf, und trug damit das Seinige zum Erfolg der Krimis von Marinina – nun auch in Deutschland – bei. Nötig hätten diese es nicht. Denn die Autorin, die ihrem Alter ego Anastasija erlaubt, sich nebenbei noch mit Englischübersetzungen ein Taschengeld zu verdienen, zieht auch bei ihren restlichen Romansträngen alle angloamerikanischen Register. Diese Westanpassung macht ihre Bücher hier eher überflüssig – im Gegensatz zur sonstigen russisch-sowjetischen und postsowjetischen Bullenprosa, die wahrscheinlich einmalig ist, auch und gerade in ihrer wüstesten Romantik.
In vorrevolutionären Zeiten gab es zwar das Genre nicht, aber sehr viele russische Schriftsteller, die sich aufgrund ihres gesellschaftlichen Engagements verpflichtet fühlten, über Kriminelle, ihre Taten und ihre Behandlung durch die Staatsmacht zu schreiben. So wurde oftmals aus einer kleinen Gerichtsmeldung ein dicker Roman. Bei Dostojewski beispielsweise, der dann sogar seinen sibirischen Gefängnisaufenthalt dazu nutzte, um Verbrecher zu studieren. Die wohl gründlichste Gefängnisforschung stammt von Tschechow: „Die Insel Sachalin“. Mit der Zeit wuchs sich dies zu einem eigenen (Sibirien-)Genre aus, das noch längst nicht abgeschlossen ist. In den USA gibt es bereits das Genre „Sibirien-Krimi“ und sogar „Hollywood heads for Siberia“, wie das Fachblatt Moving Pictures vermeldet. Es bleibt dort jedoch alles beim alten: „Der Russe ist immer der Böse.“ Bereits mit Beginn der modernen russischen Literatur, d.h. seit Puschkin, gibt es eine große Sympathie der Intelligenz mit den Kriminellen, denen auch das Volk zu keiner Zeit sein Mitgefühl entzog. Dadurch kam es zu ihrer ebenso fatalen wie falschen „Romantisierung“ – wie Solschenizyn meint. Mit der Revolution wurde daraus – mindestens bis in die fünfziger Jahre – eine Art Staatsdoktrin: Für die Avantgarde des Proletariats waren die Kriminellen als Subproletariat „Klassennahe“, während die (revolutionäre) Intelligenz bald zu den Klassenfeinden zählte. Die Folge war, daß sich die mit den Bolschewiki sympathisierenden Schriftsteller, wollten sie nicht verfolgt und vernichtet werden, auf die Seite des Staates und seiner Sicherheitsorgane schlugen. Gleichzeitig schafften es viele der übelsten Verbrecher, umerzogen, als KGB-Lagerwächter und sogar -Offiziere Karriere zu machen. Während Zigtausende von politischen Gefangenen in den Gefängnissen und Lagern noch hinter den debilsten Totschlägern rangierten.
Die Organe verfolgten nicht nur die Dichter und ihre Leser bis in die geheimsten Rezitationen – und schufen sich dafür einen entsprechenden (wissenschaftlichen) Apparat, sie sonnten sich und ihren revolutionären Eifer auch immer wieder gerne im Lichte großer Literatur. Außerdem fühlten sie sich auch immer wieder herausgefordert, ihren Alltag selbst schriftstellerisch zu „bewältigen“. Heraus kamen dabei schreckliche Sammelbände – mit Titeln wie „Schild und Flamme“, „Blumen und Stahl“, oder Tschekisten-Memoiren à la „Ein Leben in Gefahr“ (von Tewekeljan). Bis heute gibt es aber auch aller Ehren werte Schriftsteller, die einmal Wächter in irgendeinem Lager waren. Der leider gerade (in der amerikanischen Emigration) gestorbene Sergej Dowlatow („Die Unsren“) beispielsweise. Seit der Entlassung der letzten politischen Häftlinge und der Reduzierung von Arbeitsplätzen besinnt man sich in Rußland wieder mehr auf den Resozialisierungsgedanken – derart, daß inzwischen ab einem bestimmten Dienstgrad jeder in einer Vollzugsanstalt Beschäftigte nebenbei noch Sozialwissenschaften bzw. Philosophie studieren soll. Mit der Folge, daß es inzwischen wohl nirgendwo so viele schreibende Uniform- und Geheimnisträger gibt wie in Rußland. Dies ist auch Ausdruck eines anderen Verhältnisses von privat und öffentlich. So fiel einem KGB- Überläufer (Spezialist für Computercodes), den man 1994 in einer Münchner CIA-Siedlung versteckte, vor allem auf, daß sich dort die Amerikaner so benahmen, als würden sie alle normale Angestellte einer stinknormalen Firma sein, die sich abends mäßig im Hofbräuhaus oder in Schwabing amüsierten und morgens müde ins Büro schleppten. In der Sowjetunion legen die Organe dagegen nach wie vor eher Wert auf Isolation: Die Welt wimmelt von Spionen – was zusammen mit dem Verrat dann auch ein breites Genre wurde. Derzeit durchaus induktiv selbstaufklärerisch: So veröffentlichte unlängst ein anderer „Überläufer“, der Bruder des Regisseurs Nikita Michailkow, in München unter Pseudonym heiße „KGB-Insiderstories“ – auf deutsch.
Zwar gab es in der Sowjetunion stets von oben durchorganisierte Massenverhaftungskampagnen – gegen Bummelei und Hooliganismus etwa -, aber die kleinen quasi Einzelfälle waren ansonsten das tägliche Brot der Miliz (der Polizei). Zu Anfang – im Bürgerkrieg – wurden allerdings aus Kriminellen immer wieder konterrevolutionäre Banden – und umgekehrt. Auch und gerade die wachsame Miliz blieb von diesem „Paradigmenwechsel“ nicht verschont. Sehr schön schildert dies der sibirische Journalist Pawel Nilin, dessen Bücher „Ohne Erbarmen“ und „Der Kriminalassistent“ in den fünfziger Jahren auf deutsch erschienen: „Sozialistischer Humanismus mit Action“, wie es in einem Literaturlexikon heißt. Ab Mitte der zwanziger Jahre entstand aus solchen – die Probleme der revolutionären Moral behandelnden – Miliz-Romanen parallel zu der von oben wieder zugelassenen Marktwirtschaft (Neue Ökonomische Politik – NEP – genannt) für einige Zeit so etwas wie ein eigenes Krimigenre. Seine Helden waren Schieber, Spekulanten, Zuhälter bzw. die diesen neuerlichen „Augiusstall“ säubernden Fahndungsbrigaden: Abschreckungsliteratur. Den Anstoß hierzu gab anscheinend Nikolai Bucharin, der in der Prawda 1923 wiederholt einen „roten Pinkterton“ gefordert hatte. Die Philosophin Marietta Schaginjan veröffentlichte daraufhin eine Groschenheftserie „MessMend oder die Yankees in Leningrad“. Die Cover-Collagen gestaltete Alexander Rodtschenko. Fast zeitgleich wurde Schaginjans Krimi in der deutschen Roten Fahne nachgedruckt, deren Leser jedoch über die chaotisch-ironische Destruktion des beliebten US-Kolportage-Genres durch die sowjetische Autorin not amused waren. Von ähnlich phantastisch-groteskem Kaliber war dann der Kollektiv-Krimi „Die großen Brände“, an dem sich 25 Autoren (u.a. Babel, Grin, Fedin, A. Tolstoi, Soschtschenko und Kolzow) beteiligten.
Spätere Krimischreiber siedelten ihre Handlung immer wieder in dieser guten alten Verbrecherzeit an. Beispielsweise der Komsomol- Funktionär Nikolai Sisow in: „Was soll ich mit einer Million?“ Der Roman erschien hier 1976, er beschwört die NEP-Gestalten wie Schatten der Vergangenheit herauf. Ebenso der 1978 in der DDR – in der Reihe „Spannend erzählt“ – veröffentlichte Roman „Der Schuß“ des jüngst verstorbenen Anatoli Rybakow. Wenn es um das kontemporäre Verbrechen ging, neigte man jedoch – schon bald nach der NEP – dazu, das Problem von Schuld und Sühne wieder losgelöst von allem Fahndungsdruck zu diskutieren. In „Die Abrechnung“ von Wladimir Tendrjakow bekennen sich z.B. alle Zeugen gegenüber dem ermittelnden Milizoffizier als „schuldig“ – um anstelle des jugendlichen Mörders bestraft zu werden! Solche gleichsam ins Philosophische abdriftende Romane trugen dazu bei, im Westen die Meinung zu verbreiten, im Osten seien echte Krimis verboten, weil man dort davon ausgehe, mit dem Kommunismus werde jedwedem Verbrechen der Boden entzogen. Solschenizyn rühmte jedoch gerade Tendrjakow – vor allem wegen seines Romans „Drei, Sieben, As“, weil der es – vielleicht als einziger russischer Schriftsteller – verstanden habe, „erstmals einen Unterweltler ohne Anhimmelung und Rührseligkeit zu zeichnen und dessen innere Widerwärtigkeit aufzudecken“. Mit der Perestroika rächte sich aus der Sicht des Volkes das „Bündnis“ der Bolschewiki und insbesondere des KGB mit den Kriminellen. Die im Zuge der Privatisierung eingeleitete Zweite NEP schuf in den neunziger Jahren mit den Neuen Russen, dem Busineß und der Mafia die realen Bedingungen für eine neue Krimikonjunktur. Von den in dieser Zeit entstandenen „Thrillern“ wurden viele sofort zu Bestsellern. Noch immer zeugen zahlreiche Spezialzeitschriften und TV-Sendungen von dem großen Interesse der Russen an allem Kriminellen. Die neue, jetzt gerade mit der ökonomischen Krise wieder eingestellte Literaturzeitschrift Puschkin widmete ihre letzte Ausgabe diesem Thema.
An erster Stelle wird dort der Krimiautor Daniil Koretzky (48) erwähnt, ihm gelangen bereits sieben Bestseller. „Der schreibende Oberst“ (bei der Miliz) ist noch immer im Dienst: Seine Romanideen fallen ihm beim Marschieren auf dem Exerzierplatz ein, behauptet er. Seine Plots gelten als „dynamisch, lebensnah“ und beweisen überdies „große Materialkenntnis“. Von seinen Büchern – beginnend mit „Antikiller“ 1 und 2 – verkaufte er bisher über 2 Millionen Exemplare. Koretzky sieht sich dennoch weniger als Schriftsteller denn als „Diener des Systems“. Den Schriftstellern wirft er vor, sie würden nicht verstehen, was derzeit wirklich vor sich geht – draußen im Land! Da er z.B. davon ausgeht, daß inzwischen die russischen Bezirksgerichte sämtlichst von der Mafia kontrolliert werden, fordert er, die Armee solle die Kriminalprozesse führen – mit maskierten Richtern. Den Vorwurf der Kritik, sein Roman über die Todesstrafe – „Vollstreckung“ – sei allzu „kafkaesk“, konterte Koretzky resolut: „Nein, so ist das Leben!“
Auch der zweite von Puschkin porträtierte prominente Krimi- Autor Sergej Alexejew (45) ist quasi vom Fach: Er war Untersuchungsführer bei der Kriminalpolizei. Nachdem man ihn wegen Alkoholismus entlassen hatte, wurde er Schriftsteller. Seinen 700-Seiten-Schmöker „Der Schatz von Walkirij“, der sofort 50.000mal verkauft wurde, bezeichnete die Kritik als „philosophisch-ethnographischen Action-Roman“. Der Autor, der angeblich große Ähnlichkeit mit seinem Protagonisten hat, schuf damit einen „Kulturmythos à la Castaneda“. Die riesige Resonanz auf diese „Romantik“ war bisher echter Literatur vorbehalten, klagte Puschkin. Es geht darin um die Zukunft Rußlands, die von einer unsterblichen neuen Komintern, die sich in Ural-Katakomben fit hält, gesichert werden soll. Zu Alexejews Lesungen erscheinen immer wieder Fans, die sich persönlich für die Walkirij-Auserwählten halten bzw. bereits in besagtem „Untergrund“ leben. Der Autor ist inzwischen selbst von dieser Realität zweiter Ordnung derart überzeugt, daß er neulich schon auf dem Moskauer Flughafen mit Waffen und Munition im Gepäck verhaftet wurde. Ähnlich erging es auch dem Philosophen Anatoli Koroljow (50), der angesichts der boomenden Krimiliteratur seiner Zeitschrift Snamja (Das Banner) vorschlug, auch einmal einen „Thriller“ zu schreiben. Gesagt, getan. Nur lehnte die Redaktion dann überraschend sein Manuskript – mit dem Titel „Thriller“ – ab. Koroljow suchte sich einen neuen Verlag. Er fand zwei merkwürdige, aber seriöse Geschäftsleute – mit einem Verlag, in dem bisher nur ein Buch erschienen war: über eine Makarow-Pistole!
Kurz vor der öffentlichen Präsentation seines Thrillers fragten sie den Autor, ob er etwas dagegen hätte, wenn die Party in KGB-Räumen stattfände. „Nein, im Gegenteil!“ meinte Kariljow, der nun gespannt ist, ob – und wenn ja, wie – sein Krimi sich immer mehr in die russische Realität rein verlängert. Der in Berlin lebende Schriftsteller Wladimir Kaminer meint: „Eine revolutionäre neue Ordnung zu schaffen, das ist schon immer eine genuin künstlerische Tätigkeit gewesen, und daraus erklärt sich auch die enge Verbindung zwischen Bolschewiki und Künstlern, seit Dscherschinski.“ Zu dem käme noch hinzu, daß die Miliz, generell alle „Menschen in Uniform“, in der Sowjetunion stets im „Mittelpunkt der Gesellschaft“ standen. Diese Leerstelle hätte nun die Mafia besetzt, der deswegen alle Aufmerksamkeit gelte. Dies könnte u.a. auch den Krimi- Boom erklären.
Die berühmteste russische Leiche
Es ist eine Schande, daß zu Lenins 75. Todestag, er starb am 21. Januar 1924, nur ein einziges Buch erschienen ist. Und das befaßt sich ausgerechnet mit dem Drum und Dran der Einbalsamierung seiner Leiche. Immerhin, diese Geschichte ist ziemlich instruktiv. Der Autor, Ilya Zbarski, hatte als Sohn und Mitarbeiter des späteren Leiters des Lenin-Mausoleum-Laboratoriums, in dem zuletzt über hundert Wissenschaftler tätig waren, privilegierten Zugang zu diesem gruseligen Kultzentrum des Staatskommunismus. Freilich durfte er bis heute die wichtigsten Aufzeichnungen seines Vater, Boris Iljitsch Zbarski, nicht einsehen. Das Mausoleums-Laboratorium ging aus einer Initiative des Ausschusses für die Verewigung des Andenkens an Lenin hervor, der sich erstmalig am 5. März 1924 unter dem Vorsitz des KGB-Chefs Felix Dserschinski zusammensetzte. Nach dem Einmarsch der Deutschen in die Sowjetunion wurde es samt Leiche ins sibirische Tjumen ausgelagert und nach dem Krieg zügig zu einem „Weltzentrum der Einbalsamierung“ ausgebaut. Das heißt: Im Anschluß an die Konservierung der Leiche Stalins präparierten die Mitarbeiter des Laboratoriums auch die Kommunistenführer Georgi Dimitroff (Bulgarien), Tschoibalsan (Mongolei), Ho Chi Minh (Vietnam), Agostinho Neto (Angola), Lindon Forbes Burnham (Guyana) und Kim Il Sung (Nord-Korea) nach Art der ägyptischen Pharaonen: für die Ewigkeit.
„Er trägt eine Uniform, und die eine Hand ist leicht zur Faust geballt. Selbst noch im Tode ist er der Diktator“, schreibt der junge Nehru 1929 nach einem Besuch im Lenin-Mausoleum. Nachdem ihnen 1991 achtzig Prozent ihres Jahresbudgets gekürzt wurden, empfahl der Moskauer Bürgermeister Juri Luschkow dem Laboratorium, sich mit einem „Ritual Service“ halbwegs selbständig zu machen, also auch Einbalsamierungsaufträge von eher antikommunistischen Neureichen anzunehmen: „Angesichts der rasant ansteigenden Kriminalität – 25.000 Morde allein im Jahr 1996 – kam der Vorschlag wie gerufen“, schreibt der Autor, der heute – als 85jähriger – nicht mehr beruflich tätig ist. Die optische Wiederherrichtung dieser Privatverbrecher kostet – je nachdem, wie übel sie zugerichtet beziehungsweise zerschossen wurden – zwischen 1.500 und 10.000 Dollar. Im Gegensatz zu Lenin, der bis heute regelmäßig Balsambäder bekommt, werden ihre Leichen jedoch nicht dauerhaft konserviert, sondern nur für die Beerdigung präpariert. Anschließend kommen sie in Luxussärge, die Ritual Service ebenfalls im Angebot hat. Die Preise dafür schwanken zwischen 5.000 Dollar für einen Holzsarg made in USA und 20.000 Dollar für eine russische Kristallglasversion.
Zur Verewigung der Gangster dient heute eine neue Grabsteintechnik. Dabei wird ihr überlebensgroßes Foto auf eine bis zu drei Meter hohe Granit- oder Malachitplatte gelegt und mit einem Spezialverfahren eingraviert. Die islamischen Banden (etwa in Jekaterinburg) bevorzugen Doppelporträts – auf beiden Seiten des Steins. Rund 65.000 Dollar zahlen sie dafür. Das Gravurverfahren geht auf den in San Francisco lebenden Russen Leonid Rader zurück. Die Regisseurin Kira Rejk drehte einen Film über seine Kunst: „Art in Stone“. In der letzten Nummer der Moskauer Literaturzeitschrift NLO (33/98) versuchte Olga Matich eine erste kulturhistorische Würdigung dieser russischen Verewigungskultur – vom Bolschewistenführer Lenin bis zur postsowjetischen Mafia. Letztere rekrutiert sich vor allem aus ehemaligen Profisportlern, Bodybuildern, Soldaten und Ex- KGBlern. Statt mit Orden sind sie mit „Emblemen des schnellen Abgangs“ ausgestattet – auf ihren Grabsteinporträts: Mercedes- Schlüssel, Handys, Markenturnschuhe. Olga Matich nennt das „Fotorealismus“, Ilya Zbarski spricht von einer Verewigung ihrer Alltagssituation: „Sie tragen meist einen Adidas-Trainingsanzug, die obligatorische Arbeitskleidung der russischen Mafiosi.“ Handelte es sich um einen Anführer oder Brigadier, bleibt er es auch als Toter so lange, bis sich in der Bande ein neuer herausgemendelt hat. An seinem Geburtstag und an seinem Todestag werden große Gelage am Grab veranstaltet – mit bis zu „mehreren tausend Personen“, schreibt Zbarski, der anscheinend bei der Begräbnisfeier des Jakaterinburger „Paten“ der Zentralnije-Bande, Oleg Wargin, dabei war. Dieser ganze kostspielige Auferstehungsaufwand soll bewirken, daß der Betreffende über seinen Tod hinaus „große physische Kraft und ökonomische sowie politische Macht ausstrahlt“ – für seine Gegner ebenso wie für seine Bande beziehungsweise Partei. Es spricht einiges dafür, daß auch noch der letzte „Men in Sportswear“ (MiS) ein bis in den Tod treuer Leninist gewesen ist: Bereits unter Andropow wurden von verschiedenen ZK-Braintrusts Szenarien ausgearbeitet, die den Machterhalt der Parteielite in einer vom „neuen Denken“ bestimmten sozialistischen „Transformationsperiode“ gewährleisten sollten. Das dann von Gorbatschow favorisierte Szenarium sah eine „Umwandlung des Kollektivbesitzes der Nomenklatura in Privatbesitz ihrer einzelnen Mitglieder“ vor, wie der ehemalige ZK-Mitarbeiter Jewgeni Nowikow 1994 in New York berichtete.
Die drei sich nun bekriegenden Jekaterinburger Banden befaßten sich mit Edelmetallhandel. Den bisher teuersten Verewigungsluxus leistete sich laut Ilya Zbarski der Präsident der größten russischen Erdölgesellschaft, Lukoil, Wagit Alekperow, bereits zu Lebzeiten: Für 250.000 Dollar ließ er sich ein Mausoleum in Form des Tadsch Mahal bauen. Auch sein Grabsteinporträt darin ist bereits fix und fertig. Wenn Lenins Leiche längst zu Staub zerfallen ist, wird es noch wie neu aussehen: die Gravurtechnik soll angeblich 20.000 Jahre halten. Lenin wird derzeit quasi ehrenamtlich balsamisch versorgt: Ein „Mausoleum-Fonds“ ermöglicht es, daß zweimal wöchentlich eine zwölfköpfige Wissenschaftlerbrigade anrückt, um die notwendigen Restaurationsarbeiten an seiner Leiche durchzuführen. Sie tauschen mal hier einen Fuß und mal da eine Hand aus, wird behauptet. Sein schon 1924 entferntes Gehirn soll angeblich ein Wissenschaftler in seiner Aktentasche nach Amerika verschleppt haben, um es dort zu versilbern. Ilya Zbarski äußert sich darüber nicht. Trotz der Privilegien, die er „in all den Jahren im Schatten und im Schutz des Mausoleums genoß“, plädiert er nun dafür, Lenins Überreste, die eigentlich nur noch aus Kopf und Schwanz bestehen können, endlich „zu beerdigen“.
„True Crime Storis“ im Angebot
Bei „Taschen“ gibt es ein Buch über „True Crime Detective Magazines 1924-1969“, herausgegeben von Eric Godtland, der Verlag schreibt dazu:
Auf dem Höhepunkt des Jazzzeitalters, als die Prohibition einfache Bürger zu Kriminellen und einfache Kriminelle zu Berühmtheiten machte, wurden Amerikas Detektivhefte geboren. „True Detective“ kam 1924 zum ersten Mal heraus. 1934, als die Große Depression einige spektakuläre Verbrecher wie Machine Gun Kelly, Bonnie und Clyde, Babyface Nelson und John Dillinger hervorgebracht hatte, war die Zeitschrift so berühmt, dass bekannte Cops und Kriminelle gleichermaßen darum buhlten, sich auf den Seiten der Hefte wieder zu finden. Sogar FBI-Chef J. Edgar Hoover schrieb regelmäßig für das Magazin. Als Alkohol wieder legal, die Depression vorüber, all die berühmtberüchtigten Kriminellen tot oder hinter Gitter und die Verkaufszahlen rückläufig waren, wandten sich die „Detectives“ der „Sünde“ zu, um die Umsätze wieder anzukurbeln. Aufreizende, böse Mädchen in engen Pullovern, geschlitzten Röcken und Pfennigabsätzen schmückten das Magazin und von den Titelseiten rief es „Sexgewohnheiten weiblicher Killer“ oder „Die Schlampe hat mich reingelegt“ oder kurz und knapp „Böse Mädchen“. Hunderte von Cover- und Innenteilseiten erzählen eine über fünf Jahrzehnte währende Geschichte, die aber nicht nur von Verbrechen handelt, sondern auch von Amerikas Einstellung zu Sex, Schuld und Sühne. Mit Texten des Zeitschriftensammlers Eric Godtland, George Hagenaur und des True Detective-Herausgebers Marc Gerald gewährt „True Crime Detective Magazines“ einen unterhaltsamen Einblick in eine der außergewöhnlichsten publizistischen Nischen.
Was ist überhaupt eine „True Crime Story“?
Auf den Webseiten von „telepolis“ (www.heise.de) hat Stefan Höltgen einen Text mit dem Titel „Mehrwert Authentizität: ‚True Crime'“ veröffentlicht:
Zeitgleich mit der Zunahme fantastischer Sujets in der Literatur und dem Kino findet in den letzten Jahren eine formale wie inhaltliche Hinwendung zum Authentischen im Kriminalgenre statt – also scheinbar in die genau entgegengesetzte Richtung. Die Verfahren, mit denen Morderzählungen als „wahr“ inszeniert werden, gleichen sich dabei medienübergreifend und sind nicht immer allein auf den Effekt aus.
„Die folgende Geschichte beruht auf einer wahren Begebenheit.“ Ein Versprechen, das es gibt, seit erzählt wird: Der Autor des Werks verbürgt sich für die Authentizität des Erzählten und das aus ganz verschiedenen Motivationen: Zum einen steckt dahinter der Versuch einer Entgrenzung von Fiktionalität und Wahrheit. Wenn das, was man sieht oder liest auf etwas beruht, das „wirklich passiert“ ist, dann wird – zumindest bei Kriminalerzählungen – damit ein Mehrwert produziert, der sich allein durch stilistische Verfahren nicht erreichen ließe. Das Leben wird zum Koautor. Zum anderen mag sich hinter der Authentisierung auch der Anspruch verbergen, die außerfiktionale Realität greifbarer und verstehbarer zu machen. Die Kunst imitiert dann die Wirklichkeit, um dem Rezipienten modellhaft oder aus der jeweiligen Perspektive des Autors eine Erklärung dafür zu bieten.
Der eine wie der andere Grund für die Authentisierung des Fiktionalen birgt Schwierigkeiten. Woher weiß ich als Leser oder Zuschauer, dass das Versprechen der Wahrheit kein Trick ist? Und woher weiß ich, dass der Versuch des Autors, uns „seine“ Sicht der Welt zu präsentieren, aufrichtig ist?
Das Eine wie das Andere lässt sich nicht ohne Weiteres belegen. Immer ist Erzähltes konstruiert, selbst wenn es Versatzstücke der Wirklichkeit montiert, gerät eine artifizielle Leistung (die Auswahl und Montage des Materials) mit hinein. Nie kann man sich über die so genannte Intention des Autors sicher sein, weil der Versuch sie zu ergründen notwendigerweise über den Weg der Interpretation geht, die selbst eine Wahrheit produziert, nämlich die des Lesers, die nicht weniger wiegt als die des Autors. Letztlich steht der Rezipient vor jeder „wahren Geschichte“ wie vor jeder „unwahren“. Von dieser Warte aus betrachtet wäre es daher sinnvoll, Authentizität weniger als ein ontologisches denn als ein ästhetisches Phänomen zu behandeln – eine Meinung, wie sie sich in den letzten Jahren in den Geisteswissenschaften durchgesetzt hat. Authentizität wäre demnach ein Effekt, der im Rezipienten den Eindruck von „Wirklichkeit“ evozieren soll. Zu den Authentizitätssignalen gehören solche Prätexte wie jener zu Beginn dieses Artikels, Angaben, die explizit auf die Wahrheit des Gezeigten insistieren, auf Ort und Zeit des Geschehens verweisen usw. Daneben gibt es Authentizitätsstrategien, das sind all jene Verfahren, die implizit Authentizität suggerieren. Die subtilsten Authentizitätsstrategien nutzen die Mediensozialisation des Rezipienten und produzieren Wirklichkeitseffekte dadurch, dass sie bestimmte Genreeigenschaften, die mit dem Anspruch „authentisch“ zu sein auftreten, kopieren. Hierzu zählen im Film etwa der Einsatz von Schwarzweiß (das durch seinen stilistischen Kontrast zum mimetischen Farbeinsatz häufig für distanzierte Berichterstattung genutzt wird), verwackelte Kamera und fehlerhafte Bilder (die vom Inhalt ablenken und auf das Medium aufmerksam machen), Mise-en-abyme -Techniken, die die Welt des Zuschauers/Lesers (etwa durch direkte Ansprache) scheinbar in die Erzählungen integrieren, und Verfahren der Intertextualität – beides recht gut an den postmodernen Krimiromanen von William J. Reynolds nachzuvollziehen. Gerade letzteres Verfahren ist besonders subtil, weil die zitierende Erzählung dadurch, dass sie andere Erzählungen zitiert, sich selbst ontologisch über diese begibt und dem Leser/Zuschauer dadurch suggeriert, er befände sich auf Augenhöhe mit dem Erzähler und blicke mit diesem Zusammen auf den Fundus der Zitatquellen hinab.
In gewisser Weise ist jede fiktive Geschichte immer auch von der Realität, in der sich der Autor befindet, beeinflusst. Vor allem Kriminalerzählungen aber pflegen von jeher ein besonders inniges Verhältnis zur kriminalhistorischen Realität.
Ob Schiller in seiner Erzählung „Der Verbrecher aus verlorener Ehre – Eine wahre Geschichte“ (1785/92) auf den verbrieften Fall des „Sonnenwirts“ Friedrich Schwan rekurriert, ob Marie Beloc Lowndes den ihrerzeit nahe liegenden Jack-the-Ripper-Fall für eine findige Gesellschaftsbeschreibung in „The Lodger“ (1913) nutzt, ob Truman Capote seine „Tatsachenromane“ (etwa „In Cold Blood“, 1966) auf Zeugenaussagen und Interviews stützt oder ob Joyce Carol Oates in „Zombie“ (1997) den Jeffrey-Dahmer-Fall adaptiert: Stets ist es die außerfiktionale Wirklichkeit, die die Stoffe hierfür geliefert hat, und mal mehr, mal weniger detailliert verarbeitet wird.
Allein schon bei der Betrachtung dieser wenigen Beispiele zeigt sich eine Bewegung, die sich vielleicht als „fortschreitende Hyperrealisierung“ beschreiben ließe: Der fiktionale Anteil der Erzählungen nimmt gegenüber den faktenbasierten Aufarbeitungen immer geringeren Raum ein. Am Ende dieser Entwicklung steht ein Kriminalsubgenre, das sich gerade in den letzten Jahren immer größerer Beliebtheit zu erfreuen scheint: True Crime. Etliche kleine Verlage haben sich in immer weiter auswuchernden Reihen kriminalhistorischer Fälle angenommen, die nun in einem Reportage-Pitaval-Roman-Hybrid aufbereitet in die Krimiabteilungen der Buchläden geraten. Überproportional ist dabei die Beschäftigung mit Serienmördern, die aus verschiedenen Gründen ( vgl. „Killer-Kulturen im Vergleich“ – http://www.heise.de/tp/r4/artikel/20/20317/1.html) die größte Medien-Affinität zu haben scheinen. So führt etwa der Leipziger Militzke-Verlag eine Reihe „Authentische Kriminalfälle“, die im Herbst um zwei weitere Bände erweitert wird. In der jüngeren Vergangenheit wurde dort von Kathrin Kompisch und Frank Otto ebenfalls eine zweibändige Zusammenstellung von Fällen der deutschen Serienmord-Kriminalgeschichte publiziert („Bestien des Boulevard“ & „Monster für die Massen“), die etliche Fälle von der Weimarer Republik bis in die Gegenwart zusammenträgt, Gemeinsamkeiten darstellt, den Umgang der Presse mit den Fällen nachzeichnet und durch ihr Leitthema einer „kritischen Aufbereitung“ den übergreifenden Zusammenhang stiftet, der aus einer lexikonartigen Fallsammlung erst „Prosa“ zu generieren im Stande ist.
Der Düsseldorfer Droste-Verlag pflegt eine ganz ähnliche Reihe, in der unter anderem der Kriminalist und Kriminologe Stephan Harbort über Serienmörder publiziert. Harbort rückt neben übergreifenden Darstellungen wie in „Das Hannibal-Syndrom“ (2003) auch immer wieder einzelne Täter ins Zentrum seines Schreibens. So behandelt „Ich musste sie kaputtmachen“ (2004) den Serienmordfall Joachim Kroll und verfolgt die Ermittlungen zu seiner Mordserie, die zwischen 1955 und 1976 die ganze Bundesrepublik in Atem gehalten hat. In diesem Buch geht der Autor besonders trickreich vor, um seine Falldarstellungen in Prosa zu überführen: Er nutzt Montagetechniken, Beschreibungsverfahren und eine schon fast „filmische Schreibweise“. Damit zeigt Harbort, dass ein gewisses Maß an De-Authentisierung eminent für jedwede mediale Darstellung von Realität wie Fiktion ist. Erst wenn Stoffe plotartig aufbereitet, Informationen zielgenau platziert werden und eine Rahmenerzählung klammerartig um die Einzelfälle herumgreift, lässt sich Realität überhaupt „erzählen“. Mit dieser Ästhetik bedienen die Autoren nicht nur den Wunsch nach authentisierten Stoffen, sondern holen ihre Leser auch dort ab, wo Krimikost heute zumeist goutiert wird: im Kino. Der Trend hin zur „Verfilmung“ kriminalhistorischer Fälle ist auch dort spürbar. Wie in der Literatur hat es im Film von Beginn an kinematografische Aufbereitungen von wahren Verbrechen gegeben (man denke an frühe Beispiele wie die „Jack the Ripper“-Episode in Paul Lenis „Das Wachsfiguren-Kabinett“ von 1924 oder nur sieben Jahre später Fritz Langs „M – Eine Stadt sucht einen Mörder“, in den zahlreiche Fakten aus dem Peter-Kürten-Fall einflossen).
Über die Jahrzehnte hin betrachtet hat es auch hier eine deutliche Zunahme solcher Filme gegeben, die vor allem in den letzten 15 Jahren signifikant wurde. Markant ist hier nicht allein die Quantität der True-Crime-Filme, sondern auch die Qualität, also mit welchen Mitteln sie die Fakten der Kriminalgeschichte ästhetisieren. Angefangen bei den Titeln, die mittlerweile mit den zu Markenzeichen gewordenen Namen der in ihnen behandelten Serienmörder werben („Ted Bundy“, 2002, „Dahmer“, 2002, „Gacy“, 2003, …) über sämtliche (und mehr) der hier beschriebenen Authentizitätssignale und -strategien bis hin einem nahezu überbordenden Naturalismus, wenn es um die Darstellung der Verbrecher (vgl. Charlizes Therons Verwandlung in „Monster“) und Verbrechen geht.
Gerade die Gewaltdarstellungen dieser Filme (und auch der Bücher, denken wir an Bret Easton Ellis‘ „American Psycho“ oder Oates „Zombie“) bedingen eine weitere Form der Authentisierung, die sowohl durch optische Verfahren der Annäherung des Blicks an die Wunde als auch durch die Verursachung von Affekten wie Ekel und Schock die Distanz des Rezipienten zum Kunstwerk zusehends schwinden lässt. Produktionen, wie etwa der 1996 erschienene Film „Funny Games“ von Michael Haneke oder der erst kürzlich in Deutschland reüssierte „Last Horror Movie“ (GB 2003) von Julian Richards versuchen den Betrachter moralisch in das Geschehen zu involvieren, ihn „verantwortlich“ für die Schrecken auf der Leinwand zu machen und ihn letztlich sogar selbst zu bedrohen, wie das Finale von „The Last Horror Movie“ eindrücklich vorführt. Diese Einverleibung des Zuschauers in den Erzählprozess dient jedoch nicht allein der „Publikumsbeschimpfung“ wie bei Haneke oder dem bloßen Experiment wie bei Richards, sondern verfolgt darüber hinaus oft auch eine sehr interessante diskursive Strategie. Gerade nämlich, wenn ein heiß diskutiertes Thema (wie Medienwirkung) oder kriminalhistorisch berüchtigte Fälle (wie sie spektakuläre Serienmorde darstellen) in den Medien dargestellt werden – sei es in Romanen, Spielfilmen, Reportagen aber auch in den Bericht erstattenden Formaten -, unterliegt deren mediale Transformation auch immer dem Filterungsprozess des Autors, der damit seine je eigene Haltung zum Geschehen wiedergibt. Dies kann eher zurückhaltend, wie bei Harbort oder Belloc Lowndes, aber auch mit eindringlicher Intention, wie in Langs „M“ oder Matthew Brights „Ted Bundy“ geschehen.
In letzterem Film etwa entwickelt sich zu seinem Ende hin von einer Rape-and-Revenge-Erzählung in einem dialektischen Umschlag zu einem Fanal gegen die Todesstrafe, indem er klarmacht, dass es keine „ausgleichende Gerechtigkeit“ zwischen Tätern und Opfern (bzw. Hinterbliebenen) geben kann. Er konfrontiert den Zuschauer im Finale mit dessen eigenen über den Handlungsverlauf angehäuften Rachegedanken und stellt diese schließlich als ebenso blutrünstig wie die Verbrechen Bundys dar. Und auch hier nutzt der Film authentisierende Ästhetiken zu Verdeutlichung seiner Brisanz. Während vor dem Hinrichtungsgefängnis in körnigen und verwackelten TV-Bildern Demonstranten gezeigt werden, die „Burn him!“- und ähnliche Transparente in die Luft strecken, nähert sich die Kamera im Hinrichtungsraum bis auf wenige Zentimeter dem vollständig verschnürten und geknebelten Gesicht des Delinquenten und zeigt dessen Tod auf dem elektrischen Stuhl aus nächster Nähe und im grausigen Detail. Schock und Ekel nicht nur vor der Prozedur, sondern auch vor der eigenen Distanz zum Geschehen/Gesehenen übertragen sich auf den Zuschauer. Im Epilog, der die Exfreundin des Hingerichteten vor dem Fernseher sitzend zeigt, wie sie die Nachrichten über die Hinrichtung gleich einen TV-Krimi verfolgt, bringt der Film seine Agenda auf den Punkt: „Ich kann es einfach nicht glauben. […] Wer war Ted Bundy?“ In der Verdopplung unserer eigenen Zuschauerposition stellt sie sich – konfrontiert mit den authentischen Bildern – dieselbe Frage, die wir uns stellen und die der Film zu beantworten versucht hat.
Poller gehören ebenso wie Sitzbänke zur Straßenmöblierung. Der Berliner Künstler Fabian Brunsing hat sich von den elektronisch versenkbaren neuen Pollern inspirieren lassen bei seiner Arbeit „Pay & Sit: Privatized Benches In Public Spaces“. Dazu heißt es auf der Webseite „http://popupcity.net/2010/06/pay-sit-privatized-benches-in-public-space/“ von Joop de Boer: „To sit on it comfortably, you have to insert a € 0,50 coin. After paying, the pins that prevent people from sitting on the bench will disappear automatically. After a couple of minutes a sound warns the sitter for the end of his/her sitting time, and the pins rise again. Interesting about this ‘Pay & Sit’ bench is that local governments can take big profits from it, and extend control over public space. Perhaps it will be a next step in privatization of public space.“