vonHelmut Höge 02.08.2010

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Es ist ein Irrtum zu glauben, dass ein Kapitalverbrechen so gut wie aufgeklärt ist, wenn eine MK (Mordkommission) – sagen wir aus Braunschweig – am TO (Tatort) genug “Spuren” gefunden hat, um jemanden als “Täter” zu überführen – und ein  Strafgericht dann diesen “objektiven Fakten” in einem “Indizienprozeß” Rechnung trägt – mit dem entsprechenden “Strafmaß”.

Die junge Ermittlerin und ihr erfahrener Staatsanwalt vor dem Pförtnerhäuschen des Husumer Polizeipräsidiums.

Objektiv ist immer etwas technisch Meß- und Analysierbares, heute am Liebsten  DNS-Untersuchungen, mit denen z.B. genetische Übereinstimmung zwischen einem “Täter” und und einem Haar am “Tatort”, festgestellt werden kann. Wir stoßen auf diesem Wege (der schwerwiegenden Fakten) nur allzu leicht  auf das Problem einer Verengung von Blickfeld  und “Brainstorming”, um  eine  bestimmte  (Täter-)”Hypothese” zu erhärten. D.h. es gilt zwar, “nach allen Seiten” zu ermitteln, aber in der Regel schält sich desungeachtet sehr schnell eine “Spur 1” heraus, ein “Hauptverdächtiger”. Das ist in der Kriminalistik nicht anders als im Journalismus und in der Wissenschaft. Es locken schnelle  Erfolge. Institutionell geht es zudem überall um eine “positive Statistik” – also um möglichst viele “gelöste Fälle” in einem möglichst kurzen Zeitraum. In Coesfeld – auf Platz 1 in Deutschland – brauchen die dortigen Kriminalbeamte im Durchschnitt nur noch 7,4 Stunden, um ein vermeintliches Verbrechen aufzuklären. Gewiß, manchmal dämmert es sicher auch diesen Blitz-Beamten:

“Uns gibt es doch nur, weil es auf der einen Seite Leute gibt, die sich fünf Ferraris kaufen müssen, um Steuern zu sparen, und auf der anderen Seite einige nicht wissen, wie sie ihre Miete zahlen sollen. Wenn ich in Rumänien in einer elenden Hütte leben müßte oder in Ghana nichts zu fressen hätte, würde ich auch da hingehen, wo die Paläste sind.” (*) Der dies sagt, ist ein Kripobeamter in dem Regionalkrimi  “Todesmuster”, dessen Handlung in Nordrhein-Westfalen auf dem Land spielt. Der Autor, Norbert Horst, ist selbst und hauptberuflich Kriminalhauptkommissar in der Gegend.

Trotz aller Objektivitätsversessenheit im Fahndungsapparat ist bei polizeilichen Ermittlern in Kriminalromanen, besonders wenn es sich dabei um weibliche Kommissare handelt, oft von “Intuition” und “Instinkt” die Rede, vor allem, wenn sie erfolgreich sind. Man könnte auch von einer größeren “sozialen  Kompetenz” reden. Ihre Vorgesetzten  loben sie dann als gute “Spürnase”. Zwar haben auch die Polizei-“Spürhunde” eine gute Nase, aber ihr Erfolg beruht auf der Objektivität des Geruchs, während die “Spürnase” im “Ermittler-Team” mit Nietzsche sagen könnte: “Ich erst habe die Wahrheit entdeckt – indem ich sie roch. Mein Genie liegt in meinen Nüstern.”

Die Bild-Reporterin war als erste am Tatort.

Mit der intuitiven/instinktiven Täterermittlung (**) wird der Gegensatz von “Fakt” und “Fetisch”, wie er zu Beginn der Moderne von den englischen Empiristen aufgemacht wurde, wieder verwischt. Inmitten der rationalen Ermittlungsmethoden breitet sich das Irrationale aus. In Basel beschäftigte sich kürzlich bereits eine theologische Konferenz mit “Unerlösten Fällen”, d.h. mit “Religion und Krimis”. Die Frage dabei war, ob diesen Bestsellern und Blockbustern  nicht inzwischen schon der Rang einer  “Ersatzreligion” zukomme – deren  “Utopie” darin bestünde, dass sie eine “momentane Wiederherstellung von Ordnung in einer durchgeknallten Welt” versprechen, wie der Krimikritiker Thomas Wörtche dort in seinem Referat über “Tod und Kontingenz” ausführte.

“Es gibt immer zu viel Deutung und nie genug Fakten. Die Akte durch Deutung sind am gefährlichsten für die Freiheit,” so lautete einst die Essenz eines Seminars  von Foucault-Assistent Francois Ewald. “Der Fakt” ist laut Wikipedia eine “Tatsache” ((lat. factum, engl. matter of fact). Diese läßt sich kriminalistisch vom “Sachverhalt” unterscheiden, der “erwiesene Tatsachen” zunächst unberücksichtigt läßt. Auch wenn die Chefermittler in Romanen ihre Untergebenen gelegentlich anherrschen: “Zurück zu den Fakten!” (Krimiautor Klaus-Peter Wolf). Im positivistisch-logischen Betrieb gelten dagegen “verifizierte Sachverhalte” als Tatsachen. Weil aber noch das “gesichertste Wissen” Glaubensfragen unterliegt, schlägt der Wissenschaftssoziologe Bruno Latour vor, zwischen  “Fakt” und “Fetisich” nicht mehr zu trennen und – ganz vormodern – stattdessen nur noch von “Faitiche” zu reden. An die Stelle von “Matters of Facts” will er sodann “Matters of Concern” setzen: also Sorgenkinder statt Tatsachen.

An dieser Stelle stieß die leitende Ermittlerin auf den entscheidenden Hinweis.

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(*)  Hinter jedem Kapitalverbrechen steckt letztendlich ein Verbrechen des Kapitals. So könnte man die Einschätzung des polizeilichen Ermittlers zusammenfassen. Karl Marx war der Meinung, dass wir dieser (Klassen-)Spannung die enorme Innovationskraft des Kapitals verdanken: “Ein Philosoph produziert Ideen, ein Poet Gedichte, ein Pastor Predigten, ein Professor Kompendien usw.. Ein Verbrecher produziert Verbrechen. Betrachtet man näher den Zusammenhang dieses letztren Produktionszweigs mit dem Ganzen der Gesellschaft, so wird man von vielen Vorurteilen zurückkommen. Der Verbrecher produziert nicht nur Verbrechen, sondern auch das Kriminalrecht und damit auch den Professor, der Vorlesungen über das Kriminalrecht hält, und zudem das unvermeidliche Kompendium, worin dieser selbe Professor seine Vorträge als ,,Ware” auf den allgemeinen Markt wirft. Damit tritt Vermehrung des Nationalreichtums ein.

Der Verbrecher produziert ferner die ganze Polizei und Kriminaljustiz, Schergen, Richter, Henker, Geschworene usw.; und alle diese verschiednen Gewerbszweige, die ebenso viele Kategorien der gesellschaftlichen Teilung der Arbeit bilden, entwickeln verschiedne Fähigkeiten des menschlichen Geistes, schaffen neue Bedürfnisse und neue Weisen ihrer Befriedigung. Die Tortur allein hat zu den sinnreichsten mechanischen Erfindungen Anlaß gegeben und in der Produktion ihrer Werkzeuge eine Masse ehrsamer Handwerksleute beschäftigt.  Der Verbrecher produziert einen Eindruck, teils moralisch, teils tragisch, je nachdem, und leistet so der Bewegung der moralischen und ästhetischen Gefühle des Publikums einen ‘Dienst’. Er produziert nicht nur Kompendien über das Kriminalrecht, nicht nur Strafgesetzbücher und damit Strafgesetzgeber, sondern auch Kunst, schöne Literatur, Romane und sogar Tragödien. Der Verbrecher unterbricht die Monotonie und Alltagssicherheit des bürgerlichen Lebens. Er bewahrt es damit vor Stagnation und ruft jene unruhige Spannung und Beweglichkeit hervor, ohne die selbst der Stachel der Konkurrenz abstumpfen würde. Er gibt so den produktiven Kräften einen Sporn.

Während das Verbrechen einen Teil der überzähligen Bevölkerung dem Arbeitsmarkt entzieht und damit die Konkurrenz unter den Arbeitern vermindert, zu einem gewissen Punkt den Fall des Arbeitslohns unter das Minimum verhindert, absorbiert der Kampf gegen das Verbrechen einen andern Teil derselben Bevölkerung. Der Verbrecher tritt so als eine jener natürlichen ,,Ausgleichungen” ein, die ein richtiges Niveau herstellen und eine ganze Perspektive ,,nützlicher” Beschäftigungszweige auftun.  Bis ins Detail können die Einwirkungen des Verbrechers auf die Entwicklung der Produktivkraft nachgewiesen werden. Wären Schlösser je zu ihrer jetzigen Vollkommenheit gediehn, wenn es keine Diebe gäbe? Wäre die Fabrikation von Banknoten zu ihrer gegenwärtigen Vollendung gediehn, gäbe es keine Falschmünzer? Hätte das Mikroskop seinen Weg in die gewöhnliche kommerzielle Sphäre gefunden ohne Betrug im Handel? Verdankt die praktische Chemie nicht ebensoviel der Warenfälschung und dem Bestreben, sie aufzudecken, als dem ehrlichen Produktionseifer? Das Verbrechen, durch die stets neuen Mittel des Angriffs auf das Eigentum, ruft stets neue Verteidigungsmittel ins Leben und wirkt damit ganz so produktiv wie Streiks auf die Erfindung von Maschinen. Und verläßt man die Sphäre des Privatverbrechens: Ohne nationale Verbrechen, wäre je der Weltmarkt entstanden? Ja, auch nur Nationen…?”

So weit Marx. Demnach verdanken wir den Kriminellen so viel, daß es langsam an der Zeit wäre, ihnen dafür zu danken, zumal als Linke, denn die “gefährlichsten Verbrecher”, das waren ja meistens die Kommunisten und – neuerdings – die Terroristen. Wie wäre es fürs erste mit einem “Denkmal des unbekannten Verbrechers”?

Letztendlich zehren auch die ganzen Krimiautoren von seinen Taten. Erst recht lebt ein Anwalt wie Ferdinand von Schirach davon: Er verteidigt den Verbrecher erst und macht anschließend aus seinem Fall eine  Kurzgeschichte. Sein erster Sammelband hieß “Verbrechen”, der zweite nun “Schuld”. Die FAZ interviewte ihn dazu kürzlich:

“Gibt es für Sie eine Gemeinsamkeit in der Arbeit als Verteidiger und als Schriftsteller?

Man hat es mit Geschichten zu tun.

Auch im Prozess?

Natürlich. Die ganze Anklageschrift ist nichts anderes als eine Geschichte. Es ist die Interpretation, die der Staatsanwalt von der Wirklichkeit hat, dessen muss man sich bewusst werden. Er war ja nicht dabei.

Und der Strafverteidiger erzählt auch eine Geschichte?

Zunächst einmal hinterfragt er die Geschichte des Staatsanwalts: Wie gut ist sie, welche Lücken gibt es in ihr, reichen die Beweise? Danach erzählt er die Geschichte des Angeklagten, weil dieser selbst sich oft nicht ausdrücken kann.

Kann es dessen Schuld mildern, wenn man die Geschichte gut erzählt? Man kann keine neue Wirklichkeit erschaffen, aber man kann sie in einem anderen Licht erscheinen lassen. Natürlich lässt sich in den seltensten Fälle begründen, warum jemand einen Menschen getötet hat, aber man kann erklären, wie es dazu gekommen ist, und diese Erklärung ist auch die Interpretation eines Lebens.

Nachvollziehbarkeit hilft?

Selbstverständlich. Je besser der Richter einen Menschen kennt, desto schwerer kann er ihn hart bestrafen. So sind wir Menschen. Wir empfinden etwas für unser Nebenan.

Gibt es einen Unterschied in den Geschichten, die Sie als Verteidiger erzählen und als Schriftsteller?

Vor Gericht sind die Dinge viel komplizierter, das macht das Erzählen aufwendig. Es geht um lauter Einzelfragen, die irgendwie gelöst werden müssen, und letztlich muss alles beweisbar sein. Die Fakten stehen fest.

Aber auch die literarische Geschichte muss ja wahr sein – egal, ob sie nun erfunden ist oder nicht.

Ja, genau, sie muss wahr sein, aber ich bin im Erzählen viel freier, weil ich keinen Mandanten mehr habe, für den ich sie erzähle. Ich muss nicht werten, ich muss nichts erreichen, außer dass man sie gern liest.”

So weit der handwerkliche Aspekt von Schirachs Doppelverwertung eines Verbrechens. Aber dann kommt eine merkwürdige Antwort von ihm auf die Frage des FAZ-Autors: “Im Prozess wird der Angeklagte am Ende freigesprochen, oder er wird verurteilt. Dann bekommt er eine Strafe, und die leistet er ab. Aber wie findet er danach wieder zurück in die Gesellschaft?”

“Ich glaube, es gibt keinen Weg zurück, nicht nach schweren Straftaten. Die Gesellschaft verzeiht das nicht. Wer würde einen Mörder einstellen? Wer einen Vergewaltiger? Niemand würde auf diese Idee kommen.”

Das sagt der Enkel des Reichsjugendführers Baldur von Schirach. Er müßte es eigentlich besser wissen: Die Bundesrepublik und die BRD-Unternehmen hat nach dem Krieg nicht nur Millionen Mörder und Vergewaltiger wieder eingestellt, sie haben sie auch befördert und schließlich mit den höchsten Auszeichnungen geehrt. Freilich haben diese vor allem Ausländer ermordet, “Untermenschen” zum großen Teil. “Für die Gesellschaft bleibt das Böse immer das Unfaßbare, das Unbegreifliche, das Dunkle. Wer das einmal hatte, wird es nicht mehr los,” fügt Ferdinand von Schirach dann noch hinzu. So schlimm kann es nicht gewesen sein: die meisten wurden 80 Jahre und älter, einige sogar über 100.

Im selben FAZ-Feuilleton findet sich eine Eloge auf die 90jährige englische Krimiautorin Phyllis Dorothy James, in der es heißt: “Mord, das Verbrechen schlechthin, interessiert sie im Grunde kaum, und der Mörder, der zur Befriedigung seiner Wünsche diese Abkürzung wählte, bleibt ein fahles, reizloses Ärgernis. Der Brennpunkt ihrer Bücher liegt in der geduldigen Rekonstruktion der düsteren Vorgänge durch ‘intelligente, gebildete und hoch motivierte Männer und Frauen aus allen Sparten” – der Gesellschaft. Das straft Schirachs “Wahrheit” – “Je besser der Richter einen Menschen kennt, desto schwerer kann er ihn hart bestrafen” – Lügen, denn gerade die intelligenten und hochmotivierten deutschen Mörder im Ausland wurden wenig oder gar nicht von den ihnen “spartenmäßig” nahe stehenden Richtern bestraft, während ihre gedungenen Totschläger – wie z.B. der 90jährige John Demjanuk (siehe dazu seine “Erklärung” v. 13.April 2010) – nicht mit Nachsicht oder Milde rechnen durften.

Das schmeckt der bestimmt nicht raus!


Die selbe Scene nachgestellt (mit einer Schauspielerin)


Beim Beseitigen der letzten Spuren (Scene aus einem “Nordsee-Krimi”, der auf einem Campingplatz spielt).

(**) “Intuition” ist laut Wikipedia “die Fähigkeit, Einsichten in Sachverhalte, Sichtweisen, Gesetzmäßigkeiten oder die subjektive Stimmigkeit von Entscheidungen ohne diskursiven Gebrauch des Verstandes, also etwa ohne bewusste Schlussfolgerungen, zu erlangen.”

Und der “Instinkt” (Naturtrieb) ist laut dem Verhaltensforscher Konrad Lorenz eine angeborene Verhaltensweise (im Gegensatz zur erworbenen). Man verwendet diesen Begriff heute nicht mehr, gleichwohl folgt man noch bzw. jetzt erst recht Lorenz in seiner  physiologischen Fundierung der  Instinkthandlungen, die für ihn letztlich hypothetisch auf Verschaltungen von Nervenzellen im Gehirn hinausliefen. Heute sind die Hirnforscher bereits in der Lage, diesen Verschaltungen auf die Spur zu kommen, so dass sie schon mit einigermaßen Sicherheit sagen können: “Es gibt keinen freien Willen!” Und deswegen auch keine “Schuld”, ergo darf eigentlich auch niemand für seine Taten  bestraft werden, denn er ist nicht verantwortlich dafür. Es gibt einen Regional-Krimi – von Friederike Schmöes: “Januskopf”, in dem diese Erkenntnisse der Neurobiologie quasi angewendet werden. Die Handlung spielt in Bamberg. Schmöes  Privatdetektivin wird von ihrer Freundin, einer Lokaljournalistin, darüber aufgeklärt, dass es keinen “Freien Willen” gibt – es ist alles bloß “Biochemie”. Dieses  umstürzlerische neue Wissen verklickert die Protagonistin bereits am nächsten Tag  dem befreundeten Leiter der polizeilichen Ermittlungen in “ihrem” Mordfall. Er wendet es auch sogleich an. Als Katinka ihm ihre Tätertheorie vorträgt (ein durchgeknallter Lehrer), sagt er: “Nein, ich glaube es nicht. Aber Glaube ist nur Biochemie. Ich brauche Beweise.” – Nur die bestehen nämlich nicht aus “Biochemie”, sie sind erheblich härter konstruiert.

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