Am Abriss des dritten Südbahnhofgebäudes wird getestet, ob wir noch alle gleichgeschalten sind. Am Ausradieren der schönsten Halle von Wien wird geprobt, ob wir ohne Erröten alle Ideen des Wandels mitmachen. Und am Abriss des Südbahnhofs zeigt sich leider, dass wir jeden Huldigungslikör auf die Zukunft schlucken.
»Ach, Herr Koch, das ist so cool, dass sie jetzt da sitzen, dass sie auch unsren Standpunkt hören wollen; lassen wir doch eine Pizza kommen!«, sagte die Bahnmanagerin und ergriff meine Hand, um sie ganz fest zu drücken. »Ja, so ist das Leben«, antworte ich, »ich weiss nicht, warum der Südbahnhof sterben muss. Aber so ist wohl das Leben.« Und dann seufzen wir beide, bis sie auf ihrem Laptop diie Online-Speisekarte des Pizzaservice gefunden hat.
Sie klickte sich durchs Sortiment von »Wiener Schnitzel Menü« bis »Pizza Maestro«, bestellte dann einmal Pizza Con Fritti di mare für sich selbst und einen Cordonburger für mich. »Extra-Zutaten, Herr Koch?« – »Nein, danke.« – »Beilagen, vielleicht?« – »Hm, ich weiss nicht.« –»Eine mittlere Portion Pommes und Senf, das wäre doch was!« – »Nein, gar nichts.«
Zur Bahnmanagerin unter dem vieleckigen Glasdach musste man ins Unendliche nach oben steigen. Unten Presslufthämmer, Schutthalden, Lastwagendröhnen. »Wissen Sie, die Gloggnitzer Bahn, die war die erste explizit auf Personenverkehr ausgerichtete österreichische Bahn. Damit hat hier alles angefangen. Später liess man, statt eines gemeinsamen Ausgangsbahnhofs, zwei im stumpfen Winkel aneinander grenzende Kopfbahnhöfe errichten, dazu Lokomotivwerkstätte, Wagenremisen«.
»Das war in der Zeit der Hofbauräte, nicht?«, sagte ich, um sie herauszufordern. »Die österreichischen Baubeamten entwarfen damals nach zulässigen Schablonen, alles andere war kunstpolizeilich verboten.« – »Ja, bei allen Wiener Bahnhöfe gab es einen luxuriösen Hofsalon für den kaiserlichen Hof. In der Form bestand der Südbahnhof bis 1869.«
»Und dann?« – »Na, fünf Jahre später haben wir dann den zweite Bau vollendet. Das ging sich zwar zur Wiener Weltausstellung nicht mehr ganz aus. Die Verzögerung war ziemlich peinlich! Aber als die internationalen Gäste wieder weg waren, war unser zweiter Bahnhofsbau ruckzuck fertig.«
»Historistisch ein Abklatsch, und finster, wie die Bachmann ihn geschildert hat.« – »Neorenaissance«, sagte die Bahnmanagerin und schlug dabei mehrmals mit der flachen Hand neben das Aufnahmegerät. »Sie müssen sich das Äussere des zweiten Südbahnhofs wie bei der Hofoper oder der Neuen Universität vorstellen. Ein Ringstrassenbau am Gürtel. Man betrat das Gebäude auch weiterhin wie den alten Gloggnitzer Bahnhof, vom Vorplatz aus; der lag da, wo jetzt die Kassenhalle steht. Bis 1914 verkehrte hier der legendären St. Petersburg-Cannes-Express …«
Der Mann vom Pizzadienst rückte an und ein ekelhafte Geruch von Schnellnahrung begann den Raum auszufüllen. Die Bahnmanagerin öffnete den Karton und würgt einen kräftigen Bissen vom lauwarmen Teiglappen hinunter. Dann fuhr sie fort: »Der eigentliche Personenbahnhof war typisch klassizistisch, der Baustil, der eben um 1840 für öffentliche Gebäude üblich war. Eingang und Ausgang befanden sich an der Stirnseite des Gebäudes, dem heutigen Schweizer Garten zugewandt.«
Oregano von ihrer Papp-Pizza staubte über den Tisch. Warum hatte sie keine Cola bestellt? Trinkt man nicht Cola oder Red Bull zu diesem Schweinefrass? – Ich riss mich vom Anblick der Winkekatze im Regal hinter meiner Gesprächspartnerin los und sage: »Ihre Vorgänger haben dann nach dem Zweiten Weltkrieg die Legende von den irreparablen Kriegsschäden verbreitet. Dabei war die Anlage doch gar nicht kaputt.«
»Stimmt«, sagte sie keine Spur verlegen, »der zweite Südbahnhof ist von ein paar Bomben getroffen worden; bei den Kämpfen im April 1945 gingen vor allem Glasflächen zu Bruch – aber erledigt war der Bahnhof dadurch nicht. Die Bausubstanz und die stählerne Dachkonstruktion blieben unbeschädigt, die Schäden wurden behoben und der Bahnbetrieb lief relativ bald wieder an.«
»Trotzdem hat man die Kriegsschäden und den Bau der Schnellbahn zur Rechtfertigung für eine grosszügige Neuplanungen herangezogen.« –»Sicher, warum sollten wir Verzicht und Mässigung predigen? Optimismus ist eine bewusste Entscheidung. Wir haben die Generalsanierung der Bausubstanz gar nicht in Erwägung gezogen. Im Zeitgeist der fünfziger Jahre mass man der Gründerzeitarchitektur keine stadtbildprägende Wirkung zu.«
Die Winkekatze begann mich wieder zu hypnotisieren. »Schauen Sie«, hörte ich die weibliche Stimme jetzt wie von Ferne, »der Zweckbau nach dem Krieg hat vor allem eines getan: er hat mit der Verspätung von einem halben Jahrhundert mit der stuckverzierten Illusion des Kaiserstadt aufgeräumt. Wie hat denn dieser alte Bahnhofspalast ausgesehen?«
Ich begann ein paar Dinge aufzuzählen: »weitläufigen Stiegenaufgänge, repräsentativ ausgestaltete Hallen, …« – »Genau, und was stand am Dach? Oben drauf, auf den Dachkanten standen acht geflügelte Löwen. Diese Skulpturen formulierten den politischen Anspruch des Habsburgerreiches auf die Lagunenstadt Venedig.«
Da schau her, meine Bahnmanagerin begann den Neubau in den Stand einer anthropologischen Notwendigkeit hinein zu argumentieren. Hatte nicht soeben die italienische Einigungsbewegung die Wiener Usurpanten aus ihrem Lombardo-venetianischen Königreich vertrieben? Genau, und zehn Jahre Jahre später, 1869, meldete Habsburg mit den acht geflügelten Löwen am Südbahnhof erneut seine Grossmachtsaspirationen an.
Die Frau brachte Farbe in die Geschichte. Sie inszenierte sich nicht nur nur mit der Architetur ihres Headquaters über der Baustelle, mit der leicht blasierten Atmosphäre ihrer hochgelegten Beine und ihrer vermutlich zellerneuerten Haut. Sie argumentierte mit dem Zeitgeist von gestern, um meinem schönen Südbahnhof eine umso schwärzere Schleife umzuhängen.
»Man kann sich heute ja gar nicht mehr vorstellen, mit welcher imperialen Hybris das Habsburgerreich in der Weltgeschichte unterwegs war. Raten Sie mal, was aus den acht Markuslöwen geworden ist! Zwei haben die Bombardements der Allierten überlebt. Einer stand, wie Sie ja wissen, als beliebtes Fotomotiv in der neuen Kassenhalle.« – »Und der andere?« – »Na, was denken Sie? Den hat die Habsburgerfamilie an den Ort verpflanzt, wo sie ihre romantische Pläne hinter schmiedeisserenen Toren bis zum Aberwitz pflegte: Er steht am ehemaligen Kaiserbahnhof in Laxenburg.«
© Wolfgang Koch 2009