vonImma Luise Harms 25.02.2010

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Einer der Umstände, die das Leben auf dem Land so angenehm machen, ist die Fülle an Bedeutungslosigkeit. Die Wolken ziehen dahin, wie von ungefähr. Auf den Feldern liegt eine weiße Schneedecke, die das Auge zum Horizont gleiten lässt. Die Häuser stehen auf ihrem Platz; da verändert sich wenig.
Der große Reichtum an Bedeutungslosigkeit – informationstheoretisch Rauschen genannt – lädt zur inneren Einkehr ein. Man kann spazieren gehen oder einfach dasitzen und in die Landschaft schauen, ohne dass einen etwas behelligt. Deshalb kommen die Städter zur Erholung so gern aufs Land.
Nun muss ich präziser werden. Nur für die Stadt-gegerbten BesucherInnen ist das Land bedeutungslos. Die Wolkenformen deuten auf einen Wetterwechsel, der Wind steht auf süd-südwest. Durch die Schneedecke schaut der Winterweizen; es wird Zeit, dass der Schnee schmilzt. Schulzes haben anscheinend doch eine Baugenehmigung für ihren Dachausbau bekommen.
Das Rauschen ist eine subjektive Kategorie. Wer die darin versteckten Signalformen kennt, für den ist es eine Vielfalt an Informationen. Aber die Signale sind absichtslos, sie meinen mich nicht, sie sind verfügbare Muster ohne Anspruch, interpretiert zu werden. Ich kann auch einfach rumlaufen, Luft holen und denken: schön heute! Meine Eingangsbehauptung muss ich also dahin korrigieren: Das Freiheitsgefühl auf dem Land entsteht durch die Fülle an Absichtslosigkeit.
Das ist in der Stadt anders. Der öffentliche Raum ist mit Botschaften gespickt, die mich meinen. Es wird dafür gesorgt, dass ich nicht an ihnen vorbeikomme, ohne sie zu beachten.
Vor etwa 12 Jahren erzählte ich in der sehr politischen, sehr trendigen WG meiner Freundin C. von meiner Absicht, einen Präzedenzfall zu schaffen. (Ich schrieb darüber in einem zu wenig beachteten blog im Juli 2008 und wiederhole das hier, in der Hoffnung, dass die Dopplung der Geschichte zu einer Resonanz ihrer Wirkung führt). Also ich wollte bei Rot über eine mit Blitzern kontrollierte Ampel im Stadtzentrum fahren und die dann fällige Geldstrafe nicht bezahlen. In der Gerichtsverhandlung wollte ich geltend machen, dass es mir nicht möglich war, das Ampellicht zu beobachten, ohne dabei gleichzeitig auf die dahinter angebrachte Plakatwand zu schauen. Das Plakat fordert mich mit suggestiven Mitteln dazu auf, mir endlich einen neuen Fernseher zu kaufen, so einen großen, flachen, weil ich ja sonst blöd wäre. Das ist in meinen Augen Nötigung; gegen die kann ich mich nur wehren, indem ich konsequent den Blick auf solche Werbetafeln vermeide. Dann aber kann ich die Verkehrssignale nicht beachten, die zu meinem und zu aller Schutz da sind. Und ich gefährde ich mich und andere. Wenn ich mich also vor der Nötigung durch Werbetafeln schützen will, bin ich quasi aus dem öffentlichen Raum ausgeschlossen. Ich fand das schlüssig und war auf der Suche nach einer Anwältin, die mir bis zum Bundesgerichtshof beistehen würde.
C. erkundigte sich, ob es mir um sexistische Werbung ginge. In dieser Sache waren wir früher schon manchmal aktiv gewesen. Ich verneinte, es gehe mir um die Nötigung durch Werbung schlechthin. S., die Mitbewohnerin von C., hatte gerade einen Studienaufenthalt in den Staaten hinter sich; sie hatte sehr moderne Ansichten, dekonstruktivistisch durch und durch. Sie fand mein Vorhaben lächerlich, meine Werbefeindlichkeit hinterwäldlerisch, defensiv, in jeder Weise völlig daneben. Ich zog mit hängenden Ohren und gesenkten Blick ab – durch die Schluchten von hohnlachenden Lavazzo-Trinkerinnen und verächtlich mir nachschauenden Mustang-Trägerinnen, zurück aufs platte Land der freien Bedeutungen.
Heute würde der Wortwechsel vielleicht anders ausgehen, denn ich könnte ein paar starke Argumente nachlegen. Die Sache hat jetzt nämlich einen Namen:

die Commons!

Es geht um die Wiederentdeckung der Gemeingüter, die durch den Zugriff des Kapitals zuschanden werden. Die politisch gebildeten ZeitgenossInnen erkennen diese Zusammenhänge offenbar erst, wenn sie weit genug weg sind, z.B. der Kampf um die Wasserrechte, die private Aneignung von genetischen Codes, der Ablasshandel mit Luftverschmutzung. Die Erklärungen, dass Luft, Wasser, Sonnenschein, das Erbgut, Pflanzen- und Tierarten, die Fische in den Weltmeeren, das Wissen und die kulturellen Traditionen allen gehören, gemeinsam genutzt und erhalten werden müssen und nicht privat angeeignet werden dürfen – diese Erklärungen kommen aus Lateinamerika oder aus Indien. Die metropolitane Linke mustert nun ihre eigenen Verhältnisse, und unter dem Stichwort „Commons“ wird gegen Cross-border-Leasing der öffentlichen Versorgung und Gentrifizierung der Stadtquartiere polemisiert. Der öffentliche Raum, wird seit Entstehen der Gated Communities gefordert, muss Gemeineigentum bleiben.
Und nun komm ich: Der öffentliche Raum ist eben nicht nur das physische Terrain, auf das ich ungehindert meinen Fuß setzen darf. Er ist – vielleicht inzwischen sogar in erster Linie – ein Aufmerksamkeitsraum. Der öffentliche Aufmerksamkeitsraum – dieser Begriff hat mir damals gefehlt – wurde und wird in bedrohlichem Ausmaß privatisiert!
Die Werbung besteht in den seltensten Fälle aus dem Hinweis, dass beim Schlachter neue Wurstware eingetroffen ist, dass also, wer Wurst haben will, sich jetzt her bemühen möchte. Im Allgemeinen wird mit den Werbebotschaften ein Bedürfnis, eine Notwendigkeit eingeredet, die ich vorher nicht verspürte und, so kann man wohl sagen, auch nicht hatte. Die Befriedigung dieses Bedürfnisses muss mit Geld bezahlt werden. Darum geht es. Das Geld für das zusätzliche Bedürfnis muss zusätzlich verdient werden. Geld verdienen bedeutet für die meisten Menschen ein Mehr an entfremdeter, also nicht aus eigenem Antrieb geleisteter Arbeit -ein Stück mehr Konkurrenzkampf, ein Stück mehr Demütigung, ein Stück mehr Verlust an Lebensfreude und Lebenszeit. Jede Werbebotschaft zwingt uns also auf dem Umweg über den Konsumdruck ein Stück weiter unter die Knute des Kapitals.
Man mag mir vorwerfen, dass nur ein hoffnungsloses Landei so anfällig für Werbetafeln ist. Der geübte Städter übersieht so was. Da sage ich: du merkst gar nicht mehr, was dir die Abwehr für eine Energie raubt, bzw. du folgst den Botschaften und weißt es nicht. Auf jeden Fall funktionierst du im System und zahlst du die Zeche. Das ist natürlich erforscht, sonst würden die Werbe-Milliarden nicht ausgegeben.
Aber da gibt es so Plakate, auf denen steht „Be Berlin!“ Was wollen die mir verkaufen, wozu wollen sie mich nötigen? Die Beeinflussung der Menschen, die sich im öffentlichen Raum bewegen, ist weit komplexer, als ihnen ein Produkt anzudrehen, das sie nicht haben wollten. Es geht ums Grundsätzliche, um die Haltung, die erforderlich ist, um im System zu funktionieren. Das wird je nach Standpunkt Manipulation, Arbeit an der Corporate Identity oder Social Engineering genannt. Die moderne Begrifflichkeit für das absichtsvolle Rumschrauben an meiner Gesinnung ist „memetische Codierung“.
Bisher wird das Problem, sich vor aufdringlichen Meinungs- und Wunsch-Stimuli zu schützen, als indiviuelle Angelegenheit begriffen. Und oft kann ich sie auch individuell lösen: Den Fernseher ausschalten, die Zeitung zuschlagen, die Internet-Seite nicht mehr aufrufen. Da handelt es sich um Produkte, gegen die ich mich entscheiden kann. Aber finde mal einen Weg zur U-Bahn-Station, wo du in Ruhe gelassen wirst. Die Wände und Bauzäune, an denen die Plakate hängen, sind von Privatbesitzern gemietet; also ist es eine private Geschäftstätigkeit. Aber in Wirklichkeit wird ja nicht die Wand bewirtschaftet, sondern mein Gesichtsfeld.
Und wenn die Stadt an Bushäuschen und auf dem Mittelstreifen großer Straßen riesige Werbeträger aufstellen lässt, von denen aus Konzerne und Korporationen die Aufmerksamkeit der PassantInnen abfischen dürfen, dann unterscheidet sich das in keiner prinzipiellen Weise vom Freibrief zur Überfischung auf hoher See oder vom Ausverkauf der Wasserversorgung, der öffentlichen Verkehrssysteme oder anderer Commons.

Der öffentliche Aufmerksamkeitsraum ist ein Gemeingut. Er darf nicht privat angeeignet werden. Die aufgezwungene Sichtfeld-Bewirtschaftung an Menschen, die sich im Freien bewegen und begegnen wollen, ist mit Raub gleichzusetzen, oder, damit es die Metro-Linken besser verstehen: mit Psycho-Piraterie.

So, S., und nun kommst du!

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