Mein Vater war Berufspolitiker und unendlich idealistisch. Er kämpfte für die Demokratie. Er arbeitete länger als jeder Chefarzt. Doch anders als die Chefärzte, die bewundert werden, viel Geld, eine Villa am Starnberger See und junge Stationsschwestern ins Bett bekommen, wurde mein armer Vater nur beschimpft und denunziert. Jeder konnte sehen, daß wir bettelarm waren. Dennoch hörten meine Geschwister und ich in der Schule nur die üblichen Schmähungen, wie sie auch gerade der Kanzler Kohl Sohn schilderte. „Euch stecken sie es doch hinten und vorne rein!“ Immer wieder wurden wir verprügelt, von Kindern aus demokratiefeindlichen Familien. Es war damals aber noch zu ertragen. Es gab auch Kinder, die gern mit uns diskutierten.
Heute wäre das anders. Der Medienfaschismus hat es geschafft, daß ausnahmslos alle Menschen inzwischen eine schlechte Meinung von gewählten Volksvertretern haben. So wie nun alle Menschen an den Voodoo Quatsch mit der ‚Strahlengefahr‘ glauben. Kinderpornographie, Tierquälerei, Scheißpolitiker, Strahlengefahr, Horoskop, Wetter: das ist der Inhalt heutiger Medien. Umso erstaunter war ich, als ich nun in Wien am gestrigen Abend einer Theateraufführung beiwohnen durfte, in der reale Politiker auf das Lustigste von allen Seiten gezeigt, geschmäht, denunziert, bewundert, geliebt wurden. Wie richtige Menschen! Robert Palfreder, Österreichs größter Theater- und Schauspielstar, spielte den Julius Meinl. Finanzminister Grasser, ein überaus schöner Mann mit halblangen Haaren und stets gebräunter Haut (verheiratet mit der Strawoski Erbin), wurde sehr passend von einer ihm ähnlich sehende Frau gespielt. Ich merkte es erst nach der Aufführung, als sie mir vorgestellt wurde. Sie gab die Grasserfigur überaus sympathisch, als glattes Gegenteil des ‚Scheißpolitikers‘. Der Zuschauer durchlebte den politischen Fall menschlich mit, und es flossen heimliche Tränen, als Grasser von seiner Sinnkrise sprach und dabei verzweifelt ins Stocken geriet. Minutenlang wurde es sehr ruhig auf der Bühne, leise, depressiv. Die Stimmung erkannte ich wieder. So war es auch bei uns zu Hause gewesen, wenn die FDP erneut die Fünfprozenthürde nicht geschafft hatte.
Auch Palfreder gab den Meinl sehr facettenreich und im Ergebnis zu Herzen gehend. Was für ein Schicksal! Ein Milliardär, der für sein Volk alles tun wollte, und schließlich ins Gefängnis gesperrt wurde. Die Leute mögen es nicht, wenn jemand reich ist und aus einer alten Familie kommt.
Wunderbar auch der Conferencier, der launig und unterhaltsam und unbändig wienerisch durchs Programm führte. Da wurde kein Klischee ausgelassen. Dagegen war Hans Moser ein Preuße. Und der Schauspieler, der den Jörg Haider gab: auch nicht schlecht. Es gibt ja diesen wahnsinnig guten Roman von David Schalko (‚Weisse Nacht‘, Czernin Verlag) über Haider, aus dem alle Kabarett- und Stückeschreiber sich bedienen können. Das ist ein Steinbruch der Inspiration fürs liebe Haiderthema, mit Amouren und Amouretten, versteckten Zahlungen, politischen Bettgeschichten und anderen Schweinereien, die so faszinierend und atemlos schmissig hingeknallt und dennoch souverän ausgemalt werden, mir gehen echt die Worte aus merke ich gerade, also ein Buch, als hätte Martin Kippenberger auch schreiben können, so gut ist das. Das ist das Umfeld – also EIN Element davon – in dem solche Abende möglich werden.
Immer wieder wurde die Aufführung durch lautes Lachen unterbrochen, wohl hundertmal. Alle Vorstellungen sind bis nächstes Jahr ausverkauft. Das Publikum ist im Schnitt 34,8 Jahre alt (im Deutschen Schauspielhaus Hamburg beträgt der Schnitt fast genau das Doppelte, 71 Jahre). Der Impressario des Rabenhof Theaters in der Rabenhofgasse, in dem das alles gestern stattfand, lief entspannt herum, zwischen Bühne, Zuschauerraum, Maske und Bar, zog gleich mal wieder fünf neue Projekte an Land. Man lebt im Überfluß. Man wird das alles nicht machen können, aber man KÖNNTE es!
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