Derrick Lemon ist acht, als er zum ersten Mal in die Schlagzeilen kommt. Am 13. Oktober 1994 ermorden zwei Jungen – sie sind zehn und elf Jahre alt – seinen fünfjährigen Bruder. Sie werfen den kleinen Eric aus dem 14. Stock eines Gebäudes in Chicago. Derrick versucht vergeblich, sie daran zu hindern.
Vor Gericht beschreibt der achtjährige Derrick, wie er vierzehn Stockwerke herunterrannte, um noch vor Eric auf dem Trottoir anzukommen. „Ich wollte meinen Bruder auffangen“, sagt er.
Bei der Zeugenaussage sitzt Derrick auf einem Telefonbuch, um an das Mikrofon heranzureichen. Das Verbrechen löst eine Welle des Mitgefühls für ihn aus. Die beiden Mörder seines Bruders kommen ins Gefängnis. In einem eigens für sie geschriebenen Gesetz wird das Mindestalter für Gefängnis in Illinois von dreizehn auf zehn Jahre gesenkt. Sie werden die jüngsten Gefängnisinsassen der USA.
Siebzehn Jahre später ist auch Derrick hinter Gittern. Ein Gericht in Chicago hat ihn in dieser Woche zu 71 Jahren Gefängnis verurteilt. Davon 46 für Mord und 26 für tödliche Schüsse. Der 24jährige Derrick muß – auch das steht in dem Urteil – seine Strafe komplett absitzen. Er hat den Freund seiner Tante ermordet.
Mit Verweis auf das Trauma in Derricks Kindheit bittet sein Verteidiger um mildernde Umstände. Die Tante, die Derrick mit großgezogen hat, spricht von dessen „schwerem Leidensweg“ als kleiner Junge.
Doch Richter Thomas Henelly nennt Derrick einen „sehr gefährlichen Mann“. Der Richter sagt, dass die Tragödie seines Bruders ihn vor einer noch längeren Gefängnisstrafe bewahre, aber nicht seine Tat entschuldige. Der Richter: „Es war nicht die Gesellschaft, die ihm gesagt hat, dass er Illya Glover erschiessen soll. Es war seine eigene Wahl, seine eigene Entscheidung.“
In den Monaten nach dem Mord des fünfjährigen Eric haben zwei 16jährige Schüler eine Reportage in dem Stadtteil von Chicago gemacht, wo es passierte. Sie interviewen Kinder, die von harten Drogen, von Schüssen und von Toten erzählen. Väter, die häufiger im Gefängnis als ausserhalb sind. Mütter, die fixen. Derrick, der noch nicht im Stimmbruch ist. Eine Jugendrichterin, für die das Verbrechen das brutalste ist, mit dem sie je konfrontiert war. Und einen Anwalt, der Begegnungen mit Gewalttätern beschreibt, hinter deren harter Fassade er schon nach den ersten Worten kleine Kinder spürt. Die bemerkenswerte Schülerreportage aus dem Ghetto findet sich –>hier.
Die beiden Mörder des kleinen Eric sind 2004 zum ersten Mal entlassen worden. Seither haben Tykeece
Johnson und Jessie Rankins zahlreiche neue Gefängnisaufenthalte hinter sich gebracht: wegen Gewalt,wegen Überfällen und wegen Drogengeschäften. Ein Reporter der Chicago Tribune hat Rankins vor einer seiner Entlassungen aus dem Gefängnis und in den ersten Tagen danach bei sich zuhause – mit Frau und Kampfhunden auf dem Sofa – portraitiert. Der Film ist bei der –> Chicago Tribune zu sehen.
Aus demselben Ghetto, wie Täter und Opfer des Verbrechens vom Herbst 1994, stammt auch das Opfer des neuen Verbrechens. Vor Gericht fragt eine Tochter von Illya Gover den Angeklagten Derrick: „Warum hast Du das gemacht? Du weisst doch, wie es sich anfühlt, einen geliebten Menschen zu verlieren“.
Wer ist der nächste?