vonInitiative 21.10.2024

Schlossaneignung

Warum und wie man die ausgelöschten Spuren des 20. und 21. Jahrhunderts in das Berliner Schloss einschreiben sollte.

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Bitte stellen Sie sich und ihre Arbeitsgemeinschaft kurz vor.

Wir sind vier brasilianische Architekt*innen. Drei von uns leben in Brasilien, einer in Berlin. Ich bin Professorin für Theorie und Geschichte der Architektur an der Katholischen Universität von Rio de Janeiro und Mitglied des Comité Internacional de Críticos de Arquitectura, David ist Professor für Raumstudien und Darstellung an der Universität von São Paulo und Fabiana ist ebenfalls dort Masterstudentin für Architektur und Städtebau. Michel arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter und Lehrbeauftragter am Institut für Architektur der TU Berlin.

David und ich sind Mitbegründer*innen und Redakteur*innen des counter-kartographischen Projekts Ground Atlas, an dem auch Michel mitarbeitet. Außerdem sind wir drei an Forschungsprojekten mit transdisziplinären Teams aus Brasilien und Deutschland beteiligt *.

Wie kam es dazu, dass Sie an dem Ideenwettbewerb Schlossaneignung teilgenommen haben?

Über e-flux bin ich auf den Aufruf gestoßen und fühlte mich gleich davon angesprochen. Da ich mich in diesem Moment ohnehin auf einen längeren Aufenthalt Berlin vorbereitete und auch einige Partner*innen aus dem Ground Atlas-Team vor Ort sein würden, dachte ich, dass der Ideenwettbewerb eine gute Gelegenheit darstellt, um unsere kartographische Praxis in eine breitere, dringende Debatte über die Ethik der Architektur von Heute einzubringen – und zwar aus einer dekolonialen Perspektive, die wir vier miteinander teilen.

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Wie in unserem Vorschlag ‚Auf Wiederschreiben‘ angedeutet, sind für uns weder Architektur noch Kartografie „neutral“. In den vergangenen Jahren haben wir weltweit nicht enden wollenden Prozesse der Kolonisierung, Deterritorialisierung und Rassifizierung kartiert. Diese sind auch in den Ort eingeschrieben, an dem sich das Humboldtforum befindet. Für uns lag es also nah, um das Humboldtforum herum ein Beziehungsgeflecht aufzuzeichnen, indem wir kritische Punkte kartieren, die in Imperialismus, Enteignung, Vertreibung und Plünderung wurzeln. Welche die Architektur des Stadtschlosses aber zu verbergen versucht. Auf Grundlage des Bildsystems, das für die Website ‚Ground Atlas‘ entwickelt wurde, wollten wir die konstitutiven Beziehungen zwischen Akteur*innen, Entscheidungen, materiellen Belangen und Machtverhältnissen, die mit der falschen Fassade in Verbindung stehen, sichtbar machen. Und zwar auf einer Leinwand, die sich vor das Schloss schiebt. Über einen Steg im Zwischenraum sollten die spendenfinanzierten architektonischen Elemente zudem angefasst werden können.

Der Schlüssel zum ‚Ground Atlas‘ liegt in der Vieldeutigkeit des Wortes „Ground“ bzw. „Boden“, das sich jeder eindeutigen oder vorab festgelegten wissenschaftlichen Definition widersetzt. Wir können uns den Boden in vielerlei Hinsicht vorstellen: als ein lebendiges Archiv, in dem sich unzählige Zeiträume, Organismen, Akteure, geopolitische Kräfte und Logiken überschneiden und Spuren hinterlassen; als Kompositum vielfältiger und oft ambivalenter historischer, politischer, biologischer, sozialer, kultureller, wirtschaftlicher und symbolischer Schichten in verschiedenen Maßstäben, in unterschiedlichen historisch-kulturellen und geopolitischen Kontexten; als eine Grundbedingung für die Koexistenz mit Myriaden von Lebensformen auf dem von uns bewohnten Planeten. Unsere Auseinandersetzung mit dem Humboldt-Forum brachte uns dazu, über die semantischen Überlagerungen von „Boden, Erde, Land, Gelände, Territorium“ hinauszudenken und die Fassade als ein umstrittenes Palimpsest zu untersuchen.

Welche Bedeutung hat das symbolische Gebäude des Wiederaufbaus des Berliner Schlosses für Sie?

Ich besuchte den Ort zum ersten Mal im Jahr 2004, als der Palast der Republik leerstand und man sich als Architekt*in noch so Vieles vorstellen konnte, was daraus werden könnte. Daher war ich schockiert, als ich 2019 die Baustelle des Humboldt-Forums besuchte. Es schien unwirklich, dass die Stadt, die als Laboratorium für zeitgenössische Architektur bekannt wurde, in ihrer Mitte tatsächlich ein barockes Schloss wiederaufbaut. Eine Entscheidung, die dazu führen würde, dass alle weiteren Schichten, die an diesem Ort abgelagert sind, ausradiert würden. Und das auch über eine so finanzstarke wie fragwürdige Spendenkampagne.

Trotz einiger Stimmen hier und da ist mir das großflächige Schweigen aufgefallen, das in der globalen Architekturszene herrschte – wenn man bedenkt, welche Schlüsselrolle Berlin in den 90er Jahren in der Debatte über Stadtgeschichte und die Politik des Erinnerns und Vergessens gespielt hat. Nachdem ich das Humboldt-Forum 2023 zum ersten Mal besucht hatte, war ich bestürtzt, als ich von den Hintergründen und Netzwerken der Stifter*innen erfuhr. Das in einer Zeit, in der der Rechtsextremismus in Deutschland, Brasilien und vielen anderen Ländern auf gefährliche Weise aufbrandet. Wenn ich mir das Gebäude jetzt ansehe, schaudert es mich. Dann sehe ich, wie Kolumbus, der Soldatenkönig Friedrich Wilhelm I., Bolsonaro und Trump gemeinsam den Amazonas in Brand setzen, mitten im Herzen eines dem Untergang geweihten Europas.

Was ist also Ihre Vision für diesen Ort?

Einen Wald zu pflanzen. Oder eine Mangrove…

 

* Die Ergebnisse einer laufenden Untersuchung zu Multispezies-Cohabitation, in der drei der hier vorkommenden Teilnehmer*innen des Ideenwettbewerbs involviert sind, werden am 26.10. im Spore Berlin vorgestellt.

Das Gespräch führte Felix Hofmann.

52 Künstlerlnnen, Architekt*innen und Gestalter*innen aus 16 Ländern haben sich am Ideenwettbewerb Schlossaneignung beteiligt. Die Ergebnisse können hier eingesehen werden.

Die Petition der Initiative Schlossaneignung kann hier mitgezeichnet werden.

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