Fühlen Sie sich durch den Symbolbau der Rekonstruktion des Berliner Schlosses repräsentiert?
Nein.
Weshalb?
Ich bin Chefredakteur einer Zeitschrift, die sich seit jeher mit Architektur und Stadt aus einer gesellschaftlichen Perspektive befasst. Daher hat sich ARCH+ immer schon gegen eine Rekonstruktion des Berliner Stadtschlosses ausgesprochen – weil sie in keiner Weise die gesellschaftliche Situation nach der Wende widerspiegelt. Nachdem das Ding gegen alle Widerstände nun aber gebaut ist und so viele Ressourcen – materielle und finanzielle – darin gespeichert sind, stellt sich auch im Sinne der Nachhaltigkeit die Frage: Was machen wir damit? Wie gehen wir mit diesem Bau um? Es ist ja nicht nur materielle, sondern auch gesellschaftliche Energie, die er bindet.
Was verbindet Sie mit dem Konflikt um diesen Ort?
Als ich 2003/04 frisch nach Berlin kam, liefen gerade noch die letzten Versuche, im Sinne der kulturellen Bespielung des Palasts der Republik – der Zwischen Palast Nutzung – andere Wege aufzuzeigen, wie man mit dem Ort in seiner Komplexität umgehen könnte. Das war für mich im Grunde der Einstieg in die Berliner Debatten. Für uns war es sehr frustrierend, dass all die guten Gründe ignoriert wurden, andere Wege zu gehen und all die Vorschläge nicht gehört wurden, was man mit dem damaligen Bestand hätte anfangen können. In Gebäuden stecken nicht nur materielle, sondern auch historische Ressourcen, die darin eingelagert sind. In diesem Sinne verbinde ich mit diesem Ort eine Geschichte des Scheiterns des Diskurses und der gesellschaftlichen Debatte. Wir haben es nicht geschafft, die Politik davon zu überzeugen, dass es im 21. Jahrhundert nicht darum gehen kann, das Bild vergangener Jahrhunderte wiederherzustellen, sondern darum, uns aktiv mit Geschichte auseinanderzusetzen – in ihrer ganzen Komplexität und mit ihren Brüchen. Mit dem Projekt der Schlossaneignung wollen wir das noch einmal versuchen.
Was fordern Sie heute für diesen Ort?
Vor kurzem hat ARCH+ die Architekturvorlesungen des Religionsphilosophen Klaus Heinrich herausgebracht, der sich sein Leben lang mit der Frage auseinandergesetzt hatte, wie es zu den gesellschaftlichen Verhältnissen im Nationalsozialismus kommen konnte.
Im Sinne der Architekturdebatte fragte er: Wie kam es dazu, dass Architektur und Städtebau immer wieder von totalitären Systemen vereinnahmt werden konnten? Wie kam es, dass sie für Propagandazwecke genutzt werden konnten? Ich denke, im Falle des Berliner Schlosses haben wir es mit Propaganda zu tun. Klaus Heinrich beantwortete die Frage nach der Vereinnahmung damit, dass es dazu immer dann kommt, wenn Architektur ein idealisiertes Gesellschaftsbild transportiert. Ein solches Bild entsteht, wenn Architekturstile dazu benutzt werden, Vergangenheit ohne die notwendige „Substruktion“ zu rekonstruieren. Mit Substruktion – also jene Konstruktion, die einen Bau trägt – meint Heinrich das Sichtbarwerden und die Offenlegung unverarbeiteter historischer und gesellschaftlicher Schichten im Material der Architektur. Heinrich zufolge kann sich Architektur und Städtebau der Vereinnahmung durch Propaganda nur entziehen, wenn sie die Brüche, die verdrängten Aspekte der Geschichte im Material aufzeigt. Das ist für mich einer der Hauptgründe dafür, zu fordern, dass wir uns diesen Ort, der wie kaum ein anderer exemplarisch für die Brüche und Niederungen der deutschen Geschichte steht, noch einmal vornehmen und ihm diese Brüche einschreiben. Dass wir durch künstlerische Mittel die verdrängten Schichten wieder hervorholen, um eine aktive Auseinandersetzung zu ermöglichen.
Welche Brüche, welche Schichten?
Am Berliner Stadtschloss müsste die preußische Geschichte als eine des Kolonialismus und des Militarismus behandelt werden. Die Revolutionen der deutschen Geschichte müssten an diesem Ort diskutiert werden, die Ausrufung der Republik und die Weimarer Republik selbst, die Kriege, die auch im Gebäude Spuren hinterlassen haben durch Beschuss, Bombardierung und Zerstörung. Auch die Geschichte der Beseitigung des historischen Schlosses aus ideologischen Gründen müsste hier thematisiert werden, die Geschichte der Teilung, der DDR, der Vereinigung. Hier sind sehr viele Schichten, die freigelegt und so verarbeitet werden können. Denn nur wenn wir die Gebrochenheit nicht nur aushalten, so Klaus Heinrich, sondern sie auch zur Schau stellen, können wir uns gegen das Verdrängen und das Zerbrechen schützen.
Haben Sie eine Vision, wie das geschehen könnte?
Die Vision muss offen sein. Hätten wir ein fertiges Bild, würden wir dasselbe tun, wie es die Rekonstruktionsbefürworter des Schlosses getan haben. Geschichte ist etwas Offenes, und sie muss als etwas Offenes behandelt werden. Sie ist nicht nur der Grund, auf dem wir als Gesellschaft stehen, agieren, laufen, stolpern, fallen, sondern ein Horizont, auf den wir unseren Blick ausrichten. Dieser Horizont ist beweglich. Genau so müssen wir mit diesem Bild verfahren. Aus dem Grund fordern wir eine künstlerische Auseinandersetzung mit diesem Ort, denn die Künste können Räume des Imaginären aufmachen, die nicht zielgerichtet sind. Die Kunst kann Offenheit formulieren – durch Überlagerungen, Schichtungen, Aneignungen. Sie ist in der Lage, zu verhandeln, sich mit dem Vorhandenen auseinanderzusetzen, statt zu idealisieren. Künstlerische Methoden sind oft Zeigeverfahren, die die Dinge dadurch diskutierbar machen. Künstlerische Ansätze könnten zum Beispiel an bestimmten Elementen sichtbar machen, durch welche Spenden sich welche Positionen in den Bau eingeschrieben haben. Künstlerische Methoden könnten Brüchigkeit visualisieren und für den hermetischen Bau, der vorgaukelt, er wäre fertig, wieder eine Zugänglichkeit erreichen.
Anh-Linh Ngo ist Architekturtheoretiker, Kurator, Chefredakteur und Herausgeber der Zeitschrift ARCH+. Seit Mai 2024 ist er auch Vizepräsident der Berliner Akademie der Künste.
Das Interview führte Tina Veihelmann.
Statement von Anh-Linh Ngo als Video.