vonInitiative 19.10.2024

Schlossaneignung

Warum und wie man die ausgelöschten Spuren des 20. und 21. Jahrhunderts in das Berliner Schloss einschreiben sollte.

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Preußen stellt im frühen 21. Jahrhundert einen zentralen Referenzpunkt der deutschen Geschichte dar. Die idealisierende Rekonstruktion preußischer Symbole wie das Berliner Schloss und die Garnisonskirche in Potsdam zeigen, dass Preußen nach wie vor als Sehnsuchtsort funktioniert und als solcher die politische Funktion eines positiv besetzten Rückblicks auf eine längere Entwicklungslinie deutscher Geschichte jenseits des Nationalsozialismus erfüllt. Obwohl der Ausgangspunkt dieser Rekonstruktion die Zerstörung beider Gebäude infolge des von Berlin und Potsdam ausgehenden Weltkriegs war, entstand parallel zum Bauprozess kein neues Narrativ, dass das Ende Preußens in eine längere Geschichte einbettete. Statt die Gegenwart Preußens herbei zu bauen, schlagen wir vor, Abschied zu nehmen und eine dezidiert postpreußische Perspektive einzunehmen.

Postpreußen ist ein Standpunkt in der Gegenwart, von dem aus der Blick auf das Verhältnis preußischer Vergangenheit zu anderen europäischen Imperialgeschichten fällt. Um ein idealisierendes Preußenbild zu verabschieden, ist es notwendig eine längere Geschichte preußischer Landnahme zu schreiben. Preußen muss dafür Teil der Debatte um die Dekolonisierung der deutschen Gegenwart werden. Beim Neubau des Berliner Schlosses wurde die innereuropäische Dimension preußischer Kolonialgeschichte aktiv ausgeblendet. Wäre die Geschichte preußischer Landnahme parallel zur Rekonstruktion neu gedacht worden, wäre die Neuerschaffung einer auf Unterwerfung fokussierten Inschrift auf dem Schmuckband der Kuppel nicht möglich gewesen.

Der öffentliche Umgang mit den zerstörten Gebäuden und Strukturen hat immer einen identitätsstiftenden Charakter. Das Modell der sozialistischen Stadt griff mit dem zentralen Palast der Republik in die gewachsene, wenn auch stark kriegszerstörte Stadtstruktur ein und markierte durch die neue Sichtachse den Einflussbereich des realexistierenden Sozialismus. Die erhaltenen Reste des Berliner Schlosses wurden nicht nur physisch beseitigt, sondern als Symbol einer als überwunden geglaubten Gesellschaftsordnung zu ideologischen Zwecken gesprengt.

Die liberal-demokratische Gesellschaft, als die sich die Bundesrepublik nach dem Umbruch 1989/90 weiterhin konstituierte, ging in ähnlicher Weise vor, um ihre historische Deutungshoheit und Gestaltungskraft im Umgang mit der Geschichte der Deutschen Demokratischen Republik öffentlich unter Beweis zu stellen. Erneut wurde die Zerstörung eines mehr oder weniger intakten Gebäudes zur Förderung der neuen Gesellschaft erklärt und parlamentarisch durchgesetzt.

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Erneut ging der ideologischen Neugestaltung die physische Zerstörung voraus. Mit dem Unterschied allerdings, dass anstelle des Palastes der Republik kein neuer Symbolbau der gesamtdeutschen Demokratie entstand, sondern eine Replik des Hohenzollerschlosses, die aus einem Kern aus Beton sowie drei Neobarocken Fassaden besteht.  Ein Vorschlag, an seiner Ostseite Elemente des ebenso prominenten DDR-Gebäudes als Symbol eines vereinigten Deutschlands zu integrieren, konnte sich nicht durchsetzen. Der Architekt Franco Stella entwarf für die Spreefront eine Fassade im Stile des Rationalismus, der die Staatsbauten des italienischen Faschismus prägte.

Welches Demokratie- und Gesellschaftsverständnis transportiert dieses architektonische „Erinnerungsimplantat“ (so der polnische Soziologe Marian Golka) der Berliner Republik? Welches Angebot zu Identifikation unterbreitet die Rekonstruktion? Auch wenn Sammlungen, Veranstaltungen und Mitarbeiter*innen des Humboldt Forums einem idealisierenden Preußenmythos fast durchgehend zu widersprechen scheinen, bleiben die Fassaden des Schlosses eine ungebrochene Projektionsfläche für preußische Träumereien. Deshalb verwundert es nicht, dass die Verfechter*innen einer linearen Erinnerung an Preußen die Idee der Rekonstruktion auf das gesamte Gebäude ausweiten und in immer mehr Details umzusetzen versuchen. Dabei liefern Rekonstruktionen nie treue Abbilder der Vergangenheit. Gerade ihre Neugestaltung und die damit einhergehende Überformung, haben das Potential vielseitige Zugänge zu einem Erinnerungsort herzustellen. Die historische Erzählung, die im Zuge des Neubaus an den Standort Berliner Schloss gebunden wird, kennt aber keine Vielfalt und hält an offen manifestierten nationalen Deutungsmustern fest. Die konsequente Ästhetisierung der Replik verherrlicht das Preußentum der Kaiserzeit ohne einen Bruch, ohne Ende und ohne den Absturz auch nur anzudeuten.

An der am Original ausgerichteten Wiederherstellung der alten Architektur ist nichts auszusetzen, solange sie sich als Teil des historischen Prozesses begreift und seine Brüche nicht verleugnet. Im Fall des Berliner Schlosses wird aber die brüchige Vergangenheit des Ortes in den Dienst einer neuen, bundesdeutschen Geschichtspolitik gestellt, die nach 1990 eine unverhohlene Renationalisierung der historischen Erzählung vorantreibt. Diese stützt sich auf positive preußische Tradition im Zeichen von Wissenschaft und Kultur, für die an der Spree stellvertretend der Name Humboldts steht. Verknüpft mit dem barocken Kulturerbe Schlüters und Eosanders umreißt diese Traditionslinie die geistigen Grundlagen der erwünschten Stiftung einer neuen homogenen gesamtdeutschen Identität. Grund genug, um dem Ort preußischer Vergangenheit eine idealisierende Fassade zu verleihen und preußenfreundliche Erinnerungen an dem Ort zu befördern, an dem sich zuvor andere kristallisierten.

Voraussetzung für die Etablierung eines scheinbar ungebrochen, nationalen Gedächtnisses an diesem Ort ist andere Perspektiven außen vor zu belassen. Besonders das Beharren auf einer Replik von Kreuz und Schriftband auf der Kuppel des Humboldt-Forums just in der Sichtachse, in der auf dem Palast der Republik vor seinem Abriss das Wort ZWEIFEL prangte, ist der gut sichtbare Beweis dafür, dass Preußens Expansionismus auch im 21. Jahrhundert positiv betrachtet wird. Dass der Name und die Gründung Preußens unmittelbar mit der gewaltsamen Unterwerfung des baltischen Stammes der Pruzzen im Namen von Jesus Christus verwoben ist, genügt als Einsicht nicht, um in der Berliner Republik nach einer anderen Form der Bezugnahme zu suchen. Das liegt auch daran, dass das Ringen um Überwindung kolonialer Vergangenheiten in der musealen Gegenwart des Humboldt Forums derzeit als Ersatzschauplatz für eine nicht stattfindende Auseinandersetzung mit dem preußischen Imperialismus dient, für den symbolisch die rekonstruierten Fassaden des Berliner Schlosses stehen. Doch auch der ideologische Kern der Nichtdebatte um die europäische Dimension des Kolonialismus mindert nicht die Notwendigkeit, Preußen unmittelbar in den Blick zu nehmen, um in die Diskussion über das koloniale Erbe in der deutschen Gegenwart auch das Berliner Schloss als Symbol der preußischen Herrschaft einzubeziehen. Dabei eignet sich ein genauerer Blick auf die preußische Geschichte innereuropäischer Landnahme, um festgefahrene Interpretationsmuster des Hohenzoller Staates aufzubrechen und die historische Vielschichtigkeit von Kolonisierungsprozessen freizulegen. Die expansive Politik Preußens gegenüber seinen östlichen Nachbarn bietet dafür ein ebenso anschauliches wie instruktives Beispiel.

Eine solche binneneuropäische Perspektive auf die Geschichte des Kolonialismus erscheint umso wichtiger, als die gegenwärtigen Debatten über die post-koloniale Gegenwart Europas durchgehend eine Engführung der Geschichte von Rassismus auf das Erbe des Überseekolonialismus vornehmen. Obwohl das Humboldt-Forum nach seiner Gründung «Kolonialismus und Kolonialität» zum «Kernthema» des eigenen Programms erhoben hatte und nach eigenem Bekunden «die Komplexität der kolonialen Geschichte(n) mit ihren Verwicklungen in die Gegenwart» sichtbar machen will, scheinen die Entscheidungsträger am europäischen Binnenkolonialismus sowie am antislawischen Rassismus in seinen unterschiedlichen Ausprägungen kein Interesse zu haben. Schriebe man Preußen systematisch in die europäische Geschichte des Imperialismus ein, würde deutlich, wie viele multiple Verbindungslinien zwischen der binneneuropäischen Imperialmacht Preußen und der späteren außereuropäischen Kolonialmacht des Deutschen Reichs existieren. Dieser Konnex lässt sich über die Geschichte des Berliner Schlosses erzählen. Es steht für die Verbindung von Macht und Politik der Hohenzollern, die konsequent über Jahrhunderte eine stark expansive Politik gegenüber ihren polnischen Nachbarn beförderten.

Der bis heute so beliebte König Friedrich II. charakterisierte immer wieder „race de Polonais“ als „Barben, ähnlich den Irokesen und Kariben“. Mit dieser Haltung gelang es dem preußischen König, die Annexion der polnischen Territorien infolge der Teilungen europaweit als zivilisatorische Mission zu legitimieren, von der die Betroffenen letztendlich nur profitieren würden. Die königliche Bezeichnung der Polinnen und Polen als „rückständigste Nation Europas“, denen erst die Zivilisation qua Kolonisation gebracht werden müsse, sickerte schnell von oben nach unten durch und prägte das Polenbild in Preußen nachhaltig. Die Ausgrenzung und Diffamierung der polnischsprachigen Bevölkerung entwickelten sich ab 1871 im Kaiserreich beinahe zur Forderung der Stunde. Folgerichtig wurden das preußische Teilungsgebiet mit seinem großen polnischen Bevölkerungsanteil zu einer „Ersatzkolonie“ des Deutschen Reiches, wo das deutsch-polnische Verhältnis mit kolonialen Assoziationen überformt, kulturelle Differenzen hergestellt und koloniale Praktiken erprobt wurden. Auf den Punkt brachte es der deutsche Kaiser Wilhelm II., als er feststellte, „die polnischen Mitbürger“ dürfen nur dann auf seine „Gnade und Teilnahme“ rechnen, wenn „sie sich unbedingt als preußische Unterthanen fühlen“.

Einer der beiden Namensgeber des Forums war anderer Meinung. Zeit seines Lebens setzte sich Alexander von Humboldt für die polnische Unabhängigkeit ein und pflegte intensive Kontakte zu polnischen Gelehrten. In seiner Korrespondenz mit Karl August Varnhagen weist er auf den unmittelbaren Zusammenhang zwischen antiliberalen und antikonstitutionellen Kräften und antisemitischen und polenfeindlichen Tendenzen in Preußen hin. Just auf dem Schlossplatz kam es auch zur größten Solidaritätsaktion mit Polen in der preußischen Geschichte, als sich 1848 Tausende von Berliner*innen versammelten, um die Freilassung der polnischen Aufständischen zu bewirken, die im Völkerfrühling für ein souveränes Polen eintreten wollten. Im Berliner Schloss der Hohenzollern wurden über ein Jahrhundert lang Entscheidungen getroffen, die gegen jede Form der Selbstbestimmung von Polen gerichtet waren. Der Grad der Durchdringung polnischer und preußischer Geschichte ist bis heute hoch. Immerhin lag das historische Preußen zu 80 Prozent auf dem Territorium der heutigen Republik Polen. Polinnen und Polen machten mit über zehn Prozent die größte Minderheit in Preußen aus. Damit war Berlin auch Hauptstadt für Millionen von polnischen Untertanen.

Ein postpreußischer Blick nach Osten legt eine Geschichte Preußens als historisches Zuwanderungsland frei. Und er betrachtet diese historische Heterogenität und die Versuche einer staatlich gesteuerten Homogenisierung als Vorgeschichte von Widersprüchen, die bis heute den Umgang mit Vielfalt prägen. Begreift man die Modernisierung und Homogenisierung Preußens als sich gegenseitig bedingende Prozesse, die lange vor 1871 begonnen hatten und nach der Reichsgründung in Preußen fortgesetzt wurden, um von dort auf das gesamte Kaiserreich auszustrahlen, wird deutlich, dass die innere Leere des Humboldt-Forums auch darauf beruht, dass in seinem Konzept der Welt der eigene Osten Preußens und damit die mit ihm verbundene Geschichte der inneren Kolonisation nicht vorkommen. Durch die bis in die Gegenwart reichende Gleichsetzung von Preußen mit einem deutschsprachigen, evangelischen und im Kern deutschen Berlin-Brandenburg bleiben die strukturellen Differenzen, Mehrdeutigkeiten und Ungewissheiten der Geschichten einzelner preußischer Regionen gänzlich ausgeblendet. Dieses Verdrängen bedingt bis heute die Unsichtbarkeit der Vielfalt eines katholischen, jüdischen, slawischsprachigen, polnischen, wendischen, sorbischen und litauischen Preußens, die prägend für das Humboldt Forum ist.

Felix Ackermann lehrt als Professor für Public History an der Fernuniversität in Hagen. Die Kulturwissenschaftlerin Agnieszka Pufelska forscht seit September als Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin.

Der Text ist ursprünglich im DOM magazin 17 erschienen, das auf der Webseite der Initiative Schlossaneignung kostenfrei zur Verfügung gestellt wird.

Die Petition der Initiative Schlossaneignung kann hier mitgezeichnet werden.

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