Schön war das nicht, mitanzusehen wie ausgerechnet die Partei als die Siegerin aus dem heutigen Wahlabend hervorging, die aus Finanzusammenbruch und Wirtschaftskrise, nicht einmal vorgibt, gelernt zu haben. Trotzdem war es gut so. Das jedenfalls ist das Fazit meiner persönlichen nächtlichen Betrachtungen für den Morgen danach.
Eine Beleidigung von gesundem Menschenverstand und Anstand nicht allein links von der Mitte! Diese zur Hälfte taktische Wahl, zur anderen Hälfte aber dreiste Verdrängung, wird der neuen Regierung als Markenzeichen anhängen. Den von vornherein erwarteten steuerlichen Wahlbetrug tatsächlich zu begehen und allein durch Härten gegen das nicht länger in der Regierung vertretene untere Drittel der Gesellschaft abmildern zu können, zieht klare Fronten.
Das kalte Herz, das die neue Mehrheit zustande brachte, schreit schon am Wahlabend nach seiner moralischen Alternative. In den nächsten vier Jahre wird uns mit hoher Wahrscheinlichkeit vorgeführt, wie Wachstums-Fetischismus und Privatisierung Wohlstand und Zusammenhalt einer Gesellschaft beschädigt, die doch sinnvoller Weise nach Wegen suchen müsste, gemeinsam mit weniger besser zurecht zu kommen.
Demokratie-hygienisch war der Wahlausgang von größtem Wert. Jeder wusste, dass die bis gestern real existierende linke Mehrheit nur in der Opposition auch realisierbar wird. Dort versammelt sie sich nun, insgesamt ja nur knapp geschlagen, in der gemeinsamen Verantwortung, eine mehrheitlich wünschenswerte Alternative zu formulieren und glaubwürdig zu machen.
Das historische Versäumnis von Schröder, Lafontaine, Fischer und Trittin, vor ihrem Wahlsieg 98 ein „rot-grünes Projekt“ zu präsentieren, machte später die Agenda 2010 neben dem Atomausstieg zum einzigen programmatischen Vermächtnis von Rot-Grün. Sie wurde von einer grossen Koalition umgesetzt, raubte bei der Gelegenheit der SPD ihre soziale Breite und ermöglichte eine Linke wie wir sie heute kennen. Dieses Versäumnis rächt sich heute hoffentlich zum letzten Mal.
„Gehe direkt über Los, ziehe nicht 4000 Mark ein“ lautet die Ereigniskarte des heutigen Abends für rot-rot-grün und ganz besonders für die SPD. Bei dem neuen Spiel kann Oskar Lafontaine als tragischer Vollender oder als ewiger Verhinderer von der Bühne gehen, Schröder-Macher Steinmeier als klug moderierender oder verbittert isolierender SPD-Erneuerer, Cem Özdemir als Obamale oder Mitläufer und es gibt noch reichlich Raum für manche neue Rolle. Sicher ist nur, dass einer rot-rot-grünen Regierung kein altes Mitglied der rot-grünen Regierung mehr angehören wird. Sie kommt überhaupt erst zustande, wenn eine neue Generation den Laden so übernimmt, dass die Milieus dieser Parteien wieder, genau genommen erstmals, eine gemeinsame Vision vertreten können.
In lebensentscheidenden Fragen wie Atomkraft und erneuerbaren Energien, Industrialisierung der Landwirtschaft und Ernährung u.a. mit Gentechnik, Klimapolitik und globaler Gerechtigkeit und natürlich im sozialen Verteilungskampf stehen die Zeichen jetzt auf Kampf und breiter Auseinandersetzung, v.a auch ausserhalb des Parlamentes. Im politischen Geschäft aber werden ehrliche Antworten gefragt sein, die den absehbaren Notlügen in kommenden Zeiten der Desillusionierung mehr als bekmesserische Vorwürfe entgegensetzen. Gefragt sind Entwürfe, die eine neue wirtschaftliche und politische Rolle Deutschlands in der Welt zu denken wagen. Gefragt ist vor allem ein neues, realistisches Wohlstandsmodell für unsere Gesellschaft, das auf Gemeinwohl und Gemeingüter ausgerichtet, ökologische Bescheidenheit, soziale und Generationengerechtigkeit, Sicherheit und ein besseres (nicht nur nicht-schlechteres) Leben verspricht, einfach mehr Spass, Glück und Erfüllung also. Die Zutaten liegen auf der Hand, die Notwendigkeiten und Perspektiven sind bekannt und müssen auch nicht aus Gründen des Machterhalts geleugnet werden.
Like it or not: Die schwarzgelbe Wahl von heute war der unvermeidbare Weckruf für eine mehr Demokratie wagende Mehrheit links von der Mitte. Wir gehen aufregenden Zeiten entgegen.