vonSchröder & Kalender 13.12.2006

Schröder & Kalender

Seit 2006 bloggen Schröder und Kalender nach dem Motto: Eine Ansicht, die nicht befremdet, ist falsch.

Mehr über diesen Blog

Der Bär flattert in nordöstlicher Richtung.
Natalja-1.jpg

Heute erhielten wir einen Brief von unserer Freundin Natalja Kyaw:

Liebe Barbara, lieber Jörg! Heute konnte ich mich einfach nicht konzentrieren, dabei ist dann das hier entstanden: Aufzeichnungen einer übernächtigten Historikerin … Das Archiv, in dem ich meine Dezembertage verbringe, befindet sich im Gebäude der ehemaligen Universitätsbibliothek und ist so ziemlich das Beste, was Zagreb im Stil der Sezession zu bieten hat. Innen buhlen »exzentrische Ornamente« (so der Rough Guide) um die Aufmerksamkeit des Betrachters. Mir gefallen die liebevoll gestalteten Details, die Messinglämpchen mit den Ohrringen aus gebogenem Messingdraht und mattierten Weißglas, die bunten, handgefertigten Fensterscheiben, die Wandvertäfelung aus dunkelgebeiztem Eichenholz, die schweren Kronleuchter aus geschliffenem Glas … Nur darf man nicht zu nah an der Türe sitzen, sonst verkühlt man sich; die Decke schwebt hoch droben im Himmel, das kann kein Mensch heizen.

Im Herzen des Lesesaals thront Boris: Hornbrille mit dicken Gläsern, verwilderte Koteletten, ungepflegtes, halblanges Haar, schwarze Lederjacke, bleich im Gesicht. Kein Alter. In Ausnahmefällen stürzt Boris wie ein Habicht von seinem Sitz auf einen Nutzer herab, der gerade im Begriff ist ein Dokument schlecht zu behandeln. Meistens aber sitzt Boris da und schläft. Es stört ihn auch nicht, wenn das Handy klingelt, und irgend eines klingelt immer. Weshalb sollte er einschreiten? Ja, warum denn eigentlich?! Warum haben wir Deutschen für alles Regeln, Ordnungen, Gesetze? Warum schreiben wir andern so gerne vor, was sie tun und lassen sollen? »Ihr seid alle Polizisten! Warum seid ihr bloß alle Polizisten?« hat einmal ein deutscher Schriftsteller frustriert gerufen, und den hat man zur Strafe vergessen. Wir sind alle gute Polizisten, die Jugos überhaupt nicht. Man ärgert sich zwar, zum Beispiel wenn der Gehweg derart zugeparkt ist, daß man sich als Fußgänger zwischen Hauswand und Motorhaube durchquetschen muß, aber man ist doch froh, wenn man endlich mal die Uniform ausziehen kann.

Zurück zu unserem Boris. Wenn man Boris etwas fragt, versteht er nicht gleich. Nicht etwa, weil ich mich so ungeschickt ausdrücken würde; nein, sondern weil er einfach noch schläft und nicht antizipieren kann, was die Leute von ihm wollen. Wenn er gute Laune hat, macht er mir ein Kompliment: »Mir ist aufgefallen, daß deutsche Frauen immer lächeln. Die unseren lächeln nie. Ihr Lachen ist wunderschön.« Oder, gerade aus dem Tiefschlaf erwacht: »Sie sind heute sehr elegant. Doch, doch … ist mir gleich aufgefallen.«

Der alte Intellektuelle ist ein Mann mit schwarzer Hornbrille, ähnlich der von Boris, aber nicht ganz so stark. Er hat ein vom Rauchen geteertes Gesicht mit tiefen Furchen; seine gesamte Erscheinung ist staubig, von den staubigen Büchern in seiner Wohnung und dem Berg jahrhundertealter Schriften, in denen er den ganzen Tag wühlt. Natürlich hat er KEINEN Laptop! Entweder, weil er es gewohnt ist, von Hand zu schreiben, oder weil er sich keinen leisten kann. Oder beides. Er trägt Kordhosen und einen altmodischen Wollpullover, wie alle Intellektuellen der vorletzten Generation. Derjenigen Generation, die noch wirklich etwas weiß, die Generation vor der Generation, der man einredete, es genüge zu wissen, wo es steht. Intellektuelle dieses Schlags findet man besonders häufig in ehemals kommunistischen Ländern. Sie mußten die ihnen gesetzten Grenzen gedanklich transzendieren, ihre Reisen fanden zuhause auf dem Sofa statt und brachten sie weiter als uns erbärmliche Grünschnäbel, die wir jedes Wochenende mit einem Billigflieger woanders hinjetten. Mit so einem würde man gern einen Kaffee trinken gehen, der hätte ganze Bände zu erzählen. DER DENKT SELBST. Aber für den bin ich nur eine junge Frau, kein Gesprächspartner. Und schon gleich gar nicht ein interessanter …

So, für Mister Hektisch, die unangenehme Stimme, den jungen Spund von der CU, den Einarmigen und seinen Trabanten, Prof. Goldstein und seine Studierenden ist hier leider kein Platz mehr. Aber ich denke, Ihr habt den Eindruck von meinem Leben im Archiv bekommen …
Alles Liebe und Gute von Eurer Natalja

(NK)

Anzeige

Wenn dir der Artikel gefallen hat, dann teile ihn über Facebook oder Twitter. Falls du was zu sagen hast, freuen wir uns über Kommentare

https://blogs.taz.de/schroederkalender/2006/12/13/ein-brief-aus-zagreb/

aktuell auf taz.de

kommentare

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert