vonSchröder & Kalender 23.12.2006

Schröder & Kalender

Seit 2006 bloggen Schröder und Kalender nach dem Motto: Eine Ansicht, die nicht befremdet, ist falsch.

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Der Bär flattert in nordöstlicher Richtung.
Uns so geht’s weiter in der Ulmer Höh: Nur Rudi, die Boxernase, arbeitete an den Werktagen in einer Gefängniswerkstatt, wir nicht, unsere Strafe war zu kurz, also latschte Hansi auf und ab, brabbelte ohne Unterlaß. Zuweilen schmiß ich mit den Filzpantinen nach ihm, dann duckte er sich angstvoll, schwieg eine Weile. Ich konnte wieder in Kenneth Roberts’ ›Nordwestpassage‹ lesen, die ich Zeile für Zeile studierte, von denen mir nicht eine erinnerlich ist. Ich las auch in der Bibel; wenn es dir schlecht geht, ist das ›Buch Hiob‹ immer eine beruhigende Lektüre. Die Hofgänge waren eine Abwechslung – »Raustreten, Hofgang!« Lärmender Abmarsch auf eisernen Treppenanlagen und immer im Kreis marschieren, wie van Gogh es gemalt hat. Natürlich wurde getuschelt dabei wie in den dreißig Filmen, die du darüber gesehen hast. Im Abstand von einem Meter tapern die Gefangenen auf dem Hof herum, ein absurdes System, alle reden trotz des Sprechverbots. Wozu also diese Regel? Zunächst zu dem Zweck, eben etwas zu verbieten, das reicht als erste Stufe der Deklassierung. Setzt du dich über ein Verbot hinweg, haben Maschores oder Gefängnisverwaltung jederzeit die Möglichkeit, dich bei irgend etwas zu ertappen, können dir für alles eine Strafe aufbrummen, dich sogar isolieren. Womit die RAF-Leute in extremer Weise gequält werden, und das ist keine Übertreibung oder Ideologie, sondern wahr. Schon der Knastrologe im normalen Strafvollzug wird ziemlich gepiesackt, und wenn der Staat an einer staatsfeindlichen Gruppe Rache nehmen will, schafft er das leicht.

Für mich war dieser harmlose Knast schon grauenhaft genug. Eigentlich hätte ich mich doch zurücklehnen können: Na und? Habe ich halt nichts zu tun, kann mich mal ausruhen. Aber so läuft es nicht. Jeder halbwegs gesunde Menschenverstand kriegt da drinnen einen Knall. Und das soll so sein, diese Herabwürdigungen Stück für Stück gehören zum System, sonst hätte das Ganze ja keinen Sinn. Ich konnte die Selbstverständlichkeit, mit der andere Gefangene beim Hofgang tuschelten: »Hab nur ein halbes Jahr. Pöhhh! Sitze ich auf einer Backe ab!«, nicht verstehen. Wie gehen die mit ihrem Leben um? Ja, ich weiß, Gewohnheit und Lethargie: »Sommer, Winter, Sommer, Winter, Sommer, Winter … Was regst du dich auf, was sind schon zehn Jahre?« Das sagte der Gefängniswärter zu Joseph Melzer, als der von der Stalin-Justiz zu Zwangsarbeit in Sibirien verurteilt worden war. Keine Ahnung, wie lange es dauert, bis man sich an solch eine Gewohnheit gewöhnt hat, ich möchte es lieber nicht ausprobieren.

Was die Raucherei angeht, hatte ich die beste Zeit erwischt, nur zwei Tage war ich auf den klebrigen, verteerten Kippentabak gesetzt, denn am 24. Dezember nachmittags bekam ich das vorher beantragte Weihnachtspaket von meiner Mutter, Rudi, der Klempner, eins von der Freundin. Jetzt hatten wir Zigaretten, Leberwurst, Schinken, Ölsardinen, Spekulatius, Marzipan, Nüsse, Äpfel. Heiligabend um achtzehn Uhr sprang der Knastlautsprecher an und heulte »Stihille Nacht …«. Der Gefängnispfarrer brachte in jede Zelle einen Spruch, Tannenzweig mit Kerze sowie eine Tüte mit Äpfeln, Nüssen, Lebkuchen, den ›bunten Teller‹ für jeden Gefangenen. Rudi und ich teilten alles mit Hansi, und wir waren weihnachtlich gerührt über unsere Gutmütigkeit, ließen uns aber nichts anmerken. Zwischen den Jahren gab es dann noch Einkauf, und am ersten Weihnachtsfeiertag fand vormittags ein Gottesdienst, nachmittags eine Kinoveranstaltung statt, beides in der Gefängniskirche. An allen drei Festtagen von morgens um acht bis zum Lichtausmachen um einundzwanzig Uhr dudelten schrille Kinderchöre in Endlosschleife aus den Lautsprechern: »Ihr Kinderlein, kommet …« Fernsehen gab es noch nicht, nein, Weihnachten wurde noch als Gemeinschaftserlebnis in der Kirche gefeiert.

Bei der Filmvorführung begann das Getuschel und Getausche in den Bänken, wenn das Licht ausging. Die Kassiber wanderten, die Lullen, Päckchen mit Nescafé, der damaligen Knastdroge, und die Fläschchen mit selbstgebrautem Rosinenschnaps, einem finalen Murmelbetäuber. Im Gang patrouillierten die Maschores, dumpf, taten so, als ob sie aufpaßten, aber tatsächlich waren sie mehr daran interessiert, ob sich Prinzessin Audrey Hepburn und ihr Reporter mit der Vespa in ›Ein Herz und eine Krone‹ auch kriegten. Ein wunderbarer Film, konnte man sich später unter der Decke einen drauf runterholen, auf das charmante langhalsige Knochengestell. Im Knast wird man bescheiden.

Ja, Frauen! Zur Vormittagsandacht sang der gemischte Chor einer Sozialgruppe, die Mädchen in schwarzen Röcken und hochgeschlossenen weißen Blusen strahlten entrückt die Verbrechergemeinde an, und die strahlte schmutzige Gedanken zurück. Du fühltest dich wie bei ›Johnny Cash at San Quentin‹. Apropos ›A Boy Named Sue‹: Kaum hatte ich das Gefängnis betreten, war ich schon auf Entzug, obwohl sich dir doch in der Freiheit auch nicht jeden Tag eine Frau hingibt. Nichts da mit Hängolin morgens im Kaffee, es herrscht eine aufgereizte Atmosphäre, und die alten Knackis kaprizieren sich notgedrungen auf Sissis. Das hat Peter Kuper schön beschrieben in seinem ›Hamlet‹. Sobald die Buben dann rauskommen, betätigen sie sich wieder ausschließlich heterosexuell. Allerdings wird einer, der mal eingefahren ist, nie mehr die Illusion von sich hegen, streng heterosexuell orientiert zu sein.

Ausreichend zu rauchen, Kino, Frauenchor und Weihnachtslieder vom Band, eine Zeit mit Glitter und Privilegien, herrliche Festtage, wenn der Moralische nicht grassiert hätte. Und der wird mit Heulen und Zähneklappern abgearbeitet; nicht ungefährlich, weil er so schnell umschlagen kann in Bambule, darauf sind die Maschores an Weihnachten vorbereitet. In den alten Knästen wie in der Ulmer Höh war über der Zellentür unter der Decke ein quadratisches Luftloch von zehn mal zehn Zentimetern in der Mauer zum Innentrakt, das diente zur Entlüftung, damit der Gestank vom Bello abzog. Wenn drei Leute in der Zelle sitzen und jeder am Tag einmal scheißt, das ist kein Vergnügen. In den Zeiten davor war es noch schlimmer, denn der stinkende Kübel wurde nur einmal täglich ausgeleert. Wir hatten bereits Wasserklosetts, durch die man sich auch unterhalten konnte. Hansi sprach so mit seinem Kumpan, bis wir es ihm verboten. Er legte die Schlafdecke zusammengefaltet auf die Kloschüssel, ließ sich mit dem Hintern auf die Decke fallen und pumpte mit der so komprimierten Luft – wffft – wffft – das Wasser aus dem Toilettenknie. Wenn dein Gesprächspartner unter oder über dir das gleiche tut, hast du ungeachtet des Gestanks die perfekte Gegensprechanlage. Ich konnte drei Tage lang nicht scheißen aus Scham vor den anderen, aber das gibt sich. Natürlich rennst du an die Tür, wenn jemand einen besonders stinkenden Schiß produziert, und versuchst durch den Spalt zu atmen, um den Gestank nicht ertragen zu müssen, aber das ist nicht mehr der Ekel vor der Defäkation anderer an sich, die Schamwände fallen schneller, als du denkst.

Der Entzug von Orten und Menschen, von Scham, Privatheit, Bewegungsfreiheit lassen zur Weihnachtszeit auch den abgebrühtesten Knacki nicht kalt, es wird Zeit für die traditionelle Bambule. Sobald am Heiligen Abend die letzte Ros’ aus dem Tonband entsprungen ist und das Licht ausgeht, hallen die ersten schauerlichen »Ich will rauuus! Ich will rauuus!« durch den Bau. Jetzt explodieren Böller. Die Gefangenen zerren die Pritsche vor die Tür, den Hocker drauf, klammern sich an das Entlüftungsloch und schreien durch die Öffnung »Ich will rauuus!«. Wenn zwanzig Leute so ihr Wolfsgeheul in einen dreistöckigen Trakt brüllen, dann wird dir anders, dazu die Bängs: Mit einiger Übung kannst du die Seegrasmatratze so gegen das Ventilationsloch knallen, daß ein wirklich erschreckender Explosionsbums entsteht, durch die komprimierte Luft wird ein Knall erzeugt wie ein Böllerschuß. Der Klempner führte mir das vor, es funktionierte, ich wollte nun wissen, ob ich es auch kann, so wie man einen Stein über einen See hüpfen läßt. Ich mußte mich aber beeilen, denn Rudi hatte mir erklärt: »Du mußt die Matratze schnell wieder hinlegen. Es sind Rollkommandos unterwegs, die reißen die Tür auf, und gnade Gott, sie erwischen einen Schreier, der auf dem Hocker steht, oder einen mit der Matratze in den Händen, dann wird er mit Gummiknüppeln bis zur Einzelhaftzelle geprügelt.« Als dann Schmerzensschreie durch den Trakt hallten, hörten die Böller und die »Ich will rauuus!«-Schreie schlagartig auf, die Bambule war zu Ende.

Zu Silvester erließen sie die übliche Weihnachtsamnestie. Jeder, dessen Strafe zwölf Tage nach Neujahr endete, durfte bereits am ersten Januar raus, darunter fiel auch ich, so daß ich von vierzehn Tagen nur zehn abzusitzen hatte. Die aber waren prall gefüllt mit allen Höhepunkten einer Knastkreuzfahrt, ich hatte mir mit sicherem Instinkt die beste Saison ausgesucht. Am 31. Dezember wurde ich in eine Entlassungszelle verlegt, war zunächst allein, genoß den Luxus eines eigenen Bellos, sogar fließendes Wasser gab es, in der Strafzelle wusch man sich in Waschschüsseln. Ich hatte meine Privatkleidung wieder und die Reisetasche, um sieben Uhr am nächsten Morgen sollte ich entlassen werden. Jetzt ging die Zellentür auf, und ein Mann mit schwarzen, wellig pomadisierten Haaren, elegantem Anzug kam herein.

Mein neuer Zellengenosse tigerte stumm und heftig auf und ab, sagte keinen Ton, nur die Backenmuskeln malmten und die Augen blitzten. Ich ließ ihn in Ruhe, schließlich setzte er sich apathisch auf seine Pritsche, stöhnte leise: »Herr der Welt«, guckte mich an und begann monoton auf die »deutschen Verbrecher« zu schimpfen. Vermutlich erwartete er von mir keine Reaktion, aber ich fragte ihn doch, was los sei. Seine Freundin habe ihn aus Rache angezeigt, er sei professioneller Spieler, was nicht stimme, weshalb man ihn morgen nach Israel abschieben wolle. Man hatte ihm nicht erlaubt, einen Anwalt anzurufen, niemand von seinen Freunden, von der jüdischen Gemeinde, keiner wußte also, wo er war. Er zeigte mir die Nummer auf seinem Arm, erzählte, daß er mit siebzehn über ein DP-Lager nach Israel gekommen sei. Jetzt müsse er unbedingt in Deutschland bleiben, weil er gerade mit einem Partner eine Immobilienfirma gegründet habe und alle angebahnten Geschäfte ins Wasser fielen, wenn er mit dem ›Unerwünscht‹-Vermerk abgeschoben würde. Wir redeten bis zwölf, beobachteten das Silvesterfeuerwerk durch das Zellenfenster. Dann fragte mich Fernandez, ob ich ihm wohl einen Gefallen tun könnte, da ich doch am frühen Morgen entlassen würde, und gab mir eine Adresse am Wehrhahn, dort wohnte der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde. Ihm sollte ich nur sagen, daß er im Gefängnis in der Ulmer Straße im Abschiebehaft sitze. Der Mann würde sich sofort um alles Notwendige kümmern. Das versprach ich Fernandez. Kurz nach sieben schloß sich das Eisentor hinter mir. Schräg gegenüber war eine Straßenbahnhaltestelle, der Schaffner musterte mich verstohlen abschätzig, vielleicht bildete ich es mir nur ein, du meinst, jeder sieht es dir an, daß du gerade entlassen worden bist. Dieses Klischee gehört mit zu einer Knastgeschichte, weil es eben stimmt. Die Bahn rumpelte ohne sonstige Fahrgäste die ziemlich lange Strecke durch eine ausgestorbene Stadt im matten Licht eines kalten Neujahrsmorgens. Vom Hofgarten wanderte ich bis zum Wehrhahn, kurz vor der Eisenbahnüberführung fand ich die Adresse. Ich schätze mal, es war so zwanzig vor acht. Nachdem ich etwa fünf Minuten Sturm geklingelt hatte, ratschte eine Kette ein, die Tür ging einen Spalt weit auf, und ich sah das graue, verschlafene Gesicht einer Frau von vielleicht vierzig Jahren in einem geblümten Morgenrock. »Was wollen Sie?!« raunzte sie, »was ist das für eine Störung?!« »Tut mir leid, ich komme gerade aus dem Gefängnis und muß Ihnen dringend von Herrn Fernandez ausrichten …« Etwas Leben kam in ihre schlaffen Züge, aber die Tür öffnete sie nicht, die Kette blieb vorgelegt. »Ja gut, wir werden sofort etwas unternehmen.« Eine Sekunde lang schenkte sie mir noch einen verächtlichen Blick, der nicht der Botschaft galt, sondern dem asozialen Überbringer, dann, bong!, war die Tür zu. Ich fand das so ungerecht, dachte: Du blöde, blöde Schnecke! Ich rette Fernandez, und du machst mich mit einem Blick zum Verbrecher! Meine Botschaft nahm sie vermutlich ernst, denn Fernandez ist nicht abgeschoben worden. Woher ich weiß, daß der Mann keinen Orangensaftstand in Haifa betreibt und die morgendliche Störung der Neujahrsruhe dieser Wehrhahn-Frau nicht vergebens war? Das erfuhr ich erst vor ein paar Jahren in Bochum und erzähle es ein anderes Mal.

(BK / JS)

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