Der Bär flattert heute nicht.
Eines Nachmittags, zu Beginn unseres Landlebens im Allgäu, standen drei Leute vor der Tür: eine großbusige rotblonde Frau, Mitte Vierzig, ein dunkelhaariger bebrillter Mann mit Vollbart, ebenso alt, sowie ein weißblonder Teenager. Die ältere Walküre kam gleich zur Sache: »Hallo, wir sind die Bartels und wollen euch kennenlernen.« Das hat man ja nicht so gern, wenn plötzlich Unbekannte klingeln und reinwollen, das kommt gleich nach den Drückern. Also erwiderte ich höflich: »Wir möchten niemand kennenlernen, sondern weiterarbeiten.« Aber die Frau ließ sich nicht beirren: »Wir haben ein Haus im Oberdorf gekauft und gehen auch noch zu Mina Kindl und Dick Städtler.« Da ahnte ich, woher der Wind wehte – alte Linke besuchen alte Linke – und erwiderte: »Wenn ihr zu Mina und Dick Städtler wollt, müßt ihr die Bahnhofstraße ein Stück runtergehen, links ist der Postweg, da wohnen sie.« Damit hatte ich die Leute erst mal vom Acker, aber die waren lange genug in der Partei gewesen, wie wir später erfuhren, also hartgesotten, und gaben nicht so schnell auf.
Sie dachten sich eine Geste aus, um unsere steinernen Herzen zu erweichen. Am 24. Dezember war zunächst alles so verlaufen wie immer. Seitdem Barbara und ich zusammenleben, gehen wir in den Wald Tannenzweige schneiden, um diese in eine große Jugendstilvase zu stellen. Als mythophile Agnostiker stecken wir zwölf Kerzen auf die Zweige und schmücken den Strauß mit bunten Kugeln und geblasenen Vögeln. An diesem Heiligabend machten wir uns wie immer nachmittags mit Astzwicken bewaffnet auf den Weg und fanden auf einem Fichtenschlag massenhaft frisches Reisig. Beim Zusammensuchen der schönsten Zweige lag da plötzlich auch der Wipfel einer Fichte. Wie durch ein Wunder war der beim Fällen nicht zerbrochen. Diese Baumkrone war so ebenmäßig gewachsen, weil sie am Wegrand gestanden und die anderen Fichten überragt hatte. Ihr Grün war fett und bläulich, so dicht, wie du es auf keinem Markt finden kannst. Freudig holten wir den Wagen und luden den Baum ein. Zu Hause keilte ich ihn ab und setzte ihn in den Ständer. Der Wipfel erreichte die Deckenhöhe des Raumes, wir stellten ihn in den Erker des Salons und machten das, was wir jahrelang abgelehnt hatten: Wir schmückten diesen prächtigen Weihnachtsbaum mit all den Kugeln, Vögeln und Anhängern, die wir hatten.
Die Gans war geschoben, das Syllabub wartete im Kühlschrank, da machte es »Dingdong!« an der Haustür, und wer steht da im klirrenden Frost in der Loggia? Die Familie Bartel. Die Tochter trug eine Krone aus Goldpapier und sah aus wie ein Rauschgoldengel. Sie brauchte sich dafür gar nicht zu verkleiden mit ihrer weißen Naturkrause. Allerdings hatte sie für ein Christkind einen ziemlich imposanten Busen. Dieser Engel Helga spielte Saxophon, ihre Mutter und ein junger Afrikaner sangen: »Ihr Kinderlein kommet …« Auch Karin und Salif trugen Goldpapierkronen. Manfred Bartel begleitete die etwas unorthodoxen Heiligen Drei Könige auf der Tuba. Zuerst dieser Überraschungswipfel, dann auch noch Weihnachtssänger, wir waren gerührt. Bei Rotweinkuchen und Plätzchen erfuhren wir, daß Salif der Freund von Helga sei. Eine Stunde saßen wir mit ihnen am Tisch, sie spekulierten schon auf die Gans, die ihren Duft im Salon verbreitete. Aber so weit ging unsere Rührung nun doch wieder nicht, also luden wir sie zum zweiten Weihnachtstag ein.
Bei diesem Essen erfuhren wir, daß die Familie in Nymphenburg eine Eigentumswohnung besitzt. Karin war nicht nur in der DKP gewesen, sondern hatte in Würzburg ein ziemliches Vermögen geerbt, konnte sich die teure Bude in einem der teuersten Stadtteile Münchens leisten. Das Anwesen in Leeder hatten sie aus steuerlichen Gründen gekauft und nutzten es als Wochenendhaus. Karin war Psychologieprofessorin an einer Fachhochschule, dort rutschte sie auf der DKP-Schiene rein. Ganze Seilschaften haben sich ja in den Jahren der Bewegung gegenseitig zu Professoren gemacht. Manfred hatte es nur zum Studienrat für Kunst und Werken gebracht, nebenbei spielte er Banjo in einer Jazzband. Der Rauschgoldengel büffelte fürs Abitur. Ihr Freund Salif stammte aus Mali und studierte in München Betriebswirtschaft. Ein Junge aus wohlhabendem Hause, der sich ein Appartement in München leisten konnte und auch sonst keine Geld- oder Aufenthaltsprobleme hatte.
Die Bartels hatten sich vom Sozialismus abgewandt; nachdem die DDR und die Sowjetunion untergegangen waren, schwenkten sie um ins konservative Lager. Nichtsdestominder blieben sie bei der linken – nein, der ehemals linken – Seilschaft nach dem Motto: Gemeinsame Vergangenheit verbindet. Ihr neuer Freund Städtler brüstete sich sogar einmal, daß er seine blauen Marx-Engels-Ausgaben verbrannt habe. »Damit will ich nichts mehr zu tun haben«, erklärte er als frischgebackener Lebemann, »ich erziehe mein Kind nicht zum Marxismus, sondern zum Hedonismus!« Das Komische ist: Diese ehemaligen Genossen halten auch als Wendehälse zusammen wie Pech und Schwefel. Zu dieser Liga gehörten offensichtlich die Bartels, und weil sie sich bei ihrem Weihnachtsbesuch als Renegaten zu erkennen gaben, hatten wir keine Lust mehr, sie zu treffen.
Im darauffolgenden Sommer rief Gerhard Zwerenz an: »Ich bin demnächst in München und möchte euch dann besuchen.« Nach dem Kaffee fuhren wir mit ihm zu den Weldener Weihern, die liegen in einem für das Gebiet der Voralpen untypischen Mischwald. Die Fugger legten hier eine Ideallandschaft an, aus den drei Teichen bezogen sie ihre Forellen und Saiblinge. Nur diese drei Weiher blieben von der einstmals großen Anlage der Augsburger Handelsherren übrig, ihr Lustschlößchen wurde geschleift. Auf einem gewundenen Weg spazierten wir am Wasser entlang und dachten an nichts Böses, da kam uns unter den Eichen eine Gruppe entgegen, als ersten erkannte ich den Afrikaner Salif mit seiner blassen Freundin Helga, ihnen folgten die Eltern mit einer mir unbekannten Frau. Sie liefen direkt auf uns zu, und obwohl wir noch außer Hörweite waren, konnte man förmlich von ihren Gesichtern ablesen, was sie redeten: »Ist das nicht der Zwerenz?« »Ja, das muß der Zwerenz sein!«
Die alten Linken waren aus dem Häuschen, Manfred Bartel zückte seine Nikon, die hatte der Kunst-und-Werken-Studienrat immer dabei. Deshalb gibt es so viele Fotos von mir in Gartenlumpen wie Charles Bukowski mit dem Rasenmäher, und jedesmal trage ich den zerknautschten Montecristihut. All diese Schnappschüsse hat Manfred Bartel auf dem Gewissen, wenn er unangemeldet vorbeikam und mich, ohne zu fragen, bei der Gartenarbeit erwischte. Er sammelte Fotos von Prominenten für einen Bildband, wie wir bei dieser Gelegenheit erfuhren. Deshalb wollte er unbedingt ein Gruppenfoto mit Zwerenz: links ich mit Panamahut, dann die weißblonde Helga und ihr schwarzer Freund Salif, im Zentrum prominent Gerhard Zwerenz, daneben Bartels Bekannte sowie die Psychologin Karin und neben ihr Barbara. So stehen wir dumpf auf dem Waldweg, und alle lachen fröhlich verkrampft in die Kamera.
Die Aufregung der Bartel-Familie ist verständlich, schließlich ist Gerhard Zwerenz bei den Altlinken eine Galionsfigur. Von der Stasi in Leipzig verfolgt, 1957 von der Partei ausgeschlossen, floh der Bloch-Schüler in den Westen. Dort wurde Gerhard aber kein Renegat, sondern blieb ein libertärer Linker und bekämpfte die Stalinisten in der DDR, die wiederum ihn als Trotzkisten verunglimpften. Jahrzehntelang hatte er Einreiseverbot in die DDR und die Sowjetunion. Trotzdem ging er von 1994 bis 1998 als parteiloser Abgeordneter für die PDS in den Bundestag und arbeitete dort wie Sisyphus unter dem höhnischen Gelächter der Parlamentarier jeglicher Couleur. Wenn das Bild ›zwischen den Stühlen sitzen‹ auf jemand zutrifft, dann auf ihn. Zwerenz ist einer der wenigen Aufrechten im windelweichen Milieu der Linken. Wer wissen will, wo der alte Kerl die Kraft hernimmt, seine Batterien immer wieder aufzuladen, kann das in seinem Buch ›Im Glashaus‹ erfahren, in dem er seinen Lebensweg von 1956 bis zu seinen Jahren im Parlament beschreibt.
Unsere Landgesellschaft stürzte sich nun auf die Fotos, und die Bartels erzählten von ihrer Begegnung mit dem bedeutenden linken Schriftsteller: »Wir haben den Gerhard Zwerenz in Welden getroffen, der hat den März-Verleger in Leeder besucht.« Damit war für die Lechrain-Bewohner eines glasklar: »Es gibt gefährliche Kommunisten im Dorf!« Dazu kam: Kurze Zeit vorher war in der ›Augsburger Allgemeinen‹, deren Kopfblätter überall im Allgäu gelesen werden, ein Artikel über ›Schröder erzählt‹ erschienen. Den hatte unser Freund Michael Schreiner wohlwollend geschrieben, jedoch für die schwarzbraunen Ländler kamen darin zu viele Reizwörter vor wie ›Sexfront‹, Achtundsechziger und Olympia-Press-Pornos.
Besonders die Männer vom Reservistenverein interessierten sich nun für uns, diese Herrschaften gehören zu den eifrigsten braunen Hilfstruppen. Dort versammeln sich eben nicht nur alte Kameraden, die altersbedingt kaum noch laufen können. Wenn es nur um die Knaster ginge, wäre diese Truppe harmlos, nein, es treffen sich da alte und junge Nazisäcke, nämlich auch die Reservisten der Bundeswehr. Der Verein in Leeder wurde von solch einem Reserveunteroffizier geführt. Sein Haus lag nur fünfzig Meter von unserer Villa entfernt, und hier tagten regelmäßig Jugendliche, die manchmal Baseballschläger dabei hatten. Aber es waren keine Glatzen, man hätte diese Jungen durchaus für harmlos halten können, wenn sie nicht jedesmal dem Oberleutnant der Fallschirmjäger in seinem winzigen Luftlandepanzer mit dem Hitlergruß salutiert hätten. Ob der in seiner Luke den Gruß erwiderte, haben wir nie eindeutig erkennen können. Jedenfalls schoß sein Arm ebenfalls nach oben. Ob das ein Durchfahrzeichen für die folgenden Panzerwagen war oder der Nazigruß für die Dorfjugend? Wahrscheinlich letzteres. Erst von jenem »Kommunisten im Parlament« erfuhren wir später, was sich bei den Fallschirmjägern in unserer Nachbarschaft tat.
Als Bundestagsabgeordneter – er saß im Untersuchungsausschuß wegen »rechtsextremer Vorfälle in der Bundeswehr« – hatte Zwerenz auch den Kommandeur des Fallschirmjäger-Ausbildungsregiments in Altenstadt befragt. Das liegt nur ein paar Kilometer von Leeder entfernt. Die Fallschirmjäger und Gebirgsjäger sind »Eliteeinheiten« und schon immer die Truppen mit den meisten rechtsextremen Auffälligkeiten gewesen, aber in Altenstadt hatten sie es übertrieben. Bei ihren regelmäßigen Treffen in der Kaserne besoffen sich die Unteroffiziere, grölten Naziparolen und -lieder, warfen Tische, Schränke und Stühle aus den Fenstern. Der Bonner Untersuchungsausschuß sollte klären, ob es sich bei diesen Gelagen hauptsächlich um Alkoholexzesse oder Nazizusammenkünfte gehandelt habe – oder um beides. Der PDS-Abgeordnete Zwerenz stellte dem Kommandeur Quante unangenehme Fragen – ausgerechnet so einer, der als Neunzehnjähriger von der Fahne gegangen war. Daß die Einheit von Zwerenz zu jenen Kampfgruppen gehörte, die den Warschauer Aufstand niederschlagen sollten, tat in den Augen solcher Militärs der Schmach keinen Abbruch.
Die Unteroffiziere aus Altenstadt wurden versetzt, so macht man das bei der Bundeswehr. Wenn es irgendwo zu rechtslastig wird, zerstreut man die Soldaten einfach. Innerhalb des Systems ist das schlüssig, man will nicht zugeben, daß der braune Geist der Truppe allenthalben weht. Unser Nachbar, der »Gurke! Gurke!«-Schreier, wurde ebenfalls von Altenstadt nach Peißenberg versetzt, vermutlich gehörte er zu den Randalierern. Jetzt mußte der Oberfeldwebel Janka jeden Morgen und jeden Abend zwanzig Minuten länger zur Kaserne und zurück fahren, was er als große Ungerechtigkeit empfand. Jedenfalls wurde in Leeder bekannt, daß der Deserteur und Kommunist Zwerenz uns besucht hatte und wir mit dem befreundet sind. Da brauchst du nur noch eins und eins zusammenzuzählen, dann weißt du, weshalb die vom Reservistenverein uns feindselig gesinnt waren.
(Fotos: privat / DLA / BK / JS)