Es ist neblig, wir sehen nicht, wie der Bär flattert.
Als ich 1965 als Verlagsleiter und Mädchen für alles in den Joseph Melzer Verlag eintrat, gab es außer dem Verleger nur noch mich und 350.000 DM Schulden. Das wären nach heutiger Kaufkraft so um die eine Millionen Euro. Diese Summe hört sich nicht so dramatisch an, bei einem monatlichen Umsatz von 2.000 DM bedeutete es jedoch, daß der Verlag seit langem konkursreif war. Die hohen Schulden hatten sich aufgebaut, weil Joseph Melzer blindlings in das Abenteuer einer Ausgabe von Ludwig Börnes ›Sämtlichen Schriften‹ hineingeschlittert war. Drei Bände mit 3.600 Seiten waren erschienen, als ich im Verlag anfing. Wie ich diesen Schuldenberg abbaute – mit Hilfe unwilliger Bonner Politiker, bis hinauf in den Kanzler-Bungalow und schließlich dank der Profite aus der ›Geschichte der O‹ – steht in ›Siegfried‹. Was mir von diesen Aktivitäten blieb, ist eine ziemlich genaue Kenntnis der Schriften Ludwig Börnes, denn die Bände 4 und 5, welche 1968 erschienen, hatte ich auch als Hersteller betreut. Deshalb bringen wir heute eine kleine Passage über eine weihnachtliche Kistchen-Verwirrung.
Am Dienstag, den 28. Dezember 1830 schrieb Ludwig Börne aus Paris an seine Freundin Jeanette Wohl in Frankfurt: »Mit den zwei nach Frankfurt geschickten Kistchen, die Sie wohl jetzt, wie ich hoffe, erhalten haben werden, kann es eine große Verwirrung gegeben haben. So geht es einem, wenn man Juden gebraucht, einen romantischen Zweck zu erreichen. Schon am 3ten Dezember gab ich dem Bing hier das Kästchen für Stiebel und bat ihn, es unter Ihrer Adresse nach Frankfurt zu schicken. Vierzehn Tage später gab ich dem Bing das Kistchen für Sie und bat ihn, es seinem Bruder in Frankfurt zu schicken. Diesem letztern schrieb ich zugleich mit der Post, er möchte Ihnen Weihnachten das Kistchen nebst einem Briefe zustellen. Nun erfuhr ich aus Ihrem vorigen Briefe vom 21sten, daß Sie das Kistchen für Stiebel noch nicht erhalten hätten, was mir auffiel. Ich frage aber den Bing hier, wie das zuginge? Und da gesteht mir der Esel, er habe zwar das Kistchen sogleich weggeschickt, aber in Gedanken nicht an Sie, sondern an seinen Bruder. Diesem habe er weiter kein Avis gegeben, und vor einigen Tagen habe er von seinem Bruder einen Brief erhalten, der ihn gefragt, was er denn mit dem Kistchen machen solle. Nun hatte unterdessen der Bing meinen Brief bekommen. Er glaubte also wahrscheinlich, das Kistchen, von dem ich ihm schrieb, wäre das erstere. So wird er also beide Kistchen bis zu Weihnachten zurückbehalten haben. Ich möchte aus der Haut fahren vor Ärger. Ist es nicht abscheulich, wenn sich Menschen freiwillig erbieten, einem etwas zu besorgen, und dann es schlechter besorgen, als man es selbst getan hätte? Und jetzt habe ich noch obendrein dem Bing geschrieben, er soll Ihnen Ihr Kästchen den 25. abends (statt den 24.) schicken. Sie werden es also erst den zweiten Weihnachtsabend erhalten. Und dann wissen Sie vielleicht nicht, welches Kistchen Ihnen und welches dem Stiebel gehört. Und für alle Mühe, Sorgen und Ärger werde ich vielleicht noch von Ihnen gezankt werden.«
(LB / JS)