vonSchröder & Kalender 06.06.2007

Schröder & Kalender

Seit 2006 bloggen Schröder und Kalender nach dem Motto: Eine Ansicht, die nicht befremdet, ist falsch.

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Der Bär flattert schwach in südwestlicher Richtung.

Von einer Reise zur Ausstellung ›Die Situationistische Internationale 1957 bis 1972‹ im Tinguely-Museum in Basel schickte unser Freund Günther Gerstenberg den folgenden Bericht:

Der ältere Mann, der seit der Abfahrt vom Starnberger Bahnhof mir gegenüber sitzt, fühlt sich nicht wohl, ist beunruhigt. „Können Sie mir sagen, ob ich irgendwann umsteigen muss?“
Ich verneine. Enttäuscht lässt er sich in seinen Sitz zurückfallen. „Nicht einmal mehr Schaffner gibt es, die die Fahrkarten knipsen und die man fragen könnte.“ Er murmelt, dass der Apparat alles erdrücke.
„Der Apparat,“ frage ich. Er meint, „System“ sei ideologisch aufgeladen, spätestens seit der Nazi-Zeit, der Begriff „strukturelle Gewalt“ erläutere die Funktion, beschreibe aber nicht den Charakter.
Dann erzählt er, dass er einmal ein tiefgläubiger Katholik war, erzogen im Glauben und in der Demut. Heute sei ihm Religion völlig egal, die institutionalisierten Formen sowieso, aber sogar der reine Glaube sei ihm ganz und gar abhanden gekommen, sein Gewissen, das auf agnostischer Grundlage ruhe, habe er dafür aktiviert, aber, ja mei, der Mensch brauche halt Rituale.
„Damit schließen Sie mich aus der Gattung der Menschen aus.“
Er sieht mich etwas erschrocken an und korrigiert sich:
„Ich meine nicht das Individuum, aber Gruppen und Gesellschaften benötigen Rituale für die notwendig immer wieder zu erneuernde Selbstvergewisserung.“ Und die sei deshalb nötig, weil „der Apparat“ den Menschen seines eigenen Ichs beraube. Seine zweite Natur, die des Funktionierens, werde Schritt für Schritt zu seiner ersten Natur.
„Kann es sein, dass ich Sie richtig verstehe? Dem Individuum bleibt nicht übrig, als sein Karrieremuster mit allen nötigen Choreographien des Denkens, Handelns und Fühlens so auszubilden und kontinuierlich neu auszutarieren, damit er in der Konkurrenz besteht, weil er sich ja reproduzieren muss.“
„Klar,“ meint er, „und wer sich dem verweigert, der kommt unter die Räder, den spuckt der Apparat aus wie einen nutzlosen Kirschkern. Glauben Sie etwa, der Kapitalismus ist für die Menschen da?“
„Ja, und was bleibt jetzt? Wer kann was tun?“
„Ich fürchte, an dem Ganzen ist nichts mehr zu ändern. Vielleicht schaffens die Gewerkschaften!? Die müssten sich allerdings ändern, müssten sich das politische Mandat holen und den Generalstreik wagen. Ich bin eher pessimistisch!“
Jetzt könnte ein Gespräch beginnen. Die nächste Station heißt Buchloe. Ich muss mich entscheiden, ob ich umsteige. Mein Gesprächspartner meint, ich solle meine Reise zu den Situationisten fortsetzen. „Vielleicht begegnen wir uns einmal wieder …“
Im Zug von Buchloe nach Lindau sitzt eine sehr füllige Frau mir gegenüber. Ihr teigig-ausdrucksloses Gesicht ruht auf den prall gefüllten Plastiktüten, die sie neben sich aufgetürmt hat. Dann zieht sie ein Buch heraus, Transit von Anna Seghers, und beginnt zu lesen.
Wie eine Welle durchströmt mich ein Gefühl von Scham. Müsste ich jetzt nicht irgendeinen Schwachsinn lesen!? Resigniert ziehe ich Hermann Hesses Traktat vom Steppenwolf aus der Tasche, ein Text, der vor etwa achtzig Jahren entstand, eine Beschreibung und Abrechnung mit dem herrschenden Zustand. Ich lese:
„Der Bürger … schätzt nichts höher als das Ich (ein nur rudimentär entwickeltes Ich allerdings). Auf Kosten der Intensität also erreicht er Erhaltung und Sicherheit, statt Gottbesessenheit erntet er Gewissensruhe, statt Lust Behagen, statt Freiheit Bequemlichkeit, statt tödlicher Glut eine angenehme Temperatur. Der Bürger ist deshalb seinem Wesen nach ein Geschöpf von schwachem Lebensantrieb, ängstlich, jede Preisgabe seiner selbst fürchtend, leicht zu regieren. Er hat darum an Stelle der Macht die Majorität gesetzt, an Stelle der Gewalt das Gesetz, an Stelle der Verantwortung das Abstimmungs-verfahren … Was die Menschen jeweils unter dem Begriff ‚Mensch’ verstehen, ist stets nur eine vergängliche bürgerliche Übereinkunft. Gewisse roheste Triebe werden von dieser Konvention abgelehnt und verpönt, ein Stück Bewusstsein, Gesittung und Entbestialisierung wird verlangt, ein klein wenig Geist ist nicht nur erlaubt, sondern wird sogar gefordert. Der ‚Mensch’ dieser Konvention ist, wie jedes Bürgerideal, ein Kompromiss, ein schüchterner und naivschlauer Versuch, sowohl die böse Urmutter Natur wie den lästigen Urvater Geist um ihre heftigen Forderungen zu prellen und in lauer Mitte zwischen ihnen zu wohnen. Darum erlaubt und duldet der Bürger das, was er ‚Persönlichkeit’ nennt, liefert die Persönlichkeit aber gleichzeitig jenem Moloch ‚Staat’ aus und spielt beständig die beiden gegeneinander aus. Darum verbrennt der Bürger heute den als Ketzer, hängt den als Verbrecher, dem er übermorgen Denkmäler setzt.“
Wer diese Zeilen liest, bekommt eine Ahnung, sieht den Vorschein des Kommenden aufflackern. So beständig sich auch der „Apparat“ warten und bewegen mag, Revolten künden sich an, bauen sich auf. Die Bourgeoisie versucht alles, errichtet Bastionen der Abwehr, verkündet neue Gesetze, lässt Prätorianer marschieren; die Internierungslager füllen sich. Umsonst. Revolten kann man zu unterdrücken versuchen, verzögern, umleiten, sie sind auf Dauer nicht zu verhindern.
Zwischenstop in Lindau. Mein Freund Andreas will mir Erich Mühsams Vorläufer zeigen. Die mittelalterliche Skulptur in der St. Stephans-Kirche zeigt einen Löwen, in dessen Maul sich ein Mensch befindet, der mit beiden Händen und mit aller Kraft das Gebiss des Raubtiers auseinander drückt. Offenbar geht es nicht um „Böse und Gut“ oder um „diesseitige Hölle und Auferstehung hin ins Jenseits“. Es sind jetzt 800 oder 900 Jahre her, dass ein Steinmetz einen zeitlos gültigen Ausdruck für das Verhältnis von Mensch und „Apparat“ gefunden hat.

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Am nächsten Tag Fahrt entlang des Bodensees. Von Andreas erfahre ich alles über die vorbeiziehenden Städte. Putzige Häuschen, saubere Gärtchen, Sonnenkollektoren auf vielen Dächern, aufgelassene Fabriken, neue Fabriken, dazwischen traumverlorene Idyllen, dann viele hastende Menschen und auffallend: Polizeieinheiten in Kampfmontur.
Kaum ist der Bodensee verschwunden, zieht Singen am Hohentwiel vorbei. Der Kegel des erloschenen Vulkans ragt aus der Ebene empor. Irgendwann wird er wieder tätig werden. Die weitere Fahrt begleiten Atomkraftwerke, Chemiegiganten und niedliche Ansiedelungen. Das, was du siehst, verspricht sich als Reichtum und bildet doch nur einen dünnen Firnis über Bergen von Gift.
Wer im Badischen Bahnhof in Basel aussteigt, tut gut daran, den Personalausweis bereitzuhalten. Genau dann nämlich sitzen die Zollbeamten beim Essen und haben keine Zeit für Kontrollen. Du verlässt den Bahnhof, gehst etwa zehn Minuten die Schwarzwaldstraße nach Süden und stehst schließlich vor dem am Ufer des Rheins gelegenen Tinguely-Museum.
Schon beim Eintritt erlebst du den Unterschied. Hier herrscht trotz der Größe der Räume menschliches Maß, findet sich in allen Ecken Leben, Bewegung und Konfrontation. Wie steril, langweilig und unpersönlich sind dagegen die vielgerühmten Pinakotheken in München. Hier in Basel begegnen sich Mensch und Kunst auf Augenhöhe, in München hast du dich ehrfürchtig und mit gebotenem Respekt den parfümierten Blähungen der Staats- und Hofkunst zu nähern.
Die kinetische Konstrukte bewegen sich, wenn sie angeworfen werden, sie quietschen, rattern, schlagen; begehbar und begreifbar für Kinder wie für Erwachsene. Sie sind zugleich ein mit Lachen begleiteter krachender Schlag ins Gesicht der Eliten, die ihre angeblich avantgardistische Kunst mit zeitgeistig aufgeblasenen Bedeutungen in den Kunstmarkt pressen.

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Zwei junge Frauen, die eine Schar kleiner Kinder mitgebracht haben, sprechen im Basler Dialekt, an den ich mich schon etwas gewöhnt habe.
„Gerade vorher haben sie in den Nachrichten gebracht, dass das Gnadengesuch abgelehnt ist.“
„Mir geht nicht in den Kopf, was der Klar wollte. Glaubst Du, es war irgend eine Taktik?“
Die Kinder spielen mit Tinguelys Maschinen. Zuweilen gleitet so ein Gerät wie geschmiert, dann wieder hakt und knirscht es in der Mechanik.
„Das, was er erreichte, ist schrecklich. Er hat sich unterworfen, hat anerkannt, dass der Fürst huldvoll Gnade vor Recht ergehen lassen kann; er hat den Fürsten anerkannt, weil er vielleicht zurück wollte ins Normale, das wäre noch verständlich, aber …“
„Gut, dass die Begnadigung abgelehnt wurde. Damit hat sich die Macht eindeutig verhalten und ihm Zeit zum Nachdenken gegeben.“
„Nur dass er um Gnade gefleht hat, das geht mir nicht in den Kopf. Das ist eine Schande.“
Dem Dialog weiter zu folgen, wird unmöglich, da mich die Kinder in ihr Spiel miteinbeziehen.

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Neben bunten, rotierenden, puffenden und schnaubenden Maschinenskulpturen heißt es breit über mehrere Meter hin „Ne travaillez jamais“ („Arbeitet nie!“). Guy Debord schrieb dies 1953 an eine Mauer in der Rue de Seine in Paris, eines der frühen Zeugnisse einer Gruppe junger empörter Rebellen, die sich dem grotesken Spektakel der schlechten Gegenwart entgegenstellen mussten. Ihre Aktionen, die die Grenzen zwischen Kunst, Happening, Demonstration und politischer Intervention auflösten, begleiteten sie mit einer radikal zu Ende gedachten Rhetorik, die 1966 in eine Minimale Definition der revolutionären Organisation mündete:
„In Erwägung ziehend, dass das einzige Ziel einer revolutionären Organisation die Abschaffung der vorhandenen Klassen durch einen Weg ist, der keine neue Teilung der Gesellschaft mit sich bringt, nennen wir revolutionär jede Organisation, welche KONSEQUENT zur internationalen Verwirklichung der absoluten Macht der Arbeiterräte hinarbeitet, so wie sie durch die Erfahrung der proletarischen Revolutionen dieses Jahrhunderts entworfen worden ist. Eine solche Organisation bietet eine einheitliche Kritik der Welt an, oder sie ist nichts. Mit einheitlicher Kritik meinen wir eine Kritik, die sowohl gegen alle geographischen Zonen, in denen verschiedenen Formen der sozio-ökono-mischen, getrennten Macht sich eingerichtet haben, als auch global gegen alle Aspekte des Lebens ausgesprochen wird.
Eine solche Organisation sieht Anfang und Ende ihres Programms in der totalen Entkolonialisierung des alltäglichen Lebens; sie trachtet also nicht nach der Selbstverwaltung DER VORHANDENEN WELT durch die Massen, sondern nach ihrer ununterbrochenen Veränderung. Sie beinhaltet die radikale Kritik an der politischen Ökonomie und die Überwindung der Ware und des Lohnwesens.
Eine solche Organisation lehnt jede Reproduzierung der hierarchischen Verhältnisse der herrschenden Welt in sich selbst ab. Die einzige Grenze der Teilnahme an ihrer totalen Demokratie ist die Anerkennung und die Selbstaneignung DER KOHÄRENZ IHRER KRITIK durch all ihre Mitglieder: diese Kohärenz soll einerseits in der eigentlichen kritischen Theorie und andererseits im Zusammenhang zwischen dieser Theorie und der Praxis liegen. Sie kritisiert RADIKAL jede IDEOLOGIE als eine von den Ideen GETRENNTE MACHT und als IDEEN DER GETRENNTEN MACHT. Sie verneint also zur gleichen Zeit jedes Fortleben der Religion sowie das heutige soziale Spektakel, welches von der Masseninformation zur Massenkultur jede Kommunikation zwischen den Menschen um den einseitigen Empfang ihrer entfremdeten Tätigkeit herum monopolisiert. Sie löst jede ‚revolutionäre Ideologie’ auf, indem sie sie als die Unterschrift des Scheiterns des revolutionären Projekts, als das Privateigentum der neuen Spezialisten der Macht und als den Betrug einer neuen VERTRETUNG entlarvt, die sich über das wirkliche, proletarische Leben erhebt. Da die Kategorie der Totalität der modernen revolutionären Organisation DAS JÜNGSTE GERICHT ist, bedeutet diese schließlich eine Kritik der Politik. Sie muss bei ihrem Sieg ihr eigenes Ende als getrennte Organisation ausdrücklich anstreben.“
Diese Manifestationen strahlen aus – bis München und darüber hinaus. Die Basler Ausstellung, der es gelingt, die Gefahr der „Vitrinisierung“ der Situationistischen Internationale (SI) zu erkennen, zu benennen und zu vermeiden, beschränkt sich auf vier Schwerpunkte:
– Asger Jorns Volkskunstforschung und Bauhaus Imaginiste, Pinot-Gallizios Industrielle Malerei, Werke der Gruppe CoBrA und selbstverständlich die Konflikte um die Münchner Gruppe SPUR.
– Eine der beliebtesten Vorgehensweisen der SI: destruierende Zweckentfremdung, De- und Rekontextualisierung, um den festgezurrten, verbackenen, versinterten Traditionskontext aufzusprengen.
– Eine selbstbewusste Haltung: Das freie, oft ziel- und planlose Umherschweifen, um den alltäglichen Routinen und den vielfältig wirkenden, strukturellen Gewalten auszuweichen und überraschend, unkontrolliert und beweglich Situationen für Interventionen zu entdecken.
– Nicht zuletzt geht es um die Theorie, ohne die eine politische Praxis zur Erlangung einer Totalität des echten Lebens für alle nicht möglich ist.

… So machen die neuen, jetzigen Städte die totalitäre Tendenz in der Organisation des Lebens durch den modernen Kapitalismus klar anschaulich: dort müssen die vereinzelten Individuen – im allgemeinen sind sie im Rahmen der Familienzelle isoliert – sehen, wie ihr Leben zur reinen Plattheit des Sich-Wiederholenden reduziert wird, verbunden mit dem obligatorischen Herunterschlucken eines gleichfalls sich immer wiederholenden Spektakels …
Debord 1961

Ein etwa 40-jähriger Mann in beiger Hose und mit einem dezenten Sakko versehen, spricht mich an. Sein Vorwand: Er sucht die Toilette. Er kommt aus Düsseldorf. Ich schildere ihm meine Gedankensplitter, wobei ich mich an Dieter Kunzelmann, Mitglied der SI, dann der Kommune 1, erinnere:
Wer sich mit dem Apparat anlegt, gerät immer in den Fokus der Exekutive. Die Polizei überwachte Guy Debord, 18 Carabinieri stürmten 1977 das Haus Gianfranco Sanguinettis, des letzten Weggefährten Debords. Die Diskussion kreist damals wie heute um das Verhältnis der Revolutionäre zum Terror, um die Dialektik zwischen dem Terror des Spektakels und dem Spektakel des Terrors. Es sieht so aus, als ob der Weg in die terroristische Gewalt die Gesellschaft nicht verändert, sondern ganz im Gegenteil im totalitär verfassten Medienzirkus begeisterte Aufnahme findet, Vorwand zu Repressionen bietet und die elenden Strukturen stabilisiert und modernisiert.
Andererseits ist für den selbst gesetzten Anspruch der Dynamik einer Moderne Adaption unverzichtbar. Kritik belebt den Prozess. Sie muss sogar unbedingt sein, radikal an die Wurzeln gehend, kompromisslos tönen. „Das müssen wir aushalten, vorausschauend um des lieben Friedens willen. Und so dumm ist es ja auch nicht, wenn wir noch aus dem größten Tabubruch Kapital schlagen können.“ Nur so erneuert sich der Apparat, verfeinert sich sein Räderwerk. Ob er aber auch damit dem Rand des Abgrunds näher rückt?
Der junge Mann funkelt mich an: „Sie reden, als ob Sie in einer anderen Welt wären. Bei uns kann doch jeder machen, was er will!“
„Genau. Am Morgen aufstehen und zur Arbeit gehen. Beim Shoppen zwischen 387 Deodorants wählen können. Auf dreißig verschiedenen Fernsehkanälen zur selben Zeit ein und denselben Papst bewundern dürfen. Alle vier Jahre seine Stimme abgeben. Wehe, man will sie zurückhaben! Die Würde der Wirtschaft ist unantastbar, der Mensch, kann er nicht mehr vernutzt werden, ist mehr als überflüssig.“
Ich sehe nur noch den Rücken des dezenten Sakkos.
Von Basel zurück nach Ravensburg. Ein gutes Dutzend selbstzufriedener Rentner fällt in das Abteil ein. Ich schlafe. Sie lassen die Weinflaschen kreisen. Andreas meint zu den uns Gegenübersitzenden, dass etwas Rücksicht doch vielleicht angebracht wäre. Ihr Tonfall wird aggressiv. Wir beide sind für die Gruppe eine Zumutung. Andreas wird als intolerant beschimpft. Als humorlos. „Gehen Sie doch in den Schlafwagen!“
Ich träume. Im Hintergrund das Geschnatter der Säufer. Ein Krokodil schwebt vor mir, sieht mich an, lächelt und spricht mit einer eigenartig rauchigen Stimme: „Denk an das Schnattern der Gänse auf dem Kapitol.“ Nach zwei Stunden wache ich auf. Die Rentner sind einige Stationen vorher ausgestiegen. Andreas sagt, dass sie ihm eigentlich sehr leid taten.
Am folgenden Tag fahre ich nach Hause. Landschaft, angenehm abwechslungsreich und heiter, zieht am Fenster vorbei. Kein sauber herausgeputzter Bauernhof, der nicht auf seinen Dächern Sonnenkollektoren trägt! Überall große Autos. Dass sich hinter diesen Fassaden Tragödien abspielen, liegt auf der Hand.
Dann eine Überraschung. Zur Rechten duckt sich ein Dorf unter einer großen Klosteranlage; diese wird von einer düsteren Barockkuppel überwölbt. Weingarten ist der Ort, an dem sich einmal im Jahr die „Blutreiter“ treffen. Der Abt des Klosters reitet auf einem Pferd durch die Gegend, in der Hand eine Monstranz, die Blutstropfen Christi aufbewahrt. Und hinter ihm reitet die große Politik, angeführt von dem Baden-Württembergischen Ministerpräsidenten, dann kommen schlagende Verbindungen, alter Adel, alte Nazis, Geldadel, jeder, der zur Elite gehört in festlicher Aufmachung im Gehrock und mit einem Zylinder auf dem Schädel.

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Links und rechts friedliche Landschaft. Dann thront die Burg derer von Waldburg-Zeil auf einem anmutigen Bergrücken. Der unermessliche Reichtum des Fürsten basiert auf dem Bauernlegen, das jetzt beinahe 500 Jahre her ist.
Andreas verabschiedet sich von mir in Memmingen. Jetzt sitzt mir ein Mensch in einem karierten Hemd schräg gegenüber. Er hält ein Stück Holz in der Hand und sieht es lange und aufmerksam mit einer Lupe an. Zwei etwa zwölf-jährige Mädchen steigen ein. Sie tragen Cargo-Hosen mit militärischer Camouflage, die ihnen in den Kniekehlen hängen. Über die Oberkante des Hosenbundes hängen ihnen wuchtige Bäuche herunter, offensichtlich eine Protestmanifestation.
Menschen kommen herein, stehen auf und gehen. Vorbei an einem in der Abendsonne glitzernd sich drehenden Mercedesstern holpert die Regionalbahn in den Starnberger Bahnhof. Du steigst aus. Mit dir viele andere.

Das Bayernticket, das bis Lindau am Bodensee, dem südwestlichsten Zipfel Bayerns, gültig ist, kostet für eine einzelne Person 19 Euro, für eine Gruppe bis 5 Personen 27 Euro. Abfahrt mit dem Bummelzug am Starnberger Bahnhof. Für das Baden-Württemberg-Ticket, mit dem Du von Lindau nach Basel fahren kannst, zahlst Du etwa so viel wie für das Bayernticket.
Die Sonderausstellung Die Situationistische Internationale 1957 – 1972 im Tinguely-Museum in Basel ist noch bis zum 5. August 2007 zu sehen. Der Eintritt kostet 10 Franken.

(GG)

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https://blogs.taz.de/schroederkalender/2007/06/06/situationisten-in-basel/

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kommentare

  • Danke, Wolfgang, für Deine offenen Wort zu meiner Reiseskizze. Beim Lesen habe ich mir gedacht, da hat er Recht und da hat er Unrecht. Und dazwischen schwirrten 27 Fragezeichen herum. Deshalb frage ich jetzt noch einmal nach, nicht rhetorisch, sondern ernsthaft, da mir manches unklar ist; einiges behaupte ich auch.
    Nihilisten und Philister – sind das die beiden Antipoden, die auf den äußeren Ecken des menschlichen Spektrums sich repräsentieren, um sich nur in einem einig zu sein, „in ihrer Vergottung des Massenmenschen und in ihrem Hass auf jede Art echter Kultur“? Sind nach Deiner Auffassung die Situationisten Nihilisten? Wenn ja, warum protestieren sie dann mit ihren doch eher bescheidenen Mitteln der Kunst gegen die krassen Phänomene des modernen Spektakels, der ja gerade die Massen erfasst und betäubt?
    Kunst soll erheben? Warum, woher und wohin? Wer sagt das? Ist Kunst nicht vielmehr dazu da, sichtbar zu machen, was verborgen erscheint, den Schleier von den Augen zu ziehen, vielleicht sogar unter die Haut zu gehen, damit Veränderung ausgelöst wird?
    Gerne bleibe ich bei Deinem Begriff „Philister“. Nur, wie ist es möglich, sich unter diesen einzurichten? Seitdem ich erwachsen geworden bin, also seit etwa einem halben Jahrhundert, empfinde ich das unendliche Gebrabbel der Philister wie einen mich umhüllenden und betäubenden Geräuschvorhang. Sowohl die Ohren und der hinter ihnen nicht immer schlafende Verstand werden belästigt, auch die Augen. Soll denn der Fühlende nur noch mit gesenktem Kopf herumlaufen, weil das meiste, was im öffentlichen Raum zu sehen ist, ihn zutiefst verletzt?
    Ich bin auf Kontakte mit Mitmenschen angewiesen; ich bin darauf angewiesen, aufrecht zu gehen. Widerspreche ich nun den ideologischen, akustischen und optischen Entäußerungen um mich herum nicht, sondern lasse sie so stehen, wie sie sind, merke ich, wie die Choreographie des Fühlens, Denkens und Handelns der Philister von mir Besitz ergreift. Ohne Abwehr werde ich wie sie. Wenn sie mich in Ruhe ließen, wäre ja alles gut. Sie lassen mich aber nicht. Erkläre mir, wie es Dir möglich ist, in der Welt der Philister Exil zu finden ohne beschädigt zu werden.
    Gut, wenn Du jetzt sagen würdest, was belästigst du mit deinen Befindlichkeiten deine Mitmenschen, nimm dich doch nicht so wichtig, dann hättest Du Recht. Aber um mich geht es nur am Rande. Es geht um alle die, die anfangen aufzublühen, die mit Verve und mit Visionen aufbrechen, dann aber lediglich ins Leere laufen, um glanzlos, vertrocknet und oft resigniert nur noch auf ihr physisches Ende zu warten. Dass es einige gibt, die mit ihrem Engagement beweisen, dass diese übliche „Karriere“ keinem Naturgesetz folgt, motiviert halt auch mich zum Widerspruch.
    An einer Stelle in Deinem Text hast Du beinahe reflexartig reagiert, indem Du mir empfohlen hast „Träum weiter“. Offenbar hast Du übersehen, dass ich mich mit meinen Gedanken an Hesses Text, der in den Zwanziger Jahren entstand, anschloss. Denn in dieser Zeit kündigten sich Revolten an, brachten die herrschenden Eliten ihre Truppen in Stellung, putschten und füllten die Konzentrationslager, und doch hatten sie keine Zukunft.
    Nicht zuletzt fragst Du nach einem Gegenentwurf. Der liegt bestimmt nicht darin, ein – wie Du unterstellst – „gelobtes Land“ zu propagieren, um das zu erreichen, der „Nihilist allzu gerne Meere von Blut durchwatet“. Aber Veränderung geschieht. Entweder gegen meinen hinhaltenden Widerstand oder mit Hilfe meiner Beiträge, die in Gegenentwürfe münden. Zwischen diesem Pro und Contra gibt es nichts. Dass diese Gegenentwürfe zur schlechten Gegenwart auch blutige Folgen haben, zeigt die Vergangenheit. Nicht nur Du, wir alle profitieren von den Ergebnissen der Französischen Revolution. Sind die Jakobinerherrschaft oder die Napoleonischen Feldzüge Argumente dafür, die demonstrative Erklärung von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit rückgängig zu machen?
    Nein, Wolfgang, vieles ist mir wirklich nicht klar, aber eines schon: Ein Exil im Land der Philister – unmöglich!

  • Sehr schöne Beobachtungen zur “Plattheit der Lebensverhältnisse” im “modernen Kapitalismus”. Und was hast du als Gegenentwurf anzubieten? Ach ja, “Revolten kündigen sich an”. Träum weiter. Noch nicht mitbekommen, das sich der Nihilist (dein tapferer Revolutionär) und der Philister(der böse Kapitalist) eigentlich sehr gut verstehen? Was sie eint, ist ihr Hass auf jede Art von echter Kultur, ihre Banaltät, ihre Vergottung des Massenmenschen (am Besten im Kollektiv, also “Kindergärten”, aufgezogen). Kunst, “begehbar und begreifbar für Kinder wie für Erwachsene” ist keine Kunst, weil sie nicht erhebt, weil sie die Menschen dort lässt, wo sie sie abholt. Und die “angeblich avantgardistische Kunst”, ist die einer Elite der Banalität. Alles was diese sogenannte Elite macht, ist irgend etwas zu finden, was so noch niemand vorher so gemacht hat und es dann als Kunst zu bezeichnen. Das führt zu toten Tieren in irgendeiner Lösung konserviert und in irgendwelchen postmodernen Journalen zu gesellschaftlicher Relevanz aufgemotzt. Das, was den Philister vom Nihilisten unterscheidet, ist, das der Philister am seinem Komfort hängt und das sich ihm bei Massenmord ab einer gewissen Monstrosität der Magen umdreht. Anders als der Nihilist, der allzu gerne Meere von Blut durchwatet um das “gelobte Land” zu erreichen, das immer hinter dem nächsten Hügel liegt. Aus diesem Grund ziehe ich das Exil im Land der Philister vor. Und du, wenn du weiterhin so beschaulich Bahn fahren möchtest, am besten auch.

  • Toller Text, da fahre ich hin, wenn ich im Juli am Bodensee bin.
    Hier ein Zitat aus Franz Jungs “Revolte gegen die Lebensangst”, dessen ich mich beim Lesen des Textes erinnerte: “Das ist das Entscheidende: es werden diejenigen Leute umgebracht, die den Mut aufzeigen, die Entschlossnheit, das Leben dem Menschen erträglicher zu machen. Auf dieser Welt haben die Menschen schon immer sich gegenseitig umgebracht. Trotz hier und da auftauchender gegenteiliger Behauptung ist in der Gesellschaft der existentielle Wert eines Lebewesens nur gering. Im Grund fühlt das der Einzelne und richtet sich danach ein. Nicht die Gesetze schützen den Menschen, die Gesellschaftssysteme und Versprechungen, sondern sein Anpassungsvermögen, seine Unterordnung und Unterwerfung vor der Erkenntnis und dem Erlebnis seiner Existenz. Sie schützen ihn zur Not, soweit eben seine Anpassung reicht.”
    Es ist grauenhaft, wie wenig die Kinder heute der wachsenden Not angepasst sind. Wenn es mal richtig bergab geht, dann können sie nichts, um sich zu helfen. Es wächst jetzt die zweite Generation heran, die nicht mehr weiß, wie man einen Fisch ausnimmt, die nicht mehr weiß, wie man ein Fahrrad repariert oder einen Motor baut usw. Alles ist fertig, und wenn was kaputt geht, wird wieder ein Kredit aufgenommen, um was Neues zu kaufen, das chinesische oder vietnamesische Kinder hergestellt haben. Ende der 50er war es in Kindergärten noch üblich, den Kindern beizubringen, Schnürsenkel zu binden. Eine Erzieherin, so heißen die wieder, im Kindergarten meines Sohnes, sagte auf meine Anregung hin, das wieder einzuführen, da ich beobachtet hatte, daß viele Eltern, die von morgens bis abends wie gehetzte Tiere arbeiten, um ihre Raten für die Möbel oder das Auto zu bezahlen, keine Zeit und/oder Geduld dazu haben: “Das dürfen wir nicht. Das würde zu sehr in die Erziehung und das freie Spiel eingreifen.” Werken? Out bei uns im Kindergarten, obwohl für viel Geld zwei Werkbänke angeschafft wurden. “Die Kinder wollen nicht”, höre ich dann von der Erzieherin. Dass sie auch animiert werden müssen, weil sie gar nicht wissen, was ihnen entgeht, ist ihr entgangen. Es geht eher darum, zu verhindern, dass Kinder Kenntnisse und Fertigkeiten entwickeln, als diese zu vermitteln. Zum Kotzen, wie die von der Leyen in Emma bis Welt zur Revolutionärin hochgejubelt wird, weil sie noch mehr Kinder lebensfernen Erziehern überantworten will, damit die Eltern um die Arbeitsplätze konkurrieren können.
    Herzliche Grüße
    Katinka

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