Der Bär flattert schwach in nördlicher Richtung.
Als wir 1989 ›Schröder erzählt‹ planten, überlegten wir auch, ob wir die Texte vielleicht in Kreta redigieren könnten, um so das Angenehme mit dem Nützlichen zu verbinden. Als Sommerloch-Lektüre bringen wir in loser Folge Reisegeschichten aus ›Schröder erzählt‹.
Wir lebten also günstig, aber lassen wir mal die Kirche im Dorf, was das Sparen angeht. Wir wollten uns nicht selbst betrügen und führten genau Buch. Das Resultat: Für Lebensmittel, Miete und den übrigen Kram hatten wir höchstens ein Viertel weniger ausgegeben als in Deutschland. Darüber hinaus gab es noch ein paar Kleinigkeiten, die uns das Paradies von seiner anderen Seite zeigten. Tourismus produziert bekanntlich reichlich Müll. Und wenn du so wie die Griechen lebst, also um zehn Uhr abends ißt, gegen zwei Uhr mit dem Auto nach Hause fährst – mit geöffnetem Fenster versteht sich –, dann kriegst du mit, daß es bestialisch nach verbranntem Abfall und dem schwelenden Toilettenpapier aus den Scheißekübeln stinkt. Denn nur die Luxushotels haben Toiletten, wie wir sie kennen. Sonst sind die in Griechenland üblichen Sanitäranlagen ihrer Aufgabe nicht gewachsen, deshalb ist es üblich, Papier nicht ins Klo, sondern in einen daneben stehenden Eimer zu werfen. Eine Sauerei? Na ja, sagen wir mal, es ist nicht jedermanns Sache, aber man kann sich auch daran gewöhnen. Eine wirkliche Sauerei sind die Abertonnen von Insektiziden, die im Tiefflug über den Brackwassergebieten versprüht werden. Die Flugzeuge donnern nachts auch über die exklusiven Beachhotels. Genauso wurde das jahrzehntelang in der venezianischen Lagune gemacht.
Wahrhaftig, was die Sumpfigkeit der Gewässer angeht, stehen manche Teile von Kreta der venezianischen Lagune in nichts nach. Im letzten Sommer besuchten wir in Cavallino manchmal das Fischrestaurant ›Achille‹, vermutlich das beste in der Gegend, hierher kommen sogar die Kenner aus Venedig mit ihren Mahagonibooten rübergebrummt. Sie wissen, warum! Denn bei den Touristenbanditos in der eigenen Stadt ißt ja kein Venezianer, wenn er bei Trost ist. »Tutte le specialità di pesce dell’adriatico.« Ja, Scheiße mit Reise! Zum Glück entdeckten wir dieses Restaurant, sonst wären wir dort geliefert gewesen und hätten vierzehn Tage Pizza fressen müssen. Als wir uns beim ersten ›Achille‹-Besuch draußen niederlassen wollten, sagte der Kellner höflich und bestimmt: »Wir servieren nicht im giardino.« Naiv fragte ich zurück: »Warum das denn nicht?« »Wenn die Dämmerung kommt, fressen die Mücken Sie auf. Im Ristorante haben wir eine Klimaanlage. Wenn Sie mir bitte folgen wollen …« Diese Klimaanlage existierte, und die Fenster des schönen Lokals waren auch geschlossen, das bedeutete aber nicht, daß hier überhaupt keine Mücken mehr schwirrten. Wir hatten – in Kreta klug geworden – immer ›Contra-Mück‹ dabei und konnten deshalb den frischen Fisch aus der Lagune in Ruhe genießen. »Die Wirksamkeit von ›Contra-Mück‹ ist wissenschaftlich nachgewiesen und hält zuverlässig bis zu fünf Stunden an«, steht auf dem Etikett. Die Zeitangabe ist stark übertrieben, jedoch wirkt das Zeug tatsächlich mückenabweisend. Nein, der Geruch ist nicht unangenehm, lediglich sehr markant, eine Mischung aus indischem Melissenöl, Menthol-, Citrus- und Eukalyptusölen. Du brauchst die Flasche nur zu öffnen, schon drehen sich im Biergarten noch am hintersten Tisch die Köpfe. Mit diesen ätherischen Substanzen kannst du dir Freunde machen, wenn du sie weiterreichst. Jeder reibt sich ein, im Nu bist du ein beliebter Mensch und brauchst keinen Kurs in Gruppendynamik mehr.
Bei ›Achille‹ lernten wir so dank ›Contra-Mück‹ ein italoamerikanisches Ehepaar kennen. Er war ein US-Tycoon auf Heimaturlaub, dessen Bauunternehmen einige tausend Mann beschäftigte. Seine Frau, eine nette Dame mit distinguierten Manieren, konnte nicht umhin, zuweilen verstohlen nach den Biestern zu klatschen. Als Barbara das ›Contra-Mück‹ herausgeholt und wir uns damit eingerieben hatten, bot sie ihrer Tischnachbarin das Fläschchen an. Dankbar begann sich die angloitalienische Signora mit dem profanen Reizöl zu betupfen. Den alten Venezianer ließen die Zanzare in Ruhe. Er meinte, weil seine Vorfahren Lagunenfischer waren, liege bei ihm die Mückenresistenz wohl in der Familie. Danach erzählte er uns alles mögliche, vor allem aber erfuhren wir von ihm: »Seit die Ökologen in der Commune di Venezia durchgesetzt haben, daß das Versprühen der Insektizide durch Flugzeuge eingestellt wird, ist es hier wie in alten Zeiten: In der Lagune haben die Mücken wieder die Macht übernommen. Dafür sind die Fische nicht mehr vergiftet und die Vögel zurückgekehrt.«
Leider kannten wir in Kreta dieses ›Contra-Mück‹ noch nicht, wir hätten davon ein paar Liter gebrauchen können. Statt dessen benutzten wir die Verdampferstecker mit den giftigen blauen Plättchen. Aber es waren ja nicht nur die Mücken! Auch das Einleben in die Landesbräuche lenkt sehr ab vom Vorsatz, eine Mentalitätsgeschichte Deutschlands zu schreiben. Fahr in ein fremdes Land, und du wandelst nolens volens auf den Pfaden von Paul Theroux oder Bruce Chatwin. Wir besichtigten die Diktäische Grotte, die als die Geburtshöhle des Zeus gilt. Am Höhleneingang, bevor man die in Jahrtausenden abgetretenen Stufen zu diesem Opferheiligtum hinunterglitscht, überreichen griechische Knaben jeder jüngeren Frau einen Stengel Basilikum. Und Barbara in ihrer fröhlichen Art zupfte sofort ein Blättchen ab, knabberte daran wie die Ziege Amaltheia. Da hättest du mal das Entsetzen des Höhlenführers sehen sollen! Das dürfe sie nicht, dieses Basilikum sei geweihtes Kraut, das die Frauen von der Zeushöhle mitnähmen, damit sie später vielen Knaben das Leben schenkten. Etsi prepei!
(BK / JS)