Der Bär flattert in nordwestlicher Richtung.
Tagebuch
Samstag, 4. August: Nach den verregneten Wochen wollten wir mal wieder im Müggelsee baden und fuhren mit der S-Bahn bis Friedrichshagen. Die Straßenbahn zum Strandbad hält schräg gegenüber an der Hauptstraße vor dem Union-Kino. Heute abend läuft: »›Dean Reed – der rote Elvis‹. In Anwesenheit des Regisseurs, anschließend Musik mit DJs aus dem Filmteam.« Offenbar dient das alte große Kino auch als Disko. Daneben gibt es ein nettes Restaurant mit lauschigem Innenhof, auf der Schiefertafel werden Pfifferlingswochen angezeigt. Gegenüber die kleine viel frequentierte Eisbude ›Klatsch‹, dort holen wir nach dem Baden immer zwei Bällchen. Alles sehr nett, und was wir uns schon öfter gefragt haben: Wo sind hier die bösen Glatzen?
Mit der Straßenbahn geht es am Müggeldamm entlang. Ein schwäbelndes Ehepaar in mittleren Jahren fragt nach dem Weg zum Strandbad, ich nenne ihnen die Stationen. »Mir wolln noch e Stück am See langlaufn«, erklärt die kompakte Frau, Typ Venus von Willendorf. Ihr leptosomer Gatte mit kurzgestutztem Vollbart ist davon nicht begeistert: »I bin in Berlin scho gnug glaufn.« Aber Venus setzt sich durch.
Wir steigen eine Station nach ihnen aus, beim Licht- und Luftbad, so nennt sich das riesige FKK-Gelände. In alter DDR-Tradition nimmt das Nudistengelände zwei Drittel des Strandbades ein. Weil sich aber auch die Badekultur im Osten inzwischen dem Westen angenähert hat, ist das Nacktbadegelände jetzt sehr komfortabel unterbevölkert. Man ruht und sonnt sich mit großzügigem Wich zum Nächsten in einem Eichenhain, und wenn man im Schatten liegen möchte, geht man unter die Eichen. Auf dem viel kleineren Textilgelände hingegen gibt es wenig Bäume und auf dem Sandstrand sonnen sich die Leute wie die Wannsee-Sardinen. Wohl dem, der hier keine Badehose trägt!
Wir schwammen und ruhten eine Stunde, zogen dann unsere Badesachen an, spazierten zum Strandbadkiosk im Textilteil und bestellten die obligatorische Currywurst mit Pommes. Da nahten die Schwaben aus der Straßenbahn, bauten sich vor unserem Tisch auf und plierten auf die Currywurst. »Hallo«, sagte Barbara, »das ist die beste Currywurst weit und breit, sehr zu empfehlen.« »Des wolltn mir scho imma mal essn«, meinte die Venus, »de hot ja o a andre Soß.« Sie holten sich auch eine Wurst und setzten sich an unseren Tisch. »Na, wie war der Spaziergang?«, fragte Barbara. Venus druckste: »Mir sin doch net am See langganga, do liegn ja Nackerte! Da simmer lieber wieder zrück und obn an dr Autostroß zrückganga.« »Das ist doch kein schöner Weg«, sagte Barbara. »Also na, mit dene Nackerte! Mir sin aus Süddeutschland, do kennt ma des net. Ja gut, bei Füssen gibt’s en See, da wois ma, da liegn die Nackerten. Aba mir däten net hingehn.« »Und wollen Sie hier nicht baden?« fragte ich. »Na, mir ham koine Badesachn mit«, sagte der Mann. »Aber hier kennt man sie doch nicht, hier könnten sie nackt baden«, sagte Barbara.
Die Currywurst war gegessen, wir verzogen uns in unser Nudistenareal und waren die beiden los – dachten wir. Drei Stunden später, wir spazierten zum Ausgang, fing uns vor der Freitreppe wieder die schwäbische Venus mit Anhang ab. »Hallo, da sinds ja wieder, i hab doch dahintn nackt badet. Das erste Mal im Leben, mei Mo aber net. Des is scho was, ohne des Graffel! Aba wenn mo in em kloine Ort lebt, da kennt einen ja jeda, da geht des net.« »Außerdem ist das ja in Süddeutschland fast überall verboten«, sagte ich, »an einem kleinen See bei Aichach hat die Polizei noch vor fünf Jahren eine regelrechte Razzia veranstaltet und zehn Nacktbader nackt in einen Mannschaftswagen gesperrt…« Da wurde die Venus hellwach: »Ja, Aichach, des kenn i guet, des is ja Bayern! Au wenns ganz nah bei uns Schwobe liegt. Mir sin aus dr Augschburger Gegend. Aber so gnau könn Sie des ja net wissn.« »O doch«, sagte ich, »Augsburg, das ist Bayerisch-Schwaben, da haben wir lange genug gelebt.« Das war unvorsichtig von mir, denn nun hatten wir die beiden erst recht am Hacken.
Da wir alle mit der Straßenbahn fahren wollten, hatten wir den gleichen Weg und konnten ihnen nicht entwischen. Also wanderten wir gemeinsam zur Straßenbahnhaltestelle. Die Frau redete jetzt wie ein Wasserfall. So gesprächig hätten wir die Augsburger gern mal in Augsburg erlebt. Da vereisten diese Lokalpatrioten regelmäßig, wenn wir nur das erste hochdeutsche Wort gesprochen hatten. Wir waren Fremde, und das ließen sie uns fühlen. Aber wenn sie selbst in der Fremde sind, werden diese Leute zu beredten Charmebolzen. Es sah so aus, als wollten sie uns auch in der S-Bahn begleiten und womöglich dann auch noch auf ein Glas Wein …
Barbara und ich wechselten einen Blick, dann sagte sie: »Wir müssen noch zu Klatsch.« Als wir ausstiegen, verabschiedeten wir uns von den beiden Augsburgern. »Schöne Zeit in Berlin«, sagte ich, »wir gehen in die andere Richtung.« Dann stellten wir uns bei Eis-Klatsch an und kauften jeder zwei Bällchen. »Laß uns mal die Straße hier langgehen«, meinte Barbara, »damit wir die beiden nicht in der S-Bahn treffen und wieder auf dem Hals haben.«
So schlenderten wir eisleckend die Bölschestraße hoch und Überraschung! So etwas hast du noch nicht gesehen, ein Ku’damm des Ostens: Kinos, Boutiquen, Restaurants, Eiscafés und ein Lauf wie auf den Rambles. Die Leute saßen in den Kneipen und Restaurants, als ob es was umsonst gäbe. Das war Second life in Reality. Die Häuser aus zwei Jahrhunderten pico bello renoviert, die Villen in den Nebenstraßen herausgeputzt, sogar der sonst überall muffige Ramschladen von Wohlthat sieht wie ein Edelbuchhandlung aus und firmiert mit einem edlen Transparent. Das Tollste aber ist das Polizeipräsidium im neugotischen Stil – ebenfalls prächtig renoviert –, da könnte wie aus einer Filmkulisse sofort der Hauptmann von Köpenick heraustreten.
Als wir auf der anderen Straßenseite der Bölschestraße zurückliefen, sahen wir in einer Nebenstraße ein Schild: »Antiquariat und Museum Neuer Friedrichshagener Dichterkreis.« Da machte es »klick«, man sieht eben nur, was man weiß. »Mensch«, sagte ich zu Barbara, »Johannes Bobrowski hat ja hier gewohnt!« Und er hatte Anfang der 60er mit seinen Saufkumpanen Manfred Bieler, Günter Bruno Fuchs und Robert Wolfgang Schnell diesen Verein gegründet, in dem alle Mitglieder Präsidenten waren. In der Satzung legten sie außerdem fest: »Der Friedrichshagener Dichterkreis steht auf dem Boden Friedrichshagens und sieht seine Aufgaben in der Beförderung der schönen Literatur und des schönen Trinkens.« Ein weiterer Paragraph lautete: »Das Zentralorgan des Dichterkreises ist die Leber. Besondere Mitteilungen erfolgen durch das Herz.«
Diesen erbaulichen Spaziergang hätten wir ohne die beiden aufdringlichen Augsburger nicht unternommen. Im Nachhinein sei ihnen Dank dafür.
(BK / JS)