Der Bär flattert in südlicher Richtung.
Tagebuch
Mittwoch, 16. August: Wolfgang Müller hatte uns zum Essen in seine Kreuzberger Wohnung eingeladen, mit dabei waren Matthias Mergl, Dirk Dschuen und Martin Schmitz. Es gab eine isländische Fischsuppe mit Heilbutt und Hummer, Hühnerfrikassee und zum Dessert die raffinierte Variante einer Bayerischen Creme, die der taz-Patissier Dirk kreiert hatte. Muntere Reden begleiteten das Mahl. Um halb zwei Uhr machten wir uns mit Martin auf den Heimweg und nahmen gemeinsam den Metrobus von der Oranienstraße. Gemütlich rumpelten wir durch die halbe Stadt zum Kurfürstendamm.
Es war eine laue Sommernacht, der Ku’damm dunkel und wie ausgestorben, kaum Autos auf der Straße, geschweige denn Taxis. Verloren standen wir vor dem Café Kranzler und hatten keine Lust zwanzig Minuten auf den Bus zum Bundesplatz zu warten. Nach fünf Minuten kam doch eins. Der Fahrer trug ein schwarzes Polohemd, war untersetzt, Glatze, randlose Brille, Schnurrbart. Ich fragte ihn nach dem Kurztarif, und er meinte: »Wexstraße? Moment mal, da muß ick nachsehen, ob wir mit dem Kurztarif hinkommen.« Er gab mit dem Stift das Ziel in den Navi ein, im Display erschien ›3,2 km‹. »Da kommen Sie mit dem Normaltarif besser weg, »meinte er, »mit Kurztarif fahren Sie zwei Kilometer für drei Euro, aber dann fängt wieder der Normaltarif mit Anfahrt an. Das kostet insgesamt mehr.« Also fuhren wir zum Normaltarif die Spichernstraße hoch. Als wir auf der Bundesallee waren, unterbrach Barbara das Schweigen: »Wir sind mit dem Metrobus von Kreuzberg zum Ku’damm gefahren. Also das fällt richtig auf, in Charlottenburg ist nachts ja überhaupt nichts mehr los.« Und ich schob nach: »Da tobte früher das Leben.« »Hörn Se bloß uff«, echauffierte sich der Fahrer, »det jeht schon lange so! Keene Clubs, keene Diskos, keene Kneipen, hier is nischt mehr los! Hier jibtet nur noch Hotels, Kaufhäuser und Klamottenläden. Am Tag, da is der Ku’damm ne Touristenpiste, da fährt keener Taxi. Und um zehne liejen die Alten in den Hotelbetten vor der Jlotze. Die Jungen sind alle in Mitte im Nachtleben. Nee, der alte Westen is lange passee.«
Unter solchen Reden langten wir in der Wexstraße an, 7,30 Euro. Korrekt, ich gab dem Mann acht Euro: »Stimmt so.« »Vielen Dank, mein Herr«, sagte er, dann drehte er sich zu Barbara um: »Darf ick Sie mal wat Privates fragen, meine Dame? Seh ick aus wie’n Neonazi?« »Wie kommen Sie denn auf so eine Idee?«, fragte Barbara verdutzt. »Na, denn will ick Ihnen mal ne Jeschichte erzählen: Ick komme jrade vom Rosenthaler Platz, hab da inne Reihe jestanden und als ick mit der Fuhre dran war, da macht son Pärchen die Türe uff. Er blickt mir an, sacht: »Nee, komm, mit dem fahren wir nich!« Na, ick hab nu ma ne Jlatze von Natur aus. Deswejen bin ick doch noch lange keener von die Neonazis oder wat?!« »Ich finde, sie sehen seriös aus«, beruhigte ihn Barbara. Und ich setzte noch eins drauf: Wenn ich bei einer Casting-Agentur beschäftigt wäre, würde ich sie sofort als gemütlichen Berliner Droschkenkutscher besetzen mit dem Kaiser-Wilhelm-Bart!« »Na, da bin ick ja beruhigt«, sagte unser Chaffeur, »det war ja for mir een rejelrechter Schock, als die nich mit mir fahren wollten. Und wie Sie richtig sagen, ick hab doch ooch den Bart. Nazis ham doch nich solche Bärte!« »Das waren Leute aus der Provinz«, meinte Barbara, »die haben mal im Fernsehen was über rechte Glatzen im Osten gesehen. Und jetzt bilden sie sich ein, jeder Glatzkopf in Berlin ist ein Nazi. Machen Sie sich nicht daraus, wir können Sie jederzeit weiterempfehlen.«
(BK / JS)